Zehnte Rede

Vor Assapuram

II

[311] Das hab' ich gehört. Zu einer Zeit weilte der Erhabene in Bengalen, bei einer Stadt der Bengalier namens Assapuram. Dort nun wandte sich der Erhabene an die Mönche: »Ihr Mönche!« – »Erlauchter!« antworteten da jene Mönche dem Erhabenen aufmerksam. Der Erhabene sprach also:

»›Asketen, Asketen sind's‹: so denken, ihr Mönche, von euch die Leute. Ihr aber, wenn ihr gefragt werdet: ›Was seid ihr?‹, bekennet: ›Wir sind Asketen.‹ [311] Die ihr also bekannt seid, ihr Mönche, die ihr euch also bekennet, ihr habt auch die Pflichten zu üben: ›Den geraden Weg des Asketentums, den werden wir wandeln. Und so soll dieser Name, den man uns gibt, wahr und unser Bekenntnis wirklich sein. Und für das Almosen von Kleidung, Speise, Obdach und Arzenei, dafür sollen die Geber bei uns hohen Lohn haben, hohe Förderung. Unsere Pilgerschaft aber soll nicht unfruchtbar bleiben, sondern Zweck und Ziel erwirken.‹

Wie aber, ihr Mönche, wandelt der Mönch den geraden Weg des Asketentums nicht? Ein Mönch, der da gierig die Gier nicht verleugnet hat, gehässig den Haß nicht verleugnet hat, zornig den Zorn nicht verleugnet hat, feindselig die Feindschaft nicht verleugnet hat, heuchlerisch die Heuchelei nicht verleugnet hat, neidisch den Neid nicht verleugnet hat, eifernd die Eifersucht nicht verleugnet hat, selbstsüchtig die Selbstsucht nicht verleugnet hat, listig die List nicht verleugnet hat, gleisnerisch die Gleisnerei nicht verleugnet hat, boshaft die Bosheit nicht verleugnet hat, falsch die Falschheit nicht verleugnet hat: der wandelt, sage ich, ihr Mönche, weil er diese Flecken, Schäden und Schwären des Asketentums, diese abwärts, zum Verderben führenden Eigenschaften nicht verleugnet hat, den geraden Weg des Asketentums nicht. Wie eine Mordwaffe, ihr Mönche, zur Schlacht geeignet, zweischneidig, blinkend geschliffen, und mit einer Kutte umhangen, umhüllt: so erscheint mir, ihr Mönche, eines solchen Mönches Pilgerschaft.

Nicht spreche ich, ihr Mönche, einem Kuttenträger, weil er die Kutte trägt, das Asketentum zu. Nicht spreche ich, ihr Mönche, einem Unbekleideten, weil er unbekleidet ist, das Asketentum zu. Nicht spreche ich, ihr Mönche, einem Schmutzbeschmierten, weil er schmutzbeschmiert ist, das Asketentum zu. Nicht spreche ich, ihr Mönche, einem Wasserbesprenger, weil er sich mit Wasser besprengt, das Asketentum zu. Nicht spreche ich, ihr Mönche, einem Waldeinsiedler, weil er im Walde wohnt, das Asketentum zu. Nicht spreche ich, ihr Mönche, einem Feldeinsiedler, weil er auf dem Felde wohnt, das Asketentum zu. Nicht spreche ich, ihr Mönche, einem Stetigsteher, weil er sich nicht setzt, das Asketentum zu. Nicht spreche ich, ihr Mönche, einem Fastenpfleger, weil er Fasten pflegt, das Asketentum zu. Nicht spreche ich, ihr Mönche, einem Spruchgewaltigen, weil er Sprüche in seiner Gewalt hat, das Asketentum zu. Nicht spreche ich, ihr Mönche, einem Flechtenträger, weil er Flechten trägt, das Asketentum zu.

Wenn durch das Tragen der Kutte, ihr Mönche, des gierigen Kuttenträgers Gier verschwinden könnte, des gehässigen Haß verschwinden könnte, des zornigen Zorn verschwinden könnte, des feindseligen Feindschaft verschwinden könnte, des heuchlerischen Heuchelei verschwinden könnte, des neidischen Neid verschwinden könnte, des eifernden Eifersucht verschwinden [312] könnte, des selbstsüchtigen Selbstsucht verschwinden könnte, des listigen List verschwinden könnte, des gleisnerischen Gleisnerei verschwinden könnte, des boshaften Bosheit verschwinden könnte, des falschen Falschheit verschwinden könnte, würden Blutsverwandte und Freunde einem Neugeborenen die Kutte bringen, nur die Kutte verleihen: ›Komm', du Glückskind, sei Kuttenträger! Als Kuttenträger wird dir, dem Gierigen, durch das Tragen der Kutte die Gier schwinden, dem Gehässigen der Haß schwinden, dem Zornigen der Zorn schwinden, dem Feindseligen die Feindschaft schwinden, dem Heuchlerischen die Heuchelei schwinden, dem Neidischen der Neid schwinden, dem Eifernden die Eifersucht schwinden, dem Selbstsüchtigen die Selbstsucht schwinden, dem Listigen die List schwinden, dem Gleisnerischen die Gleisnerei schwinden, dem Boshaften die Bosheit schwinden, dem Falschen die Falschheit schwinden!‹ Da ich nun aber, ihr Mönche, auch manchen Träger der Kutte hier sehe, der gierig, gehässig, zornig, feindselig, heuchlerisch, neidisch, eifersüchtig, selbstsüchtig, listig, gleisnerisch, boshaft, falsch ist, so spreche ich keinem Träger der Kutte, weil er die Kutte trägt, das Asketentum zu.

Wenn durch Unbekleidetsein, ihr Mönche, durch Schmutzbeschmierung, durch Wasserbesprengen, durch Waldeinsiedlertum, durch Feldeinsiedlertum, durch Stetigstehn, durch Fastenpflege, durch Spruchgewalt, durch Flechtentragen des gierigen Unbekleideten, des gierigen Schmutzbeschmierten, des gierigen Wasserbesprengers, des gierigen Waldeinsiedlers, des gierigen Feldeinsiedlers, des gierigen Stetigstehers, des gierigen Fastenpflegers, des gierigen Spruchgewaltigen, des gierigen Flechtenträgers Gier verschwinden könnte, des gehässigen Haß, des zornigen Zorn, des feindseligen Feindschaft, des heuchlerischen Heuchelei, des neidischen Neid, des eifernden Eifersucht, des selbstsüchtigen Selbstsucht, des listigen List, des gleisnerischen Gleisnerei, des boshaften Bosheit, des falschen Falschheit verschwinden könnte, würden Blutsverwandte und Freunde dem Neugeborenen Unbekleidetsein vorschreiben, Schmutzbeschmierung, Wasserbesprengung, Waldeinsiedlertum, Feldeinsiedlertum, Stetigstehn, Fastenpflege, Spruchgewalt, Flechtentragen, würden ihn damit belehnen: ›Komm', du Glückskind, sei unbekleidet, sei schmutzbeschmiert, sei wasserbesprengt, werde Waldeinsiedler, werde Feldeinsiedler, werde ein Stetigsteher, werde ein Fastenpfleger, werde Spruchgewaltiger, werde Flechtenträger! Also wird dir, dem Gierigen, die Gier schwinden, dem Gehässigen der Haß, dem Zornigen der Zorn, dem Feindseligen die Feindschaft, dem Heuchlerischen die Heuchelei, dem Neidischen der Neid, dem Eifernden die Eifersucht, dem Selbstsüchtigen die Selbstsucht, dem Listigen die List, dem Gleisnerischen die Gleisnerei, dem Boshaften die Bosheit, dem Falschen die Falschheit schwinden!‹ Da ich nun [313] aber, ihr Mönche, auch manchen Unbekleideten, Schmutzbeschmierten, Wasserbesprenger, Waldeinsiedler, Feldeinsiedler, Stetigsteher, Fastenpfleger, Spruchgewaltigen, Flechtenträger hier sehe, der gierig, gehässig, zornig, feindselig, heuchlerisch, neidisch, eifersüchtig, selbstsüchtig, listig, gleisnerisch, boshaft, falsch ist, so spreche ich keinem solchen aus solchem Grunde das Asketentum zu.

Wie aber, ihr Mönche, wandelt der Mönch den geraden Weg des Asketentums? Ein Mönch, der da gierig die Gier verleugnet hat, gehässig den Haß verleugnet hat, zornig den Zorn verleugnet hat, feindselig die Feindschaft verleugnet hat, heuchlerisch die Heuchelei verleugnet hat, neidisch den Neid verleugnet hat, eifernd die Eifersucht verleugnet hat, selbstsüchtig die Selbstsucht verleugnet hat, listig die List verleugnet hat, gleisnerisch die Gleisnerei verleugnet hat, boshaft die Bosheit verleugnet hat, falsch die Falschheit verleugnet hat: der wandelt, sage ich, ihr Mönche, weil er diese Flecken, Schäden und Schwären des Asketentums, diese abwärts, zum Verderben führenden Eigenschaften verleugnet hat, den geraden Weg des Asketentums. Er merkt, daß er von all diesen bösen, schlechten Dingen geläutert ist, daß er befreit ist. Dieses Merken durchwonnigt ihn. Der Durchwonnigte wird beseligt. Des Beseligten Körper wird still. Der Körpergestillte fühlt Heiterkeit. Des Heiteren Herz wird einig.

Liebevollen Gemütes weilend strahlt er nach einer Richtung, dann nach einer zweiten, dann nach der dritten, dann nach der vierten, ebenso nach oben und nach unten: überall in allem sich wiedererkennend durchstrahlt er die ganze Welt mit liebevollem Gemüte, mit weitem, tiefem, unbeschränktem, von Grimm und Groll geklärtem.

Erbarmenden Gemütes weilend strahlt er nach einer Richtung, dann nach einer zweiten, dann nach der dritten, dann nach der vierten, ebenso nach oben und nach unten: überall in allem sich wiedererkennend durchstrahlt er die ganze Welt mit erbarmendem Gemüte, mit weitem, tiefem, unbeschränktem, von Grimm und Groll geklärtem.

Freudevollen Gemütes weilend strahlt er nach einer Richtung, dann nach einer zweiten, dann nach der dritten, dann nach der vierten, ebenso nach oben und nach unten: überall in allem sich wiedererkennend durchstrahlt er die ganze Welt mit freudevollem Gemüte, mit weitem, tiefem, unbeschränktem, von Grimm und Groll geklärtem.

Unbewegten Gemütes weilend strahlt er nach einer Richtung, dann nach einer zweiten, dann nach der dritten, dann nach der vierten, ebenso nach oben und nach unten: überall in allem sich wiedererkennend durchstrahlt er die ganze Welt mit unbewegtem Gemüte, mit weitem, tiefem, unbeschränktem, von Grimm und Groll geklärtem.

[314] Gleichwie etwa, ihr Mönche, ein Lotusweiher mit klarem, süßem, kühlem Wasser, hell spiegelnd, leicht zugänglich, entzückend gelegen: wenn da von Osten ein Mann herankäme, vom Sonnenbrande gebraten, vom Sonnenbrande verzehrt, erschöpft, zitternd, dürstend; der gelangte nun zu dem Lotusweiher und löschte den Durst, löschte die quälende Glut; wenn da von Westen oder von Norden oder von Süden ein Mann herankäme, vom Sonnenbrande gebraten, vom Sonnenbrande verzehrt, erschöpft, zitternd, dürstend; der gelangte nun zu dem Lotusweiher und löschte den Durst, löschte die quälende Glut: ebenso nun auch, ihr Mönche, erlangt, wer da aus einem Kriegergeschlechte vom Hause fort in die Hauslosigkeit gezogen und zu des Vollendeten dargelegter Lehre und Ordnung gekommen ist und also die Liebe, das Erbarmen, die Freude, den Gleichmut gezeugt hat, die eigene Ebbung. Weil er die eigene Ebbung erlangt hat, sage ich, wandelt er den geraden Weg des Asketentums. Wer da aus einem Priestergeschlechte oder Bürgergeschlechte oder Dienergeschlechte oder aus was immer für einem Geschlechte vom Hause fort in die Hauslosigkeit gezogen und zu des Vollendeten dargelegter Lehre und Ordnung gekommen ist und also die Liebe, das Erbarmen, die Freude, den Gleichmut gezeugt hat, erlangt die eigene Ebbung. Weil er die eigene Ebbung erlangt hat, sage ich, wandelt er den geraden Weg des Asketentums.

Wenn da einer aus einem Kriegergeschlechte vom Hause fort in die Hauslosigkeit gezogen ist und durch die Wahnversiegung die wahnlose Gemüterlösung, Weisheiterlösung noch bei Lebzeiten sich offenbar gemacht, verwirklicht und errungen hat, so wird er durch die Wahnversiegung Asket. Wenn da einer aus einem Priestergeschlechte oder Bürgergeschlechte oder Dienergeschlechte oder aus was immer für einem Geschlechte vom Hause fort in die Hauslosigkeit gezogen ist und durch die Wahnversiegung die wahnlose Gemüterlösung, Weisheiterlösung noch bei Lebzeiten sich offenbar gemacht, verwirklicht und errungen hat, so wird er durch die Wahnversiegung Asket.«


Also sprach der Erhabene. Zufrieden freuten sich jene Mönche über das Wort des Erhabenen.

Quelle:
Die Reden Gotamo Buddhos. Bd. 1, Zürich/Wien 41956, S. 311-315.
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