1. Einleitung

Die tiefe Dunkelheit, in welche die Functionen der Centralorgane des Nervensystems bis vor wenigen Menschenaltern gehüllt waren, ist im Laufe dieses Jahrhunderts durch mannichfache Lichtpunkte erhellt worden, und in dem letzten Jahrzehnt haben sich diese vom Licht der Erkenntniss bestrahlten Punkte derartig vermehrt, dass ein gewisses Verständniss für den Zusammenhang des Ganzen angebahnt ist. Wie sehr diese Erkenntniss auch ihrer Lückenhaftigkeit und Oberflächlichkeit sich noch bewusst ist, so darf sie doch als erste Grundlage für die Physiologie der Centralorgane freudig begrüsst werden, und ist schon jetzt im Stande, nach verschiedenen Richtungen Fingerzeige zu geben, welche theils für die psychologische, theils für die naturphilosophische Verarbeitung der Erfahrung von Werth sind.

Leider fehlte es bis vor Kurzem an einem Werk, welches die in fachwissenschaftlichen Büchern und Zeitschriften verstreuten Mittheilungen über die einschlägigen Fortschritte der Physiologie zu einem übersichtlichen Gesammtbilde zusammengefasst und dadurch weiteren Kreisen zugänglich gemacht hätte. Am meisten hatte sich dieser Aufgabe vielleicht Maudsley in dem ersten, physiologischen Theil seiner »Physiologie und Pathologie der Seele« genähert; indessen datirt die zweite Auflage dieses Werkes bereits vom Jahre 1868 (die deutsche Uebersetzung von Böhm ist 1870 in Würzburg bei Stuber erschienen), und kann deshalb die neuesten Fortschritte der Wissenschaft noch nicht berücksichtigen. Dagegen erfüllen die »Grundzüge der physiologischen Psychologie« von Prof. Wilhelm Wundt (Leipzig, bei Engelmann, 1873 und 74) die Aufgabe eines Compendiums in ausgezeichneter Weise, und bieten neben einer Physiologie der Sinneswahrnehmungen (im II. und III. Abschnitt)[363] wesentlich eine Physiologie des Nervensystems und speciell seiner Centralorgane (im I., IV. und V. Abschnitt). Freilich ist dieses Compendium grade wegen des Reichthums und der Concentration seines Inhalts mehr ein Buch zum Studium und zum Nachschlagen als zur Lectüre, und die Nüchternheit der Verarbeitung des massenhaften Stoffes wird dadurch fast zur Trockenheit, dass der Verfasser mit Aengstlichkeit jeden Aufschwung des Gedankens über das empirische Material vermeidet. Von ungünstigem Einfluss in dieser Richtung war ersichtlich der Einfluss der trockenen und unfruchtbaren Herbart'schen Philosophie, unter welchem Wundt trotz seiner mehrfachen Kritik der Herbart'schen Grundansichten unverkennbar steht; die Lehre von den Affecten und Trieben (im Cap. XX) verliert fast allen Werth durch diese Abhängigkeit von Herbart und durch das Festhalten seines Irrthums, »dass nicht die Affecte es sind, welche hierbei die Vorstellungen regieren, sondern dass vielmehr aus den Vorstellungen selbst die Affecte entspringen« (S. 818), oder dass »alle Willensäusserungen von Vorstellungen« (und zwar bewussten) »ausgehen« (622). Diese verkehrte Auffassung raubt ihm natürlich jedes Verständniss für das unbewusste Leben der Gefühle und Triebe, für dessen Zusammenhang mit dem Innersten Kern der Individualität, dein Charakter und für die durchgängige Abhängigkeit des intellectuellen Lebens sowohl im gesunden wie im kranken Zustande von der Sphäre des Willens. Grade dies aber, was bei Wundt fehlt, ist für Maudsley maassgebende Grundidee für seine Auffassung des gesunden und kranken Seelenlebens, und er erzielt vermittelst derselben die überraschendsten Resultate.

So ergänzen sich Wundt und Maudsley gegenseitig; zu dem reicheren und genaueren Material des ersteren bringt der letztere den feinen psychologischen Beobachtungssinn eines erprobten Seelenarztes und bietet durch seine oft ingenieusen Seitenbemerkungen eine Fülle werthvoller Anregung zum Denken. Die grundlegende Bedeutung des unbewussten Seelenlebens für das bewusste, die durchgängige Bedingtheit des letzteren durch das erstere ist ebenso wie der Primat des Willens für Maudsley eine feststehende Ueberzeugung; als Vorgänger in Bezug auf die Erkenntniss des unbewussten Seelenlebens citirt er bei seiner Unkenntniss der deutschen Philosophie fast nur Hamilton, Carlyle und Jean Paul Friedrich Richter.

Für Wundt, der bei seinen früheren Studien über die Genesis der Sinneswahrnehmung selbständig auf die Theorie der unbewussten[364] Schlüsse gekommen war, wurde die Herbart'sche Annahme, dass der Wille aus der Dynamik der Vorstellungen hervorgehe, auch in der Richtung verhängnissvoll, dass er seine eigne frühere Lehre restringiren zu müssen glaubte. Und freilich muss die Lehre von unbewussten Schlüssen als eine sehr gewagte und bedenkliche Hypothese erscheinen, wenn sie durch Leugnung des unbewussten Seelenlebens nach allen andern Richtungen völlig isolirt und zusammenhangslos hingestellt wird. Gleichwohl besteht doch die ganze Restriction Wundt's an der Lehre von den unbewussten Schlüssen (welche nach seiner eigenen Angabe auf S. 708 von der neueren Psychologie, soweit sie nicht der nativistischen Richtung huldigt, durchweg acceptirt ist) darin, dass der unbewusste Zusammenhang derjenigen Momente, welchen wir in discursiv-logischer Form reproduciren, nicht als ein discursiver zu betrachten sei (was ich selbst immer und überall betont habe), und nur weil Wundt nicht bemerkt, dass die Form des Logischen an und für sich nichts weniger als discursiv ist, sondern es erst durch das Eingehen in die Form des Bewusstseins wird, nur darum erscheint ihm das Anerkenntniss eines logischen Zusammenhangs in der unbewussten Genesis der Wahrnehmung bedenklich (vgl. S. 424, 460-461, 637, 708-711). Der Irrthum Wundt's, das Wesen des Logischen ausschliesslich in der discursiven Form der Reflexion anerkennen zu wollen, scheint in engem Zusammenhang zu stehen mit seiner andern irrigen Ansicht, dass auch das Bewusstsein nur in der Form der discursiven Reflexion, d.h. in dem durch Erinnerung und Reflexion vermittelten Zusammenhang zwischenzeitlich getrennten Vorstellungen bestehe (vgl. S. 825-827, 829, 837). Es ist aber nicht einzusehn, warum nicht ein Bewusstseinscentrum sollte gedacht werden können, welches ein einziges Mal in seinem Leben, und dann nie wieder, eine Perception erhält, und diese doch in voller Bewusstseinsklarheit erhält. Ob diese Perception eine Gedächtnissspur hinterlässt, ob diese Spur hinreicht, um bei erneuter Anregung zur Reproduction zu führen, und ob die Intelligenz des Organs hinreicht, um diese Reproduction als solche (d.h. als Erinnerung) zu recognosciren, das alles ist für die Bewusstheit der ersten Perception ganz gleichgültig und ohne Einfluss. – Wundt verkennt also nach zwei Richtungen hin den abgeleiteten und secundären Charakter der bewussten Reflexion; er verkennt erstens, dass alle Discursivität des bewussten Vorstellens sich aus einzelnen Bewusstseinsacten zusammensetzt, deren jeder sinnliche Anschaulichkeit besitzt, und[365] zweitens, dass alles Logische des discursiven Fortgangs auf dem impliciten logischen Zusammenhang der Momente der unbewussten Intuition beruht. Indem Wundt sein Grosshirnbewusstsein in der ihm geläufigsten Form der discursiven Reflexion ohne Rückgang auf deren genetische Elemente als den Typus des Bewusstseins überhaupt nimmt, verfällt er nach zwei Seiten in falsche Consequenzen: er leugnet den Charakter des Logischen wie des Bewusstseins, wo ihm das Merkmal der discursiven Reflexion fehlt.

Diese Vorbemerkungen dürften genügen, um darzuthun, dass auch die beiden besten Bücher, welche wir zur Orientirung über die Physiologie der Centralorgane des Nervensystems besitzen, einzeln genommen dem Bedürfniss des Laien nicht genügen, während sie zu ihrer gegenseitigen Ergänzung ein ziemliches Maass von Arbeit und selbständiger Kritik erfordern. Ich glaube deshalb, dass der nachstehende Versuch, in aller Kürze und mit Beiseitelassung alles anatomischen und physiologischen Details die wichtigsten Hauptpunkte unserer gegenwärtigen Kenntnisse in dieser Hinsicht zu erörtern, den weiteren Kreisen des wissenschaftlich gebildeten Publikums nicht unwillkommen sein möchte.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 361,366.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3