VIII. Das Unbewusste im organischen Bilden

[158] Wir haben schon in den vorigen beiden Abschnitten bisweilen nicht umhingekonnt, den Inhalt dieses Capitels zu anticipiren. Dies liegt daran, weil die nacheinander behandelten Gegenstände mit dem Bildungstrieb so innig verwachsen, ja Eines und Dasselbe sind, dass bei dem Versuch eines scheinbaren Auseinanderhaltens ein grosser Theil der schlagendsten Erscheinungen ganz unberücksichtigt hätte bleiben müssen. Wir haben gesehen, dass der allgemeinste begriffliche Ausdruck, unter den man alle diese Gebiete zusammen fassen kann, der des Instinctes ist; aber eben so gut kann man fast alle als Reflexwirkungen auffassen, denn ein äusseres Motiv zum Handeln muss immer vorhanden sein, und die Handlung erfolgt auf dieses Motiv mit Nothwendigkeit, also reflectorisch, wenn auch erst mittelbar durch verschiedene Reflexionen vermittelt. Eben so gut kann man aber auch alle diese Erscheinungen als Wirkungen der Naturheilkraft ansehen, denn nur wo das äussere Motiv ein fremder, widerstrebender Stoff ist, kann es als Motiv wirken, sonst lässt es indifferent; die Bewältigung des Materials ist aber ein Act der Naturheilkraft. Das Eigenthümliche des Bildungstriebes wäre zu setzen in die Verwirklichung der typischen Idee der Gattung auf der ihr in jedem Lebensalter zukommenden Stufe, während die Naturheilkraft in der Selbsterhaltung der verwirklichten Idee bestände. Man sieht aber, dass einerseits die Abwehr einer Störung nur durch Neubildung möglich ist, d.h. dass die Selbsterhaltung der verwirklichten Idee nicht möglich ist, als durch gleichzeitige Entwickelung, also Verwirklichung einer neuen Stufe der Idee, dass andererseits die Verwirklichung einer neuen Stufe der Idee nur in einer Reihe von[158] Kämpfen und Selbsterhaltungsacten besteht, da alle Stellen des Organismus in jedem Moment durch Störung bedroht sind, und dass drittens die bildenden und bauenden Instincte eben so gut wie das leiden innerhalb des Körpers nach fixen Ideen arbeiten, welche unbedingt als integrirende Bestandtheile der Gattungsidee betrachtet werden müssen. Ja sogar müssen im weiteren Sinne auch alle anderen Instincte als Verwirklichungen specieller Theile der Gattungsideen aufgefasst werden, denn die Gattungsidee der Nachtigall wäre unvollständig, wollte man die bestimmte Gesangsweise nicht zu ihr hinzurechnen, ebenso wie die des Ochsen ohne das Stossen, oder des Ebers ohne das Hauen, oder der Schwalbe ohne die halbjährige Wanderung.

Es bleibt uns demnach in diesem Capitel nur übrig, erstens einige Andeutungen über die Zweckmässigkeit des organischen Bildens zu geben, und zweitens zu zeigen, wie es sich in allmählicher Stufenfolge an die bisher betrachteten Aeusserungsweisen des Unbewussten anschliesst.

Was die Zweckmässigkeit der Organisation betrifft, so könnte man einerseits darüber allein starke Bände vollschreiben, und andererseits gehört zu teleologischen Detailbetrachtungen die grösste Vorsicht, weil zum Theil gerade dadurch die Teleologie in Misscredit gerathen ist, dass dünkelvolle Kopie der Natur Zwecke untergeschoben haben, die nicht selten die Grenze des Albernen und Lächerlichen erreichten. Es kann sich also hier nur um einige flüchtige Fingerzeige handeln, welche um so mehr für unseren Zweck genügen, als zu einer weiteren Ausführung derselben heutzutage die Kenntnisse jedes Gebildeten ausreichen.

Ich gehe davon aus, dass sich als Zweck des Thierreiches uns die Steigerung des Bewusstseins darstellt; sei es nun, dass man den Zweck dieses helleren Bewusstseins in einer Steigerung des Genusses, oder der Erkenntniss, oder zuletzt eines ethischen Momentes suchen wolle, immer bleibt zunächst die Erhöhung des Bewusstseins der directe Zweck aller thierischen Organisation (vgl. Cap. C. XIV.). Warum überhaupt die Verleiblichung des Geistes die Bedingung für die Entstehung des Bewusstseins bilde, werden wir erst später sehen (Cap. C. III.), hier fragt es sich zunächst: woher die Trennung der organischen Natur in Thierreich und Pflanzenreich? Der erste Grund ist der, dass zu der Verwandlung der unorganischen Materie in organische, und der niederen organischen Verbindungsstufen in höhere, eine solche Aufbietung unbewusster Seelenkräfte gehört, dass dasselbe[159] Individuum keine Energie zur Verinnerlichung mehr übrig behielte, weil sein Vermögen in der Vegetation aufginge. Nur wo im Wesentlichen keine Steigerung der organisch-chemischen Zusammensetzung der Materie mehr erforderlich ist, sondern im Durchschnitt eine blosse Erhaltung auf der schon vorgefundenen Stufe, oder eine blosse Leitung der von selbst erfolgenden Rückbildung auf niedere Stufen verlangt wird, nur da behält das Individuum die nöthige Energie übrig, um die vorgefundene Materie zu dem künstlichen Bau der Bewusstseinsorgane zu formen, und den Process der geistigen Verinnerlichung auf die Spitze zu treiben. Darum die Trennung der Natur in das producirende Pflanzenreich und das consumirende Thierreich. Nun könnte man sich aber den Producenten und Consumenten dennoch in einem Wesen vereinigt denken, indem die eine pflanzliche Hälfte des Organismus die Stoffe bildet, von deren Verbrauch die andere thierische Hälfte ihr Bewusstsein ausbildet. Dem steht aber der zweite Grund für die Trennung von Thier- und Pflanzenreich entgegen. Es leuchtet nämlich ein, dass ein an die Scholle, auf der es wächst, gebundenes Thier (wie die Uebergangsformen niederer Wasserthiere in das Pflanzenreich zeigen) zu keiner ausgedehnteren Erfahrung und dadurch zu keiner höheren geistigen Entwickelung befähigt ist; man wird also als Bedingung einer höheren Bewusstseinsstufe Locomobilität fordern müssen. Wenn nun aber die Stoffe, aus denen sich organische (d.h. zum Träger höheren Bewusstseins allein befähigte) Materie bilden lässt, grossentheils aus dem den Erdboden durchdringenden Wasser gezogen werden müssen, und hierzu die Ausbreitung einer grossen aufsaugenden Oberfläche unter der Erde (Wurzelfasern) nothwendig ist, so ist klar, dass aus der unorganischen Natur sich direct keine Wesen von höheren Bewusstseinsstufen bilden können, da eine Locomotion bei solcher unterirdischen Verbreitung unmöglich ist. Hierdurch ist die Locomobilität der Thiere und die Stabilität der Pflanzen und somit die Sonderung beider Reiche bedingt.

Die Thiere müssen also ihre Nahrung aufsuchen, und brauchen hierzu nicht nur Bewegungsorgane, sondern auch Organe, um die zu ihrer Nahrung geeigneten und ungeeigneten Stoffe zu unterscheiden und ihre Bewegungen mit Sicherheit ausführen zu können. Dies sind die Sinneswerkzeuge. Der Organismus kann ferner nur durch Resorption Materie assimiliren, daher muss diese in flüssiger Gestalt sein. Die Pflanzen finden ihre Nahrung schon in dieser Gestalt vor, die Thiere aber meist in fester; sie müssen also Organe[160] haben, um diese feste Nahrung erst wieder in flüssige Form zu bringen; hierzu dient das Verdauungssystem mit seinen Zerkleinerungsorganen (Mund und Magen), seinen auflösenden Säften (Mundspeichel für Umwandlung der Stärke in Zucker, Magensaft für Auflösung der Eiweissstoffe, Galle für theilweise Verseifung der Fette, und Bauchspeichel für alle diese Zwecke zusammen), seinen langen Canälen, und endlich der Ausführmündung unverdauter Stoffe. Die Chylusgefässe, welche den Speisebrei aufsaugen, sind die Wurzelfasern des Thieres. Da es wegen seiner ungleich grösseren dynamischen Leistungen viel mehr Stoff verbraucht, als die Pflanze, muss auch für einen schnelleren Ersatz gesorgt sein hierzu dient das System des Blutlaufes, welches allen Theilen des Organismus fortwährend neue Stoffe in schon geeignetster Form zur Assimilation darbietet. Da der chemische Process im Thiere wesentlich ein Rückbildungs-, d.h. Oxydationsprocess ist, so muss für den nöthigen Sauerstoff Sorge getragen werden. Die Pflanzen brauchen zur Wechselwirkung mit der Atmosphäre keine besonderen Organe, weil ihre im Verhältniss zu ihrem Inhalt ungemein grosse Oberfläche die Diffusion genügend vermittelt; beim Thiere aber, dessen Oberfläche aus anderen Rücksichten viele tausendmal kleiner als die der Pflanzen sein muss, muss durch besondere Organe von grosser innerer Oberfläche (Luftröhrenverästelung) mit kräftiger Ventilation und durch schnellen Wechsel der anliegenden Luftschichten vermittelst Wimperbewegung, sowie durch eine der Diffusion günstige Beschaffenheit der trennenden Membranen die nöthige Menge Sauerstoff in den Körper eingeführt werden; dieser Oxydationsprocess bringt zugleich die thierische Wärme hervor, welche eine Bedingung für die subtileren Veränderungen der organischen Materie ist, oder wenigstens dem psychischen Einfluss einen grossen Theil des Kraftaufwandes erspart.

So haben wir aus dem Bewusstsein als Zweck des thierischen Lebens schon die Nothwendigkeit von fünf Systemen hergeleitet, von dem der Bewegung, der Sinneswerkzeuge, der Verdauung, des Blutlaufes und der Athmung. Was die äussere Gesammtform des Körpers bestimmt, ist hauptsächlich das erstere, das System der Bewegung. Sein Grundprincip ist Contraction, wie wir es schon bei der Wimperbewegung und den Bewegungen der niederen Wasserthiere sehen. Sobald jedoch die übrigen Systeme einen gewissen Grad der Ausbildung erreicht haben, verlangt die contractile Masse Stützpuncte im eigenen Körper, um mehr partielle Bewegungen und in[161] mannigfaltigerer Richtung vornehmen zu können; namentlich tritt dies Bedürfniss sofort bei den Landthieren (auch schon bei den niedrigsten) ein. Diese Stützpuncte werden durch ein Skelett gewonnen welches zunächst aus verdickten Epithelialschichten oder kalkigen Oberhautexcrementen, später bei den Wirbelthieren aus dem Knochenskelett gebildet wird. Diese festen Theile dienen zugleich den weichen zum Schutz, sonach bei den Wirbelthieren Schädel und Wirbelsäule dem Hirn und Rückenmark. Die Organe zur äusseren Locomotion bilden sich schon bei ziemlich niederen Thieren als besondere Gliedmaassen aus, die, je nach den Elementen und Localitäten, und je nach der Nahrung, auf welche das Thier angewiesen ist, die mannigfaltigsten Modificationen zeigen. – Zur Ermöglichung einer leichteren Wechselwirkung von Seele und Leib bildet sich als sechstes das Nervensystem aus, von dessen Bedeutung schon mehrfach die Rede gewesen ist, und als siebentes endlich schliesst sich im Dienste nicht des Individuums, sondern der Gattung das Fortpflanzungssystem an.

Dies wäre in grossen Zügen die teleologische Ableitung der Construction des Thierreiches aus dem Zweck des Bewusstseins, wobei das Pflanzenreich bloss, oder doch wesentlich nur als Mittel für das Thierreich erscheint, indem es ihm die Nahrungsmittel einerseits und das Brennmaterial und den Sauerstoff andererseits bereitet, denn die fleischfressenden Thiere leben ja auch vom Pflanzenreich, nur indirect. Die Zweckmässigkeit der Einrichtungen im Besonderen zu verfolgen, würde, wie gesagt, hier viel zu lange aufhalten. Ich verweise nur auf die wunderbare Construction der Sinnesorgane, wo die Zweckmässigkeit auf das Eclatanteste hervortritt. Fast noch mehr ist dies bei den Zeugungsorganen der Fall, wo es besonders Staunen erregt, dass sie bei aller Verschiedenheit doch für die beiden Geschlechter einer Gattung stets zusammenpassen, auch die übrige Körpergestalt stets eine Begattung zulässt. Die Brunst stellt sich bei den Thieren stets so ein, dass nach Verlauf der constanten Trächtigkeitsdauer die Jungen zu der Jahreszeit auskommen, wo sie die reichlichste Nahrung finden; bei vielen erwachsen zur Brunstzeit besondere Theile, um die Begattung besser zu vollziehen, welche nachher wieder verschwinden; so bei vielen Insecten Haken an den Geschlechtstheilen zum Festhalten des Weibchens, beim Frosch warzige Erhabenheiten an den Daumen der Vorderfüsse, die er in den Leib des Weibchens eindrückt, beim männlichen gemeinen Wasserkäfer Scheiben mit gestielten Saugnäpfen auf den drei ersten Handgliedern, beim Weibchen dagegen Furchung der Flügeldecken.[162]

Von besonderem Interesse sind die im 50. Bande von Virchow's Archiv mitgetheilten Untersuchungen von Dr. J. Wolf über die Construction des menschlichen Oberschenkelknochens. Dass derselbe deshalb eine Röhre bildet, weil er so bei gleicher Festigkeit leichter sein kann, war schon früher bekannt; das aber ist neu, dass die die Knochenhöhle am oberen und unteren Ende des Knochens durchsetzenden, in regelmässigen Curven (die sich rechtwinklig schneiden) angeordneten Bälkchen und Streben so eingerichtet sind, dass sie genau übereinstimmen mit denjenigen Constructionen, welche sich nach den Grundsätzen der Mechanik ergeben, wenn die Druck- und Zugkräfte nach Maassgabe der auf den menschlichen Oberschenkel wirkenden Belastung in Rechnung gestellt, und die Druck- und Zuglinien im Innern des Knochens ermittelt werden. Die Natur hat also hier, um die auf innere Verschiebung und Zersplitterung hinwirkenden »scherenden Kräfte« unschädlich zu machen, in unbewusster Weise jene künstlichen Regeln der Mechanik realisirt, wie sie erst in allerjüngster Zeit in immer noch unvollkommener Weise bei unsern modernen Eisenconstructionen (von Brücken, Krahnen u.s.w.) vom bewussten Geiste angewandt worden sind.A46


Ein häufig vorkommender Irrthum ist der, an der zweckmässigen Einrichtung der Organismen deshalb zu zweifeln, weil gewisse Anforderungen der Zweckmässigkeit, welche wir zu stellen uns herausnehmen, von ihnen nicht erfüllt werden. Dass eine vollkommene Zweckmässigkeit im Einzelnen unmöglich ist, sollte doch Jedem einleuchten, denn dann dürfte zunächst keine Krankheit oder Schwäche den Körper besiegen, er also unsterblich sein. Wenn man fordert, dass die Hirnschale des Menschen den Schlag eines faustgrossen Hagelkornes aushalten sollte, und sie für unzweckmässig erklärt, weil sie das nicht thut, so ist das offenbar thöricht, da ihre Einrichtung für solche Ausnahmefälle andere und viel grössere Inconvenienzen im Gefolge haben würde. Dieser Art sind aber die meisten Fälle, wo behauptet wird, dass Organismen unzweckmässig eingerichtet seien; es reducirt sich darauf, dass ihnen Einrichtungen fehlen, welche für gewisse Fälle zweckmässig sein würden, in den meisten anderen Fällen oder Beziehungen aber unzweckmässig.


Eine andere Art von Vorwürfen der Unzweckmässigkeit wird durch die Constanz der morphologischen Grundtypen möglich, welche ein durchgehendes Naturgesetz bildet, und die Einheit aller organischen Formen, die Einheit des ganzen Schöpfungsplanes nur in um so[163] helleres Licht setzt. Es ist die lex parsimoniae, welche sich auch im Erfinden der organischen Formen bewahrheitet, indem es der Natur leichter fällt, hier und da unschädliches Ueberflüssiges stehen zu lassen, als immer wieder Veränderungen vorzunehmen und neue Ideen durchzuführen; sie bleibt vielmehr bei der möglichsten Einheit der Idee stehen, und nimmt an dieser gerade nur so viel Aenderungen vor, als unumgänglich nothwendig sind. Von dieser Art sind die rudimentären Zitzen bei männlichen Säugethieren, die Augen des Blindmolls, die Schwanzwirbel bei schwanzlosen Thieren, die Schwimmblase bei Fischen, die immer auf dem Grunde leben, die Gliedmaassen der Fledermäuse und Cetaceen u. dgl. m.

Endlich ist zu bemerken, dass wir bei dem zweckmässigen Wirken des Bildungstriebes ebenso wie bei dem des Instinctes ein Hellsehen des Unbewussten anerkennen müssen, da alle Organe früher im Fötusleben entwickelt werden, als sie in Gebrauch treten, und oft sogar sehr bedeutend früher (z.B. Geschlechtsorgane). Das Kind hat Lungen, ehe es athmet, Augen, ehe es sieht, und kann doch auf keine Weise anders als durch Hellsehen von den zukünftigen Zuständen Kenntniss haben, während es die Organe bildet; aber ein Grund gegen die Bildungsthätigkeit der individuellen Seele kann dies nicht sein, da es um nichts wunderbarer ist, als das Hellsehen des Instinctes.

Gehen wir nunmehr dazu über, den stetigen und allmählichen Anschluss des organischen Bildens an die Leistungen des Instinctes zu betrachten. – Die Nester, den Bau und die Höhlen, welche sich die Thiere bauen und graben, betrachtet noch Jeder als Wirkungen des Instinctes. Der Pfahlwurm bohrt sich mit seiner Schale in Holz, die Bohrmuschel in weichen Felsen eine Höhle; der Sandwurm bohrt sich in den Sand und klebt diesen mittelst des an seiner Hautfläche ausgeschiedenen Saftes zu einer Röhre zusammen; einige kleine Käfer bilden sich aus Staub, Sand und Erde einen Ueberzug ihrer zarten Haut; die Mottenlarven machen sich Röhren aus Haaren oder Wolle, die sie mit sich herumtragen; die Larve der meisten Phryganeen webt mit den aus ihrem Spinnorgane hervorgegangenen Fäden Holz, Blätter, Muschelschalen u.s.w. zu einer Röhre zusammen, in der sie wohnt und die sie mit sich trägt. Die sich einspinnende Raupenlarve braucht keine fremden Stoffe mehr, die sie in ihr Gespinnst einwebt, sondern begnügt sich mit diesem allein, um die zur Verpuppung nöthige Abschliessung und Ruhe zu erhalten; hier ist also die Wohnung der Thiere ebenso wie das Netz der Spinnen und[164] der Hautüberzug, den einige Käferlarven aus ihrem eigenen Koth bilden, schon ganz vom Organismus selbst gebildet.

Nautilus und Spirula treten periodisch aus ihrem halbkugeligen Gehäuse heraus und bilden sich ein ihrem inzwischen eingetretenen Wachsthum entsprechendes grösseres, das aber mit dem alten verbunden ist, so dass mit der Zeit das Gehäuse des Thieres aus einer Reihe solcher immer grösser werdenden Kammern besteht. Auf ähnliche Weise wachsen mit den Schnecken ihre Gehäuse, während die Crustaceen jährlich ihre Schale durch willkürliche Bewegung sprengen und ausziehen, ähnlich wie die Arachniden, Schlangen und Eidechsen ihre Haut, die Vögel und Säugethiere ihre Federn und Haare, während die Haut der höheren Thiere sich fortwährend schuppt. – Was wir bis jetzt am Bau im Ganzen gesehen haben, kann man auch an einzelnen Theilen, z.B. dem Deckel, beobachten. Eine Spinne (Mygale cementaria) lebt in einer Höhle im Mergel, die sie mit einer Thür aus zusammengewobenen Erdklümpchen an einer Angel aus Spinnweben befestigt. Die Weinbergsschnecke schliesst im Winter ihre Wohnung mit einem Deckel, den sie sammt seiner Angel durch Ausschwitzungen des eigenen Körpers verfertigt, der aber doch mit ihrem Körper in keiner Verbindung steht. Bei anderen Schnecken dagegen ist der Deckel durch muskulöse Bänder mit dem Thiere permanent verbunden. – So sind wir in stetiger Folge vom Bauinstinct zum organischen Bilden gelangt, und was so in einander fliesst, sollte aus verschiedenen Grundprincipien hervorgehen? Wie die Eichhörnchen und andere Thiere der Instinct reichlicher sammeln und eintragen lehrt, wenn ein kalter Winter bevorsteht, so bekommen Hunde, Pferde und Wild in solchen Jahren einen dickeren Winterpelz; wenn man aber Pferde in heisse Klimate versetzt, so bekommen sie nach wenigen Jahren gar kein Winterhaar mehr. Dass der Kukuk seinen Eiern die Farbe der Eier des Nestes einbildet, welches er sich zum Legen ausgesucht hat, ist schon wiederholt erwähnt. Der Instinct der Spinne weist sie auf Spinnen an, die Bildungsthätigkeit giebt ihr das Organ zum Spinnen; der Instinct der Arbeitsbienen weist sie speciell auf das Einsammeln, und dem entsprechen die Transportmittel, ja sogar haben sie Bürsten an den Füssen zum Zusammenkehren des Blüthenstaubes und Gruben zum Einsammeln vor den anderen Bienen voraus. Die Insecten, welche ihrem Instinct nach ihre Eier auf frei herumkriechende Larven legen, haben sich nur einen ganz kurzen Legestachel gebildet, während andere sehr lange Stacheln haben, die ihre Eier in Larven[165] legen müssen, welche tief in altem Holze (Chelostoma maxillosa) oder in Tannzapfen versteckt sitzen. Der Ameisenbär, der seinem Instinct nach auf Termiten angewiesen ist, und bei jeder anderen Nahrung stirbt, hat sich bei seiner Entstehung darauf vorbereitet theils durch kurze Beine und starke Krallen zum Ausgraben, theils durch seine lange, schmale, zahnlose, aber mit einer fadenförmigen, klebrigen Zunge versehenen Schnauze. Die Eulen, die auf Nachtraub angewiesen sind, haben den gespenstisch leisen Flug, um die Schläfer nicht zu wecken. Die Raubthiere, die durch ihre Verdauung instinctiv auf Fleischnahrung angewiesen sind, haben sich auch mit der nöthigen Kraft, Schnelligkeit, Waffen und Scharfblick oder Geruch versehen. Wie der Instinct viele Vögel ihre Nester durch Aehnlichkeit der Farbe mit der Umgebung verstecken lehrt, so hat die Bildungsthätigkeit unzähligen Wesen durch Aehnlichkeit mit ihrem Aufenthaltsort Schutz verliehen (namentlich Schmarotzern). Sollte es wirklich ein verschiedenes Princip sein, was den Trieb zur That einflösst, und die Mittel zur Ausführung verleiht?

Es ist hier der Ort, noch einmal an die auf S. 80-82 dargestellte Erscheinung der Bläschenbildung in Arcella vulgaris hinzuweisen, welche, obwohl offenbar ein Vorgang der organischen Bildungsthätigkeit, doch als ein scheinbar willkürliches Walten des Instincts in zweckmässiger Accommodation an die wahrgenommenen äusseren Umstände erscheint.

Was die Reflexbewegungen betrifft, so sehen wir einen grossen Theil der Verdauungsvorgänge durch dieselben vermittelt. Vom Schlucken an werden die peristaltischen Bewegungen der Speiseröhre, des Magens und der Därme grossentheils durch Reflexbewegungen bewirkt, indem der an jeder Stelle wirkende Reiz der genossenen Speise zu der Weiterbeförderung durch zweckmässige Bewegungen Anlass giebt. Ebenso ist die auf den Reiz der Speisen eintretende Vermehrung der Secretionen von Mundspeichel, Magensaft, Bauchspeichel u.s.w. Reflexwirkung. Die Entleerung der angehäuften Excretionen erfolgt gleichfalls durch Reflexwirkung. Wir haben oben gesehen, dass die Reflexwirkung durchaus nichts Mechanisches ist, sondern Wirkung der unbewussten Intelligenz.

Wir kommen nun zur wichtigsten Parallele, der mit der Naturheilkraft. – Wie wir in Cap. C. IX. sehen werden, ist die Fortpflanzung nur eine modificirte Art von Bildungsthätigkeit, ein Schaffen solcher Neubildungen, welche nach Vollendung ihrer Reife den Typus des elterlichen Organismus reproduciren (gleichgültig, ob dann eine[166] räumliche Trennung beider stattfindet oder nicht). Da nun aber, wie Cap. C. VI. zeigen wird, der Begriff des organischen Individuums ein sehr relativer ist, also unter Umständen schwer bestimmbar ist, ob das Product der Neubildung den Typus des ganzen Individuums oder nur eines Theiles desselben repräsentirt, so ergiebt sich hier ein unmittelbarer Uebergang zwischen der Neubildung gewisser Organe an einem Individuum und zwischen der Selbstvermehrung eines complexen, mehrere Individuen niederer Ordnung umfassenden Organismus, der aus einfachem Keime ein vielgliedriges Individuum entfaltet.

Ein anderer Parallelismus zwischen Fortpflanzung und Naturheilkraft besteht darin, dass ungewöhnliche Fruchtbarkeit einer schutzlosen Species häufig als Mittel dient, ihren Verfolgern gegenüber ihre Existenz aufrechtzuerhalten, welche ohne dies in Frage gestellt werden würde; es handelt sich also hier gewissermaassen um eine intensivere Anspannung der Naturheilkraft der Species als eines Collectivums, welche durch überreichliche Fortpflanzung, d.h. Neubildung von Individuen, für genügenden Ersatz des ungewöhnlich starken Abgangs sorgt. Dieses Gesetz ist selbst noch in der Menschheit erkennbar, da nach entvölkernden Kriegen oder Epidemien ein Steigen des Procentsatzes der Geburten über das Mittel wahrgenommen ist. (Leider gilt nicht das Umgekehrte bei Uebervölkerung, sondern dann wirkt nur vermehrte Sterblichkeit als Regulator.)

Schon oben haben wir betrachtet, wie die Erhaltung der constanten Wärme eine der wunderbarsten Leistungen des Organismus sei, die nur durch wunderbar genaue Regelung der Athmung, der Egestion und Ingestion bewirkt werden könne. Hierbei muss aber die Zukunft mit in Anschlag gebracht werden, wenn nämlich in Zukunft eintretende Störungen durch das Eintreten ihrer Ursachen sich im Voraus berechnen lassen. Dem entsprechend sehen wir jeder Ingestion sehr bald eine entsprechend vermehrte Egestion folgen, noch ehe das Blut die neuen Stoffe aufgenommen haben kann (z.B. unmittelbar nach dem Trinken vermehrter Harnabgang oder Schweiss, vermehrte Speichel- und Gallenabsonderung beim Essen unabhängig von örtlicher Reizung der Organe). Da jeden Augenblick eine wenn auch geringe Störung der Wärmeconstanz eintritt, so muss die Heilkraft oder Bildungsthätigkeit schon mit diesem Punct allein fortwährend beschäftigt sein. Ferner gehört zur Verdauung jeder Speise eine besondere Art der mechanischen und chemischen Behandlung.[167] Wir sehen, dass von Pflanzenfressern Fleisch, von Fleischfressern Pflanzen gar nicht oder nur unvollständig verdaut werden können, dass Knochen von Raubvögeln verdaut werden, von Krähen aber nicht, dass der Instinct viele Thierarten auf eine einzige Art von Nahrungsmitteln anweist, ohne welche sie sterben, und dass umgekehrt sich bei Menschen und Thieren Idiosynkrasien der Gattung oder des Individuums finden, durch welche gewisse Stoffe unbewältigt bleiben und dem Organismus zum Nachtbeil gereichen. Hieraus geht hervor, dass die Verdauung jedes Stoffes andere Bedingungen erfordert, und dass er unverdaut bleibt oder schadet, wenn der Organismus nicht im Stande ist, diese Bedingungen herbeizuführen. Demnach setzt jeder Verdauungsact das Herbeiführen besonderer Bedingungen voraus, ohne welche er störend auf den Organismus wirkt; hier haben wir also wiederum eine fortwährende Beschäftigung der Heilkraft in Abwehr der Störungen, oder wenn man will, der Bildungsthätigkeit in der Assimilation des Stoffes.

Wir haben gesehen, dass bei jeder Verletzung die Wirkung der Heilkraft oder der Ersatz nur möglich ist durch Neubildung, durch die Entzündung, welche das Neoplasma liefert, aus dem sich dann die zu ersetzenden Theile entwickeln. Eben so sehr beruht jede Vermehrung einer Egestion bei Unterdrückung einer anderen auf einer Neubildung, nämlich des nunmehr vermehrten Egestionssecretes.

Die ganze Ernährung des Körpers, in der nach beendetem Wachsthum die Hauptaufgabe des Bildungstriebes besteht, ist ein und dasselbe mit Neubildung, und verhält sich zur Neubildung ganzer Körpertheile, wie die fortwährende Hautabschuppung des Menschen zur periodischen Häutung der Schlangen und Eidechsen, d.h. die Ernährung ist eine Summe unendlich vieler unendlich kleiner Neubildungen, die Neubildung bloss eine sich sehr schnell addirende und darum mehr in die Augen fallende Ernährung. Haben wir also die Neubildung im Ersatz bereits als ein zweckthätiges Wirken der unbewussten Seele erkannt, so muss dasselbe für die Ernährung gelten, wenn wir auch diese, wie wir nicht umhin können, als zweckmässig anerkennen müssen. Allerdings wird in dem allmählichen Verlauf der Ernährung der seelische Einfluss weniger in Anspruch genommen, als bei rapiden Neubildungen, schon weil die chemische Contactwirkung mehr behülflich ist; dass er aber keineswegs entbehrt werden kann, beweisen die durchgreifenden Ernährungsstörungen in den Theilen, deren Nervenverbindungen mit den Centris der zuführenden sympathischen Fasern durchschnitten sind (theils Abmagerung,[168] theils Entartung der Secrete, theils Blutentmischung, bei empfindlicheren Theilen, wie Augen: Entzündung und Zerstörung). Die capillaren Blutgefässe, aus denen durch Endosmose die Gebilde ihre Nährflüssigkeit beziehen, mögen sich noch so fein vertheilen, so wird doch für jedes Gefäss noch ein verhältnissmässig grosses Gebiet übrig bleiben, in dem auch die dem Gefäss fern liegendsten Theile versorgt sein wollen, auch wird häufig von demselben Gefäss Muskel, Sehnen, Knochen und Nervensubstanz gleichmässig versehen werden müssen; es muss sich also jedes Theilchen aus der Nährflüssigkeit herausnehmen, was ihm passt. Wenn wir nun aber wissen, dass nach chemischen Gesetzen sowohl die zu ernährenden Gebilde, als die Nährflüssigkeit fortwährend die Tendenz zur Zersetzung haben, der sie nachkommen, sobald durch den Tod oder auch vor dem Tode bei grosser Körperschwäche die Macht der unbewussten Seele über sie aufgehört hat, so können wir unmöglich glauben, dass ohne jeden seelischen Einfluss diese Assimilation in alle den feinen örtlichen Nüancen vor sich gehen kann, wie sie für den Bestand des Organismus nothwendig ist. Es ist diese chemische Beständigkeit der organischen Gebilde ganz analog der fortwährenden mechanischen Spannung durch den Tonus; Beides ist nur durch eine unendliche Summe kleiner Gegenimpulse gegen natürliche Zersetzung und natürliche Erschlaffung zu erklären, und diese Impulse können nur vom Willen ausgehen. So folgt aus apriorischer Erwägung, was durch die empirische Anschauung der Nervendurchschneidung bestätigt wird.

Gesetzt nun aber, diese beiden Gründe im Verein mit der Einerleiheit von Neubildung und Ernährung würden nicht zutreffend befunden, um den seelischen Einfluss bei der gewöhnlichen Ernährung zu beweisen, und man nähme an, dass die chemische Contactwirkung der vorhandenen Gebilde genügende Ursache wäre, so fragt es sich doch: woher kommt diese Beschaffenheit der Ursache? Da würde man denn sagen müssen: diese Gebilde haben jetzt diese Beschaffenheit, weil sie sie früher hatten. So würde man beim Weiterfragen auf einen Punct kommen, wo die Beschaffenheit der Gebilde eine andere geworden, und es würde zunächst diese Aenderung zu erklären sein; denn diese Aenderung ist die Ursache, dass die Gebilde von jenem Zeitpunct an zweckmässig waren und kraft ihrer eigenen Beschaffenheit sich in zweckmässigem Zustande erhalten mussten, und da für diese zweckmässige Aenderung keine materialistische Erklärung mehr existirt, so muss sie dem zweckthätigen[169] Wirken unbewussten Willens zugeschrieben werden; damit ist aber dieser auch die Ursache der zweckmässigen Erhaltung, und ist die Nothwendigkeit, einen seelischen Einfluss zu Hülfe zu nehmen, nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben. Abgesehen davon, dass wir in jedem Moment des Lebens an einem solchen Zeitpunct der Veränderung stehen, könnte man noch weiter zurückgehen, denn für die jetzige Beschaffenheit der Gebilde ist nicht bloss die Aenderung selbst, sondern auch ihre Beschaffenheit vor der Aenderung Bedingung. Verfolgen wir diese Reihe rückwärts, so kommen wir zu der ersten Entstehung des Gebildes, welche ihre Erklärung verlangt, während wir inzwischen mindestens so viel seelische Einwirkungen statuiren müssen, als im Leben zweckmässige Veränderungen mit ihm vorgegangen sind. Da nun kein Gebilde im Organismus überflüssig ist, sondern jedes einen bestimmten Zweck hat, der wieder als Mittel zur Erhaltung des Individuums oder der Gattung dient, so wird man auch in diesem ersten Entstehen ein zweckthätiges Wirken des Willens sehen. So gewiss nun das erste Entstehen und die grossen Veränderungen wichtige Hülfsmittel und Erleichterungen für das Bestehen und die Ernährung eines Gebildes sind, und dem Willen seine Arbeit erleichtern, ja für den ganzen Umfang des Organismus erst ermöglichen, so gewiss sind sie nicht die alleinigen Bedingungen der Ernährung, sondern der im Organismus allgegenwärtige unbewusste Wille nebst der unbewussten Intelligenz ist im kleinsten chemischen oder physikalischen Vorgang mitbetheiligt, schon deshalb, weil im kleinsten Vorgang der Organismus bedroht ist, und sei es nur durch die Tendenz zur chemischen Zersetzung, und weil nichts Anderes diesen unaufhörlichen materiellen Störungen das Gleichgewicht halten kann als eine psychische Einwirkung. Andererseits aber ist nur dadurch das Leben möglich, dass diese psychische Einwirkung für die gewöhnlichen Vorgänge auf ein Minimum reducirt wird, und der übrige Theil der Arbeit durch zweckmässige Mechanismen geleistet wird. Diesen zweckmässigen Mechanismen begegnen wir überall im Körper, aber so, dass der unbewusste Wille sich jeden Augenblick die Modification des Zweckes (z.B. in verschiedenen Entwickelungsstadien), sowie auch das selbstständige Eingreifen in die Räder der Maschine und unmittelbare Leistung einer Aufgabe, der der Mechanismus nicht gewachsen ist, vorbehält. Dies kann unser Staunen vor der unbewussten Intelligenz nicht vermindern, sondern nur erhöhen, denn wie viel höher steht nicht der, welcher sich die wiederkehrende Leistung einer Arbeit[170] durch Construction einer zweckmässigen Maschine erspart, als wer dieselbe stets auf's Neue mit seinen Händen zweckmässig verrichtet! Und letzten Endes bleibt doch immer noch der Seele jenes unvermeidliche Minimum unmittelbarer Leistung übrig, weil jeder Moment andere Verhältnisse und andere Störungen bringt, und kein Mechanismus anders als für Eine bestimmte Gattung von Verhältnissen passen kann. Dies also ist die Antwort auf alle Einwürfe, die im bisherigen Verlaufe dieser Untersuchung mit dem notorischen Nachweis von zweckmässigen Mechanismen etwa hätten gemacht werden können: 1) der Begriff Mechanismus erschöpft nicht die Thatsachen, sondern die Leistungen eines Mechanismus, wo er vorhanden ist, lassen stets dem seelischen Wirken einen unmittelbar zu leistenden Rest übrig; und 2) die Zweckmässigkeit des Mechanismus schliesst die Zweckmässigkeit seiner Entstehung in sich, und diese bleibt immer wieder der Seele überlassen.

Wenn wir mit der Erwägung, dass jeder organische Vorgang zwei Ursachen hat, eine psychische und eine materielle, weiter rückwärts gehen in der Kette der materiellen Ursachen, so kommen wir in aller Strenge, welchen Ausgangspunct wir auch wählen mögen, auf das eben befruchtete Ei als letzte materielle Ursache; wo die Entwickelung des Eies ganz oder theilweise im mütterlichen Organismus geschieht, sprechen freilich auch die materiellen Einwirkungen dieses mit, aber bei den ausserhalb des weiblichen Körpers befruchteten Eiern der Fische und Amphibien ist auch nicht einmal dies der Fall. Bei diesem Zurücksteigen ist aber zu bemerken, dass die psychischen Ursachen den materiellen gegenüber im Allgemeinen um so bedeutender werden, je jünger das Individuum ist (wie wir schon an der Stärke der Naturheilkraft sahen); im höheren Alter zehrt der Organismus meist von den Errungenschaften besserer Zeiten, vor der Pubertät dagegen bringt er fortwährend theils wachsende, theils neue Leistungen, und im Leben des Embryo steigert sich wieder die Wichtigkeit der psychischen Einflüsse um so mehr, in je jüngeren Perioden wir es betrachten.

Das eben befruchtete Ei ist eine Zelle (es besteht nur aus dem Dotter), deren Wand die Dotterhaut, deren Inhalt das Dotter und deren Kern das Keimbläschen darstellt. Bei den höheren Thieren ist die Keimscheibe innerhalb des Keimbläschens (das beim Menschen etwa 1/200 Linie gross ist) der Theil, aus dem allein das Embryo, freilich unter Beihülfe des Dotters, sich entwickelt. Jeder Theil des Ei's zeigt in sich eine durchaus gleichmässige Structur (theils körnig[171] mit eingelagerten Fetttröpfchen, theils membranös und schleimig), und diese überall gleichen Elemente genügen, um unter meist gleichen äusseren Umständen (Bebrütungswärme bei Vögeln, Luft und Wassertemperatur bei Fischen und Amphibien) die verschiedensten Gattungen mit ihren feinsten Unterschieden und ihrer unermesslichen Menge von Systemen, Organen und Gebilden hervorzubringen; denn das aus dem Ei hervorbrechende Junge enthält bei den höheren Thieren fast alle Gebilde und Differenzen des erwachsenen Thieres in sich. Hier offenbart sich der Einfluss des Willens in der Umgestaltung der Elemente am deutlichsten, wie man denn in Fischeiern einige Stunden nach der (künstlichen) Befruchtung die senkrecht zu einander stehenden meridianischen und die äquatoriale Einschnürung des ganzen Dotters entstehen sehen kann, mit der die Entwickelung beginnt, und der eine Menge paralleler Einschnürungen folgen.A47 Die längste Zeit des Embryonenlebens ist die Seele mit Herstellung der Mechanismen beschäftigt, welche ihr später im Leben die Arbeit der Stoffbeherrschung zum grössten Theil ersparen sollen; es ist aber kein Grund einzusehen, warum wir die hier eintretenden Neubildungen nicht eben so gut dem zweckthätigen Wirken des unbewussten Willens zuschreiben sollen, wie die späteren Neubildungen im Leben; denn die grössere Ausdehnung dieser ersten Bildungen im Verhältniss zum schon vorhandenen Körper kann doch wahrlich keine qualitative Unterscheidung begründen, und dass der Moment der Individualisation der neuen Seele der der Befruchtung ist, kann doch, falls ein solcher überhaupt angenommen werden darf, gewiss keinem Zweifel unterliegen; dass aber die Seele in jener Periode noch keine bewussten Aeusserungen zeigt, kann weder befremden, da sie sich das Organ des Bewusstseins erst bilden soll, noch kann es ihrer Concentration auf die unbewussten Leistungen etwas anderes als förderlich sein, da ja auch im späteren Leben die Macht des Unbewussten bei gänzlicher Unterdrückung des Bewusstseins sich am glänzendsten bewährt, wie bei Heilkrisen im tiefen Schlaf; und das Embryo liegt ja auch im tiefen Schlaf.

Betrachten wir aber noch einmal die Frage, ob denn ein unbewusster Wille überhaupt körperliche Wirkungen hervorbringen könne, so haben wir in früheren Capiteln das Resultat erhalten, dass jede Wirkung der Seele auf den Körper ohne Ausnahme nur durch einen unbewussten Willen möglich sei; dass solch' ein unbewusster Wille theils durch bewussten Willen hervorgerufen werden könne, theils auch durch die bewusste Vorstellung der Wirkung [172] ohne bewussten Willen, selbst gegen den bewussten Willen; warum soll er also nicht auch durch unbewusste Vorstellung der Wirkung hervorgerufen werden können, mit der hier sogar nachweislich der unbewusste Wille der Wirkung verbunden ist, weil die Wirkung Zweck ist? Dass aber endlich die Seele in der ersten Zeit des Embryolebens ohne Nerven arbeiten muss, kann gewiss nicht gegen unsere Ansicht sprechen, da wir ja nicht nur in den nervenlosen Thieren alle Seelenwirkungen ohne Nerven erfolgen sehen, sondern auch am Menschen weiter oben genug Beispiele der Art angeführt haben, ausserdem aber das Embryo in der ersten Zeit gerade diejenige halbflüssige Structur hochorganisirter Materie hat, welche Nervenwirkungen zu ersetzen geeignet ist.

Wenn wir nun erstens materialistische Erklärungsversuche als ungenügend erkennen, zweitens eine prädestinirte Zweckmässigkeit der Entwickelung in Anbetracht dessen unmöglich erscheint, dass jede Gruppirung von Verhältnissen im ganzen Leben nur Einmal vorkommt, und doch jede Gruppirung von Verhältnissen eine andere Reaction fordert, und gerade diese geforderte hervorruft, wenn drittens die einzig übrig bleibende Erklärungsweise, dass die unbewusste Seelenthätigkeit selbst sich ihren Körper zweckmässig bildet und erhält, nicht nur nichts gegen sich, sondern alle nur mögliche Analogien aus den verschiedensten Gebieten der Physiologie und des Thierlebens für sich hat, so scheint wohl die Beglaubigung der individuellen Vorsehung und Bildungskraft hiermit so wissenschaftlich sicher, als es bei Schlüssen von der Wirkung auf die Ursache nur möglich ist. (Vgl. hierzu: Ges. philos. Abhandlungen Nr. VI. »Ueber die Lebenskraft«.)A48

So schliesse ich denn diesen Abschnitt mit dem schönen Worte Schopenhauers: »So steht auch empirisch jedes Wesen als sein eigenes Werk vor uns. Aber man versteht die Sprache der Natur nicht, weil sie zu einfach ist.«[173]

A46

S. 163 Z. 19. Dass es sich hierbei nicht bloss um ererbten Typus handelt, zeigt das Verhalten gebrochen gewesener und mit veränderter Winkelstellung der Bruchstücke wieder geheilter, so wie auch rachitisch verbogener und nachträglich fest und functionsfähig gewordener Knochen. In beiden Fällen passt sich der Organismus den veränderten Verhältnissen derart an, dass die alten Bälkchen verschwinden und neue an ihre Stelle treten, welche den nunmehrigen Druck- und Zuglinien entsprechen (v. Langenbeck's Archiv für Chirurgie Bd. XIV S. 270 fg.).

A47

S. 172 Z. 14. (Vgl. Ernst Haeckel's »Anthropogenie, oder Entwickelungsgeschichte des Menschen«. Leipzig, Engelmann, 1874.)

A48

S. 173 Z. 27. (»Ges. Studien u. Aufsätze« Abschn. C. Nr. IV.) Gegenüber dem kritischen Einwand, dass in diesem Capitel die von Seiten des Darwinismus über die Entstehung der organischen Zweckmässigkeit gegebenen Aufschlüsse unberücksichtigt geblieben seien, ist Folgendes zu bemerken. Der Darwinismus bietet höchstens, selbst wenn er in allen seinen Aufstellungen Recht hätte, eine Erklärung dafür, dass das befruchtete Ei eine so und so beschaffene Constitution für seinen ontogenetischen Entwickelungsgang mitbringt; diese individuelle Entwickelung selbst aber berührt er gar nicht, sondern nimmt es als eine physiologisch gegebene Thatsache an, dass aus einem solchen Keim sich ein solcher Organismus entfaltet. Hierin liegt aber nichts als ein Mangel philosophischer Verwunderung, eine Unfähigkeit, das Problem zu erkennen. Denn alle phylogenetische Entwickelung setzt sich aus einer Reihe von ontogenetischen Entwickelungen zusammen, und darum kann die erstere, niemals die letztere erklären, sondern setzt sie vielmehr voraus, wenngleich es richtig ist, dass eine bestimmte Individualentwickelung in der Art und Weise ihres Ganges bedingt ist durch die phylogenetische Entwickelung, welche ihr voraufgegangen ist. Aber zuerst handelt es sich immer darum, zu begreifen, wie eine individuelle Entwickelung überhaupt möglich sei, und dieses Problem ist ganz unabhängig von der Erklärung der phylogenetischen Entwickelung, die ja erst aus Individualentwickelun gen sich zusammensetzt, wie das Gebäude aus Bausteinen oder die Pflanze aus Zellen. Deshalb ist auch eine selbstständige Untersuchung des Problems der individuellen organischen Entwickelung philosophisch ebenso berechtigt als gefordert, ganz angesehen davon, ob der Darwinismus Recht hat.

Allerdings muss diese Untersuchung vervollständigt werden durch die Prüfung der Lösung, welche der Darwinismus für das Problem der phylogenetischen Entwickelung bietet. Dies geschieht im Cap. C. X und noch eingehender im dritten Theile dieses Werkes in der Monographie: »Wahrheit und Irrthum im Darwinismus«. Das Resultat ist, dass alle Erklärungsprincipien Darwin's nur auf der Grundlage eines stillschweigend vorausgesetzten, aber offen perhorrescirten »organisirenden Princips« haltbar und zu irgend welcher Erklärung der Naturerscheinungen brauchbar sind. Es ist dies im Grunde weiter nichts als die durch die Kritik von rückwärts gewonnene Bestätigung des so eben a priori aufgestellten und selbstevidenten Satzes, dass alle phylogenetische Entwickelung sich nur aus einer Reihe ontogenetischer Entwickelungsprocesse zusammensetzt, und dass die ontogenetische Entwickelung als solche demnach nicht aus einer phylogenetischen Entwickelung erklärbar ist, sondern nur durch ein organisirendes Princip, welches die zweckmässige (sowohl isolirte als auch correlative) Variation und die Vererbung leitet und sichert.

* Wenn sich somit die Untersuchung doch wieder auf die Ursachen der ontogenetischen Entwickelung zurückgewiesen sieht, so fragt sich nur, ob das organisirende Princip, d.h. die Ursache der organischen Entwickelung, in den materiellen Atomen allein zu suchen ist, oder in etwas zu denselben Hinzukommenden. Denn so viel ist gewiss, dass die organische Entwickelung nicht als etwas Zufälliges, sondern vielmehr als nothwendige Wirkung der gegebenen Ursachen zu betrachten ist, und dass in den Ursachen bereits das nothwendige Entstehen dieser Wirkung implicite ideell mitgesetzt war. Die Alternative spitzt sich also genauer genommen darauf hin zu, ob in den Kräften und Gesetzen der unorganischen Materie das Ergebniss einer zunächst ontogenetischen und dann auch phylogenetischen organischen Entwickelung ideell mitgesetzt sein kann, oder ob die Idee der unorganischen Kräfte und Gesetze nicht ausreichend erscheint, um die Idee der organischen Entwickelung in ihrem Schoosse zunächst implicite zu enthalten und dann explicite zu entfalten. Nur im ersteren Falle könnten die unorganischen Kräfte und Gesetze als zureichende Ursache der organischen Entwickelung anerkannt werden, im letzteren Falle dagegen nur als unvollständige Ursache oder Bedingung, welche des Hinzutretens noch einer andern Bedingung bedarf, um zur vollständigen oder zureichenden Ursache zu werden. Die Entscheidung wird sich von selbst ergeben, sobald im Abschnitt C. Cap. V das Wesen der Materie als Wille und Vorstellung mit einem auf räumliche Bewegung beschränkten Inhalt erkannt ist, so dass die höheren Objectivationsstufen der Idee unmöglich schon in dieser untersten mit enthalten und befasst sein können (Abschn. C. Cap. IX u. X). Genauer erörtert habe ich die Frage in Gestalt der obigen Alternative in meiner Schrift »Neukantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus« 2. Aufl. S. 354-359; ausserdem beschäftigt sich ein grosser Theil des dritten Theiles der Phil. d. Unb. mit diesem Problem, ob in den unorganischen Kräften und Gesetzen die zureichende Ursache der organischen Entwickelung liege oder nicht (vgl. oben S. 452-454).

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 158-175.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3

Buchempfehlung

Jean Paul

Vorschule der Ästhetik

Vorschule der Ästhetik

Jean Pauls - in der ihm eigenen Metaphorik verfasste - Poetologie widmet sich unter anderem seinen zwei Kernthemen, dem literarischen Humor und der Romantheorie. Der Autor betont den propädeutischen Charakter seines Textes, in dem er schreibt: »Wollte ich denn in der Vorschule etwas anderes sein als ein ästhetischer Vorschulmeister, welcher die Kunstjünger leidlich einübt und schulet für die eigentlichen Geschmacklehrer selber?«

418 Seiten, 19.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon