12. Organismus und Seele

[430] Es wird nach dem ganzen Inhalt der vorhergehenden Darlegungen kaum noch des Hinweises darauf bedürfen, dass durch den gegenwärtigen Stand der Nervenphysiologie der alten Frage nach »dem Sitz der Seele«, welche philosophisch betrachtet immer nur aus einer irrthümlichen metaphysischen Grundanschauung hervorgehen konnte, nunmehr auch von physiologischer Seite aller Boden entzogen ist.

Die ältere Philosophie konnte diese Frage nur stellen, so lange sie die Seele erstens als ein auch abgesehen von dem zugehörigen Organismus an und für sich seiendes metaphysisches Individuum (Monade), und zweitens als objectiv-räumlichen Bestimmungen unterworfen, z.B. als von punctueller Grösse und örtlich fixirt ansah. Nun kann man zwar die Seele als an und für sich seiende psychische Substanz betrachten, als solche ist sie aber nicht individuell (nicht Monade); man kann sie auch als psychisches Individuum betrachten, als solches aber ist sie von dem Körper nicht losgelöst zu denken, an welchen erst sie sich individuiren kann. Man kann sie ferner wohl in objectiv-räumlichen Beziehungen denken, aber nur in und durch den Organismus, in der Einheit, mit welchem sie erst Individuum ist; abstrahirt vom Körper ist sie unräumlich in Bezug auf den objectiv realen Raum, und kann bloss noch in ihrer Vorstellung einen subjectiv-idealen Raum jenem nachbilden. Die Seele in ihrer Trennung vom Körper gefasst, ist also nicht individuell und unräumlich, und kann von einem Ort oder Sitz derselben keine Rede sein; die Seele als organisch-psychisches Individuum verstanden, ist gerade so lang, dick und breit, wie der Körper als lebendiger Organismus und kann keinen Sitz mehr in demselben haben.

Die Physiologie und physiologische Psychologie lehrt uns nämlich, dass wir Perception und Wille (und als Vermittelung zwischen beiden die unbewusstteleologische Gesetzmässigkeit der metaphysischen[430] Substanz) überall da anzunehmen haben, wo ein Reflex sich vollzieht. Dies geschieht aber nicht nur in jeder Ganglienzelle, sondern sogar in dem Axencylinder jeder gereizten Nervenfaser; denn wir haben oben im 2. Abschnitt gesehen, dass auch bei der Leitungsfaser der Reiz auf hemmende Potenzen trifft, die ihn ganz oder theilweise absorbiren und auf aufgespeicherte Spannkraft, welche in Folge dieser Absorption (psychisch: Perception) des Reizes frei wird (psychisch: Wille). Dasselbe Verhältniss kehrt aber bei dem protoplasmatischen Inhalt jeder lebenden Zelle im Körper wieder (vgl. später Cap. C. IV, 2). Da nun der Organismus als solcher nur soweit reicht, wie das Leben seiner Theile, da dieses Leben in Reflexen besteht, denen die innere psychische Seite nicht gänzlich fehlen kann, so reicht auch die individuelle Seele so weit, wie der Organismus im engeren Sinne, und beide enden erst da, wo der lebendige Organismus von abgestorbenen Excretionen seiner früheren Lebensprozesse begrenzt wird.

Insofern mithin die Seele als eine einheitliche, individuelle gefasst wird, fällt ihre objectiv räumliche Bestimmung mit der des Organismus zusammen; dies hindert aber nicht, die innere Gliederung und die verschiedene Werthigkeit der Glieder ebensowohl auf der psychischen, wie auf der materiellen Seite der Erscheinung anzuerkennen. Psychische Functionen knüpfen sich an alle organischen Lebensfunctionen der Zellen im Körper, aber in der Oekonomie der psychischen Individualität haben die psychischen Functionen der verschieden gearteten Zellen eine mindestens ebenso verschiedene Bedeutung, wie ihre organischen Functionen für die Oekonomie der organischen Individualität, ja sogar der Unterschied ist auf der psychischen Seite noch weit grösser.

Wir haben gesehen, wie in allmählicher Stufenfolge sich die psychischen Functionen von der Muskelfaser zur Nervenfaser, von dieser zur vegetativen Ganglienzelle und von dieser endlich zu den Zellen des Rückenmarks, des verlängerten Markes, der Sinnescentren und der Grosshirnhemisphären steigern; die Allmählichkeit dieser schrittweisen Steigerung der Functionen, welche noch durch die parallele Stufenreihe des Thierreichs eine unzweideutige Erläuterung findet, lässt keinen Zweifel darüber bestehen, dass das nämliche Princip auf allen Stufen vertreten ist, und dass es ein schwerer Irrthum ist, die Seele erst in dem höchsten Endglied dieser langen Reihe, nämlich ausschliesslich in den Grosshirnhemisphären des Menschen (und allenfalls noch der höchsten[431] Säugethiere) suchen zu wollen. Diese ältere Auffassung, in welcher Wundt in der Hauptsache noch befangen ist, während Maudsley sie positiv überwunden hat, fällt in den alten Fehler der Localisirung der Seele zurück, indem sie einen Theil des Vorderhirns (die Grosshirnhemisphären) als alleinigen »Sitz« der Seele bezeichnet. Mit diesem Irrthum muss definitiv gebrochen werden. Nur bestimmte psychische Functionen sind auf bestimmte Theile des Nervensystems angewiesen. Seele im Allgemeinen ist überall und nirgends, je nachdem man den Sinn des Wortes deutet. Die Individualseele aber (als unbewusst-einheitliche Totalität der psychischen Functionen des organisch-psychischen Individuums) ist an und für sich nirgends, und auf die äussere Erscheinungsseite des organisch-psychischen Individuums bezogen, reicht sie soweit, wie der Organismus.

Was das Verhältniss zwischen der inneren und äusseren Erscheinung betrifft, so ist daran festzuhalten, dass der unmittelbare Bewusstseinsinhalt niemals im Stande ist, die Vorgänge der materiellen Erscheinung im Organismus zu erklären, dass aber ganz dasselbe auch umgekehrt gilt, wie wohl nachgerade von allen besonnenen Naturforschern zugegeben sein dürfte. Will man nicht auf alles Erklären schlechthin verzichten und sich zu dem Du Bois-Reymond'schen ignorabimus bekennen, so muss man eingestehen, dass überhaupt nur noch Ein Weg offen bleibt, auf welchem eine Erklärung wenigstens nicht unmöglich genannt werden kann. Dieser Weg aber besteht darin, dass man die innere Gesetzmässigkeit der bewusstgeistigen Functionen und die äussere Gesetzmässigkeit des Widerspiels der materiellen Kräfte aus einer gemeinsamen Quelle ableitet, und zwar nicht aus einer solchen, die ehemals durch einen einmaligen Act die Uebereinstimmung der beiden Gesetzmässigkeiten für alle Zeit (durch prästabilirte Harmonie) angeordnet hätte, sondern aus einer solchen Quelle, welche aller inneren und äusseren Erscheinung mit ihrem Wesen inmament ist, und in lebendiger Thätigkeit beständig ihr Wesen zur doppelseitigen Erscheinung bringt (vgl. oben den 5. Abschnitt). Diese Quelle der inneren und äusseren Gesetzmässigkeit kann mithin keine andere sein, als die Natur der metaphysischen Substanz selbst, welche das einheitliche Wesen beider Seiten der Erscheinung sowohl für jedes einzelne Individuum höherer oder niederer Ordnung als auch für das Individuum höchster und letzter Instanz, d.h. für die Welt als Ganzes ist.[432]

Ohne auf das geheimnissvolle Band zurückzugehen, welches die äussere organische Individualität mit der inneren psychischen zusammenschliesst, ist es unmöglich, die organisch-psychische Individualität als reale lebendige und concrete Einheit zu erfassen, ist es mit andern Worten unmöglich, physiologische Psychologie zu treiben. Dieses Band aber kann schlechterdings nicht mehr auf dem Gebiete der Erscheinung, sei es der äusseren materiellen, oder der inneren bewusstgeistigen gesucht werden, da wir eben von der Einsicht ausgegangen sind, dass jede Seite der Erscheinung, auch in ihrer Gesammtheit genommen, unfähig ist, die andere Seite zu erklären. Folglich kann dieses Band nur jenseits der Materie, wie jenseits des Bewusstseins gesucht werden, d.h. die physiologische Psychologie ist durch ihren eigenen Begriff gezwungen, in das Gebiet der Metaphysik überzugreifen. Wenn diese unumstössliche Wahrheit erst allgemein und klar erkannt sein wird, dann wird der Tag der Versöhnung zwischen Naturwissenschaft und Philosophie, die sich so lange (und nicht ohne teleologische Berechtigung) geflohen haben, in strahlendem Glanze anbrechen, und eine neue Aera der Wissenschaft anheben.

Das Band aber, welches Organismus und Bewusstsein zur einheitlichen organisch-psychischen Individualität zusammenschliesst, – die lebendige Quelle, aus der die Gesetzmässigkeit des materiellen und bewusstgeistigen Geschehens in ewig neu gesetzter harmonischer Uebereinstimmung entströmt, – das Wesen, welches in beiden Seiten der Erscheinung sich offenbart, das ist das Unbewusste oder der unbewusste Geist in seiner Doppelnatur von kraftvollem Willen und logischer (also auch zweckthätiger) Idee und dieses All-Eine Unbewusste ist es, welches in seiner functionellen Individuation als »unbewusste Seele« bezeichnet wird.[433]


Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.].
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3

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