Zweite Rede

Vacchagotto

II

[521] Das hab' ich gehört. Zu einer Zeit weilte der Erhabene bei Sāvatthī, im Siegerwalde, im Garten Anāthapiṇḍikos.

Da nun begab sich Vacchagotto der Pilger dorthin wo der Erhabene weilte, wechselte höflichen Gruß und freundliche, denkwürdige Worte mit dem Erhabenen und setzte sich zur Seite nieder. Zur Seite sitzend sprach nun Vacchagotto der Pilger also zum Erhabenen:

»Wie doch wohl, o Gotamo: ›Ewig ist die Welt; dies nur ist Wahrheit, Unsinn anderes‹: hegt Herr Gotamo solche Ansicht?«

»Nicht heg' ich, Vaccho, solche Ansicht: ›Ewig ist die Welt; dies nur ist Wahrheit, Unsinn anderes.‹«

»Wie dann, o Gotamo: ›Zeitlich ist die Welt; dies nur ist Wahrheit, Unsinn anderes‹: hegt Herr Gotamo solche Ansicht?«

»Nicht heg' ich, Vaccho, solche Ansicht: ›Zeitlich ist die Welt; dies nur ist Wahrheit, Unsinn anderes.‹«

»Und wie nun, o Gotamo: ›Endlich ist die Welt; dies nur ist Wahrheit, Unsinn anderes‹: hegt Herr Gotamo solche Ansicht?«

»Nicht heg' ich, Vaccho, solche Ansicht: ›Endlich ist die Welt; dies nur ist Wahrheit, Unsinn anderes.‹«

»Wie dann, o Gotamo: ›Unendlich ist die Welt; dies nur ist Wahrheit, Unsinn anderes‹: hegt Herr Gotamo solche Ansicht?«

»Nicht heg' ich, Vaccho, solche Ansicht: ›Unendlich ist die Welt; dies nur ist Wahrheit, Unsinn anderes.‹«

»Und wie nun, o Gotamo: ›Leben und Leib ist ein und dasselbe; dies nur ist Wahrheit, Unsinn anderes‹: hegt Herr Gotamo solche Ansicht?«

»Nicht heg' ich, Vaccho, solche Ansicht: ›Leben und Leib ist ein und dasselbe; dies nur ist Wahrheit, Unsinn anderes.‹«

»Wie dann, o Gotamo: ›Anders ist das Leben und anders der Leib; dies nur ist Wahrheit, Unsinn anderes‹: hegt Herr Gotamo solche Ansicht?«

»Nicht heg' ich, Vaccho, solche Ansicht: ›Anders ist das Leben und anders der Leib; dies nur ist Wahrheit, Unsinn anderes.‹«

»Und wie nun, o Gotamo: ›Der Vollendete besteht nach dem Tode; [522] dies nur ist Wahrheit, Unsinn anderes‹: hegt Herr Gotamo solche Ansicht?«

»Nicht heg' ich, Vaccho, solche Ansicht: ›Der Vollendete besteht nach dem Tode; dies nur ist Wahrheit, Unsinn anderes.‹«

»Wie dann, o Gotamo: ›Der Vollendete besteht nicht nach dem Tode; dies nur ist Wahrheit, Unsinn anderes‹: hegt Herr Gotamo solche Ansicht?«

»Nicht heg' ich, Vaccho, solche Ansicht: ›Der Vollendete besteht nicht nach dem Tode; dies nur ist Wahrheit, Unsinn anderes.‹«

»Und wie nun, o Gotamo: ›Der Vollendete besteht und besteht nicht nach dem Tode; dies nur ist Wahrheit, Unsinn anderes‹: hegt Herr Gotamo solche Ansicht?«

»Nicht heg' ich, Vaccho, solche Ansicht: ›Der Vollendete besteht und besteht nicht nach dem Tode; dies nur ist Wahrheit, Unsinn anderes.‹«

»Und wie nun, o Gotamo: ›Weder besteht noch besteht nicht der Vollendete nach dem Tode; dies nur ist Wahrheit, Unsinn anderes‹: hegt Herr Gotamo solche Ansicht?«

»Nicht heg' ich, Vaccho, solche Ansicht: ›Weder besteht noch besteht nicht der Vollendete nach dem Tode; dies nur ist Wahrheit, Unsinn anderes.‹«

»Wie denn nun, o Gotamo: zu keiner dieser Ansichten bekennst du dich! Was findet wohl Herr Gotamo für arg daran, um sich also dieser Anschauungen gänzlich zu begeben?«

»›Ewig ist die Welt‹: das ist, Vaccho, eine Gasse der Ansichten, Höhle der Ansichten, Schlucht der Ansichten, ein Dorn der Ansichten, Hag der Ansichten, Garn der Ansichten, voll von Leid und Qual, Verzweiflung und Jammer, führt nicht zur Abkehr, nicht zur Wendung, nicht zur Auflösung, nicht zur Aufhebung, nicht zur Durchschauung, nicht zur Erwachung, nicht zur Erlöschung. ›Zeitlich ist die Welt‹, ›Endlich ist die Welt‹, ›Unendlich ist die Welt‹, ›Leben und Leib ist ein und dasselbe‹, ›Anders ist das Leben und anders der Leib‹, ›Der Vollendete besteht nach dem Tode‹, ›Der Vollendete besteht nicht nach dem Tode‹, ›Der Vollendete besteht und besteht nicht nach dem Tode‹, ›Weder besteht noch besteht nicht der Vollendete nach dem Tode‹: das ist, Vaccho, eine Gasse der Ansichten, Höhle der Ansichten, Schlucht der Ansichten, ein Dorn der Ansichten, Hag der Ansichten, Garn der Ansichten, voll von Leid und Qual, Verzweiflung und Jammer, führt nicht zur Abkehr, nicht zur Wendung, nicht zur Auflösung, nicht zur Aufhebung, nicht zur Durchschauung, nicht zur Erwachung, nicht zur Erlöschung. Das find' ich, Vaccho, für arg daran, um mich also dieser Anschauungen gänzlich zu begeben.«

»Bekennt nun aber Herr Gotamo irgendeine Ansicht?«

»›Eine Ansicht‹, Vaccho, die kommt dem Vollendeten nicht zu. Denn der [523] Vollendete, Vaccho, hat es gesehn: ›So ist die Form, so entsteht sie, so löst sie sich auf; so ist das Gefühl, so entsteht es, so löst es sich auf; so ist die Wahrnehmung, so entsteht sie, so löst sie sich auf; so sind die Unterscheidungen, so entstehn sie, so lösen sie sich auf; so ist das Bewußtsein, so entsteht es, so löst es sich auf.‹ Darum, sag' ich, ist der Vollendete durch aller Meinungen und aller Vermutungen, durch aller Ichheit und Eigenheit und Dünkelsucht Versiegung, Abweisung, Aufhebung, Ausrodung, Entäußerung ohne Hangen erlöst108

»Und ein also gemüterlöster Mönch, o Gotamo, wo ersteht der auf?«

»›Auferstehn‹, Vaccho, das trifft nicht zu.«

»Dann also, o Gotamo, ersteht er nicht auf?«

»›Nichtauferstehn‹, Vaccho, das trifft nicht zu.«

»Dann also, o Gotamo, ersteht er auf und nicht aufersteht er?«

»›Auferstehn und Nichtauferstehn‹, Vaccho, das trifft nicht zu.«

»Dann also, o Gotamo, ersteht er weder auf, noch ersteht er nicht auf?«

»›Auferstehn so wenig wie Nichtauferstehn‹, Vaccho, das trifft nicht zu.«

»So gibst du mir nun, o Gotamo, auf meine Fragen immer die Antwort: ›Das trifft nicht zu.‹ Jetzt bin ich, o Gotamo, in Unwissenheit geraten, bin jetzt in Verwirrung geraten, und was ich da bei dem früheren Gespräche mit Herrn Gotamo an Vertrauen gewonnen hatte, das ist mir nun wieder verloren gegangen109

»Genug denn, Vaccho, deiner Unwissenheit, genug der Verwirrung! Gar tief ist, Vaccho, diese Lehre, schwer zu entdecken, schwer zu gewahren, still, erlesen, unbekrittelbar, innig, Weisen erfindlich: die wirst du schwer verstehn ohne Deutung, ohne Geduld, ohne Hingabe, ohne Anstrengung, ohne Lenkung. So will ich dir, Vaccho, eben darüber Fragen stellen: wie es dir gutdünkt magst du sie beantworten. Was meinst du wohl, Vaccho: wenn da vor dir ein Feuer brennte, wüßtest du: ›Hier brennt ein Feuer vor mir‹?«

»Wenn da vor mir, o Gotamo, ein Feuer brennte, wüßt' ich: ›Hier brennt ein Feuer vor mir.‹«

»Wenn dich nun, Vaccho, jemand fragte: ›Dieses Feuer, das da vor dir brennt, wodurch brennt es?‹ Also gefragt, Vaccho, würdest du was antworten?«

»Wenn mich, o Gotamo, jemand fragte: ›Dieses Feuer, das da vor dir brennt, wodurch brennt es?‹, würd' ich auf solche Frage also antworten: ›Dieses Feuer, das da vor mir brennt, das brennt indem es durch Heu und Holz unterhalten wird.‹«

»Wenn da, Vaccho, dieses Feuer vor dir ausginge, wüßtest du: ›Dieses Feuer vor mir ist ausgegangen‹?«

»Wenn da, o Gotamo, dieses Feuer vor mir ausginge, wüßt' ich: ›Dieses Feuer vor mir ist ausgegangen.‹«

[524] »Wenn dich nun, Vaccho, jemand fragte: ›Dieses Feuer, das da vor dir ausgegangen ist, wo ist es hingegangen, nach welcher Richtung, nach Osten oder nach Westen, nach Norden oder nach Süden?‹ Also gefragt, Vaccho, würdest du was antworten?«

»Das trifft nicht zu, o Gotamo, weil ja das Feuer, o Gotamo, das durch Heu und Holz unterhalten brannte, dieses verzehrt hat und, nicht weiter genährt, eben ohne Nahrung ausgegangen heißt.«

»Ebenso nun auch ist, Vaccho, jede Form, durch welche man den Vollendeten bezeichnend bezeichnen wollte, vom Vollendeten überstanden, an der Wurzel abgeschnitten, einem Palmstumpf gleichgemacht worden, so daß sie nicht mehr keimen, nicht mehr sich entwickeln kann: von der Art der Form abgelöst, Vaccho, ist der Vollendete, tief, unermeßlich, schwer zu erforschen, gleichwie etwa der Ozean; ›Auferstehn‹, das trifft nicht zu, ›Nichtauferstehn‹, das trifft nicht zu, ›Auferstehn und Nichtauferstehn‹, das trifft nicht zu, ›Auferstehn so wenig wie Nichtauferstehn‹, das trifft nicht zu. Jedes Gefühl, durch welches man den Vollendeten bezeichnend bezeichnen wollte, ist vom Vollendeten überstanden, an der Wurzel abgeschnitten, einem Palmstumpf gleichgemacht worden, so daß es nicht mehr keimen, nicht mehr sich entwickeln kann: von der Art des Gefühls abgelöst, Vaccho, ist der Vollendete, tief, unermeßlich, schwer zu erforschen, gleichwie etwa der Ozean; ›Auferstehn‹, das trifft nicht zu, ›Nichtauferstehn‹, das trifft nicht zu, ›Auferstehn und Nichtauferstehn‹, das trifft nicht zu, ›Auferstehn so wenig wie Nichtauferstehn‹, das trifft nicht zu. Jede Wahrnehmung, durch welche man den Vollendeten bezeichnend bezeichnen wollte, ist vom Vollendeten überstanden, an der Wurzel abgeschnitten, einem Palmstumpf gleichgemacht worden, so daß sie nicht mehr keimen, nicht mehr sich entwickeln kann: von der Art der Wahrnehmung abgelöst, Vaccho, ist der Vollendete, tief, unermeßlich, schwer zu erforschen, gleichwie etwa der Ozean; ›Auferstehn‹, das trifft nicht zu, ›Nichtauferstehn‹, das trifft nicht zu, ›Auferstehn und Nichtauferstehn‹, das trifft nicht zu. ›Auferstehn so wenig wie Nichtauferstehn‹, das trifft nicht zu. Jede Unterscheidung, durch welche man den Vollendeten bezeichnend bezeichnen wollte, ist vom Vollendeten überstanden, an der Wurzel abgeschnitten, einem Palmstumpf gleichgemacht worden, so daß sie nicht mehr keimen, nicht mehr sich entwickeln kann: von der Art der Unterscheidungen abgelöst, Vaccho, ist der Vollendete, tief, unermeßlich, schwer zu erforschen, gleichwie etwa der Ozean; ›Auferstehn‹, das trifft nicht zu, ›Nichtauferstehn‹, das trifft nicht zu, ›Auferstehn und Nichtauferstehn‹, das trifft nicht zu, ›Auferstehn so wenig wie Nichtauferstehn‹, das trifft nicht zu. Jedes Bewußtsein, durch welches man den Vollendeten bezeichnend bezeichnen wollte, ist vom Vollendeten überstanden, an der Wurzel abgeschnitten, [525] einem Palmstumpf gleichgemacht worden, so daß es nicht mehr keimen, nicht mehr sich entwickeln kann: von der Art des Bewußtseins abgelöst, Vaccho, ist der Vollendete, tief, unermeßlich, schwer zu erforschen, gleichwie etwa der Ozean; ›Auferstehn‹, das trifft nicht zu, ›Nichtauferstehn‹, das trifft nicht zu, ›Auferstehn und Nichtauferstehn‹, das trifft nicht zu, ›Auferstehn so wenig wie Nichtauferstehn‹, das trifft nicht zu.«


Nach dieser Rede sprach Vacchagotto der Pilger zum Erhabenen also:

»Gleichwie etwa, o Gotamo, wenn sich da in der Nähe eines Dorfes oder einer Stadt ein großer Kronbaum befände, und vergänglich wechselnd fielen Blätter und Zweiglein von ihm ab, fiele Geäst und Rinde und Grünholz ab, so daß er späterhin, frei von Blättern und Zweiglein, frei von Geäst und Rinde, frei von Grünholz, rein aus Kernholz bestände: ebenso nun auch ist hier des Herrn Gotamo Darstellung, frei von Blättern und Zweiglein, frei von Geäst und Rinde, frei von Grünholz, rein aus Kernholz bestanden. – Vortrefflich, o Gotamo, vortrefflich, o Gotamo! Gleichwie etwa, o Gotamo, als ob man Umgestürztes aufstellte, oder Verdecktes enthüllte, oder Verirrten den Weg wiese, oder ein Licht in die Finsternis hielte: ›Wer Augen hat wird die Dinge sehn‹: ebenso auch hat Herr Gotamo die Lehre gar vielfach gezeigt. Und so nehm' ich bei Herrn Gotamo Zuflucht, bei der Lehre und bei der Jüngerschaft: als Anhänger möge mich Herr Gotamo betrachten, von heute an zeitlebens getreu.«

Quelle:
Die Reden Gotamo Buddhos. Bd. 1, Zürich/Wien 41956, S. 521-526.
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