11. Die Cooperation und Subordination der Nervencentra

[420] Nachdem wir in den vorhergehenden Abschnitten die Functionen der verschiedenen Theile des Nervensystems in's Auge gefasst haben,[420] sind wir im Stande, uns über den planvollen Zusammenhang des Ganzen Rechenschaft zu geben.

Wer mit der vorgefassten Meinung an den Organismus der höheren Wirbelthiere heranträte, dass in demselben wie in der Pflanze alles durch demokratisches Zusammenwirken gleichberechtigter Zellenindividuen geleistet werde, der würde gegenüber der intensiven Concentration der Herrschaft des Höheren über das Niedere und der Grosshirnhemisphären über das Ganze sich überzeugen müssen, dass er sich in einem Vorurtheil befand. Wer dagegen von dem Standpunkt einer einseitigen Psychologie die entgegengesetzte Meinung herzubrächte, dass ein einziges Centralorgan alles leitet und regiert, dass nichts ohne dessen Anordnung geschieht und alles nur so geschieht, wie es bis in das kleinste Detail der Ausführung vorgeschrieben hat, der würde wiederum sich von den Thatsachen belehren lassen müssen, dass trotz einer straffen Centralisation für die gemeinsamen Angelegenheiten des Gesammtorganismus und trotz einer gewissen Oberhoheit der obersten Regierungsbehörde diese doch von jeder kleinkrämerischen Vielregiererei entlastet ist, weil das Princip der Selbstverwaltung untergeordneter Verwaltungssphären in glänzender Weise zur Durchführung gebracht ist. Der ganze Organismus wird nur durch die unausgesetzte Selbstthätigkeit aller einzelnen Zellenindividuen entwickelt und erhalten, wie der Staat nur durch die Selbstthätigkeit aller Bürger; aber die sociale Bethätigung dieser Individuen ist nicht, wie in der einfachen Form einer kleinen demokratischen Gemeinderepublik, eine gleichmässig vertheilte, sondern eine mannigfach abgestufte.

Die Individuen ordnen sich zu Gruppen oder Familien verschiedenster Gestaltung, deren jede eine höhere Stufe der Individualität repräsentirt und einen höheren Individualzweck zu erfüllen bestrebt ist, die Gruppen schliessen sich ebenso zu Kreisen und diese zu Provinzen zusammen, und die Provinzen gewinnen ihre Provinzialregierung bereits in besonderen Regierungsbehörden. Unter einer solchen Provinz können wir die Summa derjenigen Theile des Organismus verstehen, welche von einem und demselben Nerven durchzogen und innervirt werden; die Provinzial-Regierungsbehörde einer solchen Provinz würde die erste Centralstelle im Rückenmark (beziehungsweise im Gehirn) sein, mit welcher der betreffende Nerv in Berührung kommt, d.h., in welche er mündet, oder aus welcher er entspringt. Diese Provinzialregierungen haben nun weitere vorgesetzte Behörden, welche sich aber nur noch theilweise durch[421] die locale Abgrenzung der von ihnen ressortirenden Unterbehörden, zum andern Theil durch qualitative Sonderung ihrer Ressorts unterscheiden, wie die verschiedenen Ministerien innerhalb derselben Centralregierung. Ueber diesen verschiedenen Ressorts thront endlich der Chef der Executive, der aber zugleich sich ein eigenes Ressort zur selbstständigen Bearbeitung vorbehalten hat. Die verschiedenen Ministerien bilden indessen hier kein berathendes Collegium, sondern jedes verwaltet selbstständig seine Sphäre, und wenn auch wohl zwischen verwandten Ressorts zur Erleichterung der gemeinsamen Aufgaben directe Communication stattfindet, so bleibt doch die Herstellung der vollen Einheitlichkeit nicht ihrer collegialischen Uebereinkunft überlassen, sondern wird durch die Directive gesichert, welche sie sämmtlich von der obersten Staatsleitung erhalten.

Dieser höchste Regent nimmt also ungefähr die Stellung ein, wie ein genialer Monarch, der seinen eigenen Ministerpräsidenten spielt, ohne dabei die selbstthätige Wirksamkeit jedes Ministers in seinem Fache zu beschränken, oder wie ein Präsident der Republik, der es verschmäht, gleich einem constitutionellen Fürsten bloss das Tüpfel auf dem i zu sein, und nicht nur herrscht, sondern auch wirklich regiert. So hält der Organismus als Muster einer kunstreichen Verbindung von leitender Spitze, selbstständiger Ressortregierung, localer Selbstverwaltung und individueller Selbstthätigkeit die rechte Mitte ein zwischen demokratischer Anarchie und centralisirter Präfectenwirthschaft.37 Womit diese Organisation der Natur am wenigsten Aehnlichkeit zeigt, das ist das constitutionelle System mit seiner parlamentarischen Maschinerie und der ideellen Brutalität seiner Majoritätsregierung. Indessen wäre es vielleicht gewagt, der Natur darüber Vorwürfe zu machen, dass sie nicht auch diese doctrinäre Schablone befolgt hat, welche bis vor kurzem ziemlich allgemein als das Ideal politischer Organisation galt. Eher wäre zu erwägen, ob nicht umgekehrt unsere moderne Staatsweisheit aus dem Studium der Einrichtung des natürlichen Organismus Anregung zur erneuten Revision ihrer Doctrinen schöpfen könnte.

Dadurch, dass die Ressorts zum grossen Theil nicht durch[422] Localisirung des Herrschaftsgebiets, sondern durch die qualitative Verschiedenheit der Aufgaben von einander abgegrenzt sind, ergiebt sich die eigenthümliche Erscheinung, dass jede Körperprovinz in mehr als einem Gehirncentrum vertreten ist, und je nach der Beschaffenheit des Reizes oder Motivs bald von diesem, bald von jenem Centrum her ihre Innervationsimpulse erhalten kann. Dieses Resultat ist eine der wichtigsten Errungenschaften der neueren Nervenphysiologie, und räumt gründlich mit dem Vorurtheil auf, als ob man für jede Körperprovinz ein einziges correspondirendes Centrum im Gehirn zu suchen hätte. Allerdings bildet das Gehirn in gewissem Sinne ein Spiegelbild des gesammten Körpers nach seinen Innervationsprovinzen; auch ist es richtig, dass dieses Spiegelbild in einer Hinsicht einfacher ist als das Urbild, nämlich insofern ein physiologisches Element im Centrum einem motorischen Innervationsgebiet von relativ beträchtlicher Ausdehnung correspondirt, welches von jenem aus durch einen einfachen Impuls in gemeinsame Action versetzt wird. In einer andern Richtung aber ist das Spiegelbild complicirter als das Urbild, weil es nicht eine einmalige, sondern (wie das Bild eines Facettenspiegels) eine mehrmalige Abspiegelung darbietet (W. 227-228). Es finden sich also z.B. alle Körperprovinzen sowohl in der Grosshirnrinde wie in der Kleinhirnrinde vertreten, ausserdem aber auch noch in den Sehhügeln, und in den Streifenhügeln, und endlich der bei weitem grösste Theil noch einmal im Rückenmark einschliesslich des verlängerten Marks. Ein und dieselbe Bewegung einer Körperprovinz kann nämlich durch einen Reflex aus dem Rückenmark oder verlängertem Mark innervirt sein, oder auf Anlass von Tastempfindungen von den Sehhügeln aus angeregt sein, oder Behufs Wahrung des Gleichgewichts vom Kleinhirn hervorgerufen sein, oder aus den Streifenhügeln entspringen, welche von den Grosshirnhemisphären den Impuls dazu erhalten haben, oder endlich vielleicht auch von letzteren unmittelbar (mit Umgehung aller andern Centren ausser dem Rückenmark) bewirkt sein.

Jedes einzelne der genannten Centren (mit Ausnahme der Grosshirnhemisphären) kann nun wieder auf zweifachen Anlass denselben Bewegungsimpuls nach abwärts senden, oder in jedem dieser Centra kann die aufgespeicherte Kraft in einer der durch die vorhandenen Dispositionen vorgezeichneten Richtungen durch Reize von zwei verschiedenen Arten freigemacht werden, erstens durch solche, die von unten her, und zweitens auf solche, die von einem übergeordneten Centrum her zugeleitet werden. Ersteres sind die[423] durch sensible Nerven zugeführten Perceptionen, letzteres sind die Directive der höheren Verwaltungsbehörden; in beiden Fällen reagirt das fragliche Centrum selbstständig, seinem Individualzweck entsprechend auf die empfangene Anregung, in beiden Fällen hat man es also mit einem Reflexact zu thun, der die innere Teleologie der selbstständigen Wirkungsweise des Centrums offenbart (W. 830; M. 103-104 und 188).

Marshall Hall hatte seiner Reflextheorie noch die Annahme getrennter Leitungsbahnen für die Reflexe einerseits und für die zum Hirn führenden und von dort herkommenden sensiblen und motorischen Erregungen andererseits zu Grunde gelegt. Diese Annahme lässt sich aber weder physiologisch noch anatomisch begründen; im Gegentheil spricht alles für die Identität beider Leitungsbahnen in dem soeben dargelegten Sinne. In dem einfacher gebauten Rückenmark der Fische macht die anatomische Untersuchung es direct wahrscheinlich, »dass die nämlichen Ganglienzellen, welche motorische Fasern an die Nervenwurzeln abgeben, durch aufsteigende Fortsätze eine Verbindung mit den höher gelegenen motorischen Centren und durch rückwärts gerichtete eine solche mit den sensiblen Leitungsbahnen vermitteln« (W. 121-122).

Es ist klar, dass der wiederholten Abspiegelung aller oder sehr vieler Körperprovinzen durch die verschiedenen Centra auch eine Anordnung der sensiblen und motorischen Leitungswege entsprechen muss, welche die dargelegte Wirkungsweise ermöglicht. Wir können hierbei an das anknüpfen, was über die Leitung im Rückenmark bereits oben im 3. Abschnitt bemerkt wurde. Dort hatten wir gesehen, wie die Möglichkeit der Rückenmarksreflexe mit der Fortleitung der Empfindungsreize zu höheren Centren vereinigt war. Im obersten Theil des Rückenmarks oder im verlängerten Mark vereinigen sich alle motorischen und alle sensiblen Nervenfasern zu einer motorischen und einer sensiblen Hauptbahn, deren jede sich schon im verlängerten Mark wieder in mehrere Zweige spaltet. Die motorische Hauptbahn zerfällt zunächst in zwei Hauptzweige, deren einer durch den Hirnschenkelfuss zum Vorderhirn, und deren anderer zu den mittleren Hirntheilen führt. Ersterer bleibt rein motorisch, letzterer tritt in den Centren, wo er mündet, mit Theilen der sensiblen Bahn in mittelbaren Connex. Ersterer theilt sich in zwei Unterabtheilungen, deren eine direct zu den motorischen Rindenpartien der Grosshirnhemisphären führt, während die andere im Streifenhügel und Linsenkern mündet; letzterer Hauptzweig dagegen[424] theilt sich in drei Unterabtheilungen. Von diesen führt die eine durch die Schleife zu den Vierhügeln, die andern durch die Hirnschenkelhaube zu den Sehhügeln und die dritte endlich zum Kleinhirn (W. 165).

So sieht man, wie jedes der verschiedenen Centra seinen Antheil an der Hauptleitung hat, welche zu den Körperprovinzen hinabführt. Dass übrigens jede dieser Abzweigungen nicht bloss einen Theil der Körperprovinzen, sondern alle zusammen repräsentirt, wird nur dadurch ermöglicht, dass alle Leitungsfasern sowohl bei der Insertion in das Rückenmark als auch weiter oben noch durch Ganglienzellen unterbrochen werden, so dass wiederholentlich eine Zusammenfassung vieler von unten kommenden Leitungsfasern durch die graue Substanz und eine Weiterführung der Leitung nach oben durch mehrere coordinirte Fasern stattfindet, deren jede nunmehr die gleiche Bedeutung für alle weiter unten mit ihr in Verbindung stehenden Leitungsfasern hat.

Der Verlauf der sensiblen Hauptleitungsbahn unterscheidet sich von dem der motorischen dadurch, dass nur ein kleiner Theil derselben direct zur Grosshirnrinde führt; ein zweiter Zweig wendet sich auch hier zur Kleinhirnrinde und ein dritter in mehreren Unterabtheilungen zu den vorderen und mittleren Hirnganglien (W. 165-166). Der letztere Zweig bietet hier jedenfalls einen theilweisen Ersatz für die geringere Mächtigkeit des direct zur Grosshirnrinde führenden Zweiges, weil anzunehmen ist, dass das Hemisphärenbewusstsein den Haupttheil seiner Sinneswahrnehmungen (vielleicht mit alleiniger Ausnahme der Gehörswahrnehmungen) erst durch die Vermittelung der Sinnesganglien empfängt, welche die Reize der Sinnesnerven erst selbstständig zu geordneten und geschlossenen Wahrnehmungen verarbeiten. Die unmittelbar oder durch die Sinnesganglien vermittelten sensorischen Leitungen zu den grossen Hemisphären scheinen in solchen Rindengebieten ihre centrale Endigung zu finden, welche hinter der Sylvischen Spalte liegen, so dass also im Allgemeinen die vorderen Theile der Hirnrinde mehr als motorische, die hinteren mehr als sensible Centralstellen zu betrachten sein würden (W. 167) und in einem ähnlichen Verhältniss zu einander stehen würden, wie die vorderen und hinteren Säulen der grauen Rückenmarkssubstanz.

Die mannigfaltige Art und Weise, durch welche ein und dieselbe Bewegung angeregt werden kann, und die Verschiedenartigkeit der Vermittelungen, welche ein von den Grosshirnhemisphären ausgegangener[425] Bewegungsimpuls durchlaufen kann, geben einen deutlicheren Einblick in die relative Leichtigkeit, mit welcher bei Functionsstörungen eines Centrums ein Ausgleich durch vicarirendes Eintreten anderer Centra als Mittelglieder stattfinden kann. Man darf hierbei natürlich nicht ausser Acht lassen, dass pathologische Processe meistens mit der Zeit eine weitere Ausbreitung erlangen, und dadurch häufig die bereits eingetretene Ausgleichung wieder zerstören. Dass aber auch in solchen Fällen, wo nur ein einzelnes Centrum ausser Function gesetzt wird, augenblicklich eine starke Störung aller Bewegungserscheinungen sich einstellt, das spricht dafür, dass unter normalen Umständen für jeden von den Hemisphären innervirten Bewegungscomplex eine bestimmte Vermittelungsbahn die am besten eingeübte und gewöhnlich gebrauchte ist.

Vollständige Bewegungslähmung oder Paralyse wird daher erst durch Functionshemmung mehrerer Hauptcentra oder durch Unterbrechung der motorischen Hauptleitungsbahn vom Gehirn zum Körper herbeigeführt. Eine unvollständige Lähmung aber bietet ein ganz verschiedenes Bild dar, je nachdem die Functionsstörung oder Leitungshemmung sich auf das Vorderhirn oder auf das Zwischen-, Mittel- und Hinterhirn bezieht. In beiden Fällen bleibt die Ausführung aller Bewegungen möglich; doch kommt sie im ersteren Falle nur noch als unwillkürliche Reflex- oder Regulationsbewegung, im letzteren Falle nur noch als willkürliche Bewegung zu Stande. Betrifft die Functionshemmung das Vorderhirn oder den Hirnschenkelfuss, so ist der Einfluss des bewussten Willens (der Hemisphäreninnervation) beeinträchtigt, aber die unwillkürlichen Bewegungen bleiben hiervon unberührt (Parese); betrifft die Functionshemmung hingegen die mittleren Hirntheile oder die zu demselben führenden Leitungen (Schleife und Haube), so behält zwar der bewusste Wille (nach Ueberwindung der ersten Störung) seine Herrschaft über jedes einzelne Innervationsgebiet, aber den Bewegungen fehlt die Regulation und unwillkürliche Coordination (Ataxie). Im ersteren Falle braucht der Kranke grosse Anstrengungen, um die Functionshemmung durch die Hemisphäreninnervation zu überwinden, und seine Bewegungen werden dadurch mühselig und schwerfällig, sein Gang schleppend; im letzteren Falle muss der Hemisphärenwille alle Details der Bewegung besorgen, welche sonst die untergeordneten Centra weit besser besorgten, und die Bewegungen werden dadurch unsicher (auch wohl zitternd), der Gang schwankend (W. 205-206).[426]

Eine Frage, welche nicht unerörtert bleiben kann, ist die folgende: wovon hängt es ab, ob ein die Peripherie des Körpers treffender Reiz schon in dem betreffenden Rückenmarkscentrum oder erst in irgend einem der höher gelegenen Centra zur Auslösung einer reflectorischen Reaction gelangt? Die blosse Stärke des Reizes allein kann hier nicht massgebend sein; denn es ist zwar richtig, dass ein Reiz mit Sicherheit um so höher hinauf seine Erregung fortpflanzt, je stärker er ist, und dass den stärksten Reizen kein Centrum verschlossen bleibt, aber auf der andern Seite wissen wir auch, dass die allerschwächsten Reize im Stande sind, bis zu den Grosshirnhemisphären zu gelangen, und dass im normalen Zustande des wachen Lebens nur auf einen relativ sehr kleinen Theil aller den Organismus treffenden Reize Reflexe der untergeordneten Centra ausgelöst werden. Dieses Verhältniss erklärt sich durch das allgemeine Gesetz, dass, wie die Ganglienzelle auf die Nervenfaser, so jedes höhere Centrum auf die ihm untergebenen einen Einfluss ausübt, welcher gleichzeitig die Reflexreizbarkeit der niederen Centra herabsetzt und den Leitungswiderstand nach dem höheren Centrum vermindert. Dieser für die Selbstthätigkeit der niederen Centra hemmende, für die Perception des höheren Centrums aber befördernde centrifugale Innervationsstrom besteht erstens als dauernder Tonus im ganzen Nervensystem, zweitens wird er in verstärktem Maasse reflectorisch hervorgerufen durch die präliminarische Meldung eintretender Reize, und drittens kann er in Folge eines bewussten Reflexionsprocesses von den Grosshirnhemisphären willkürlich ausgesandt werden. Der letztere Fall giebt uns das psychologische Verständniss für das innere Wesen dieses Innervationsstroms, der sich nunmehr nach seiner negativen Seite als hemmender Wille, nach seiner positiven Seite als Aufmerksamkeit herausstellt.

Es ist bekannt, dass die unwillkürliche Neigung zu Reflexbewegungen (z.B. zum Zucken bei kitzelnden Hautreizen, oder zum Tanzen bei charakteristischer Tanzmusik) durch den bewussten Willen unterdrückt werden kann, der je nach der Stärke der Reflextendenz verschiedene Energiegrade haben muss. Dies bedeutet aber, physiologisch gesprochen, dass die Grosshirnhemisphären die fraglichen Reflexcentra derart innerviren können, dass ihre Reflexreizbarkeit momentan herabgesetzt wird, oder dass ihre Reflextendenz durch negative Impulse paralysirt wird. Zu derselben Reihe von Erscheinungen gehört es, dass der bewusste Wille im gesunden.[427]

wachen Leben die in niederen Centralorganen wurzelnden instinctiven Triebe (z.B. Nahrungs- und Geschlechtstrieb) im Zaume hält, dass aber im Traum, wo die Thätigkeit der Grosshirnhemisphären geschwächt ist, oder bei krankhafter Störung derselben diese Triebe sich in rücksichtsloser und schaamloser Weise hervordrängen und z.B. bei Irren oft genug ungenirt in der rohesten Weise ihre Befriedigung suchen (M. 99). Es ist teleologisch von der höchsten Bedeutung, dass die Reflexactionen der niederen Centra gerade dann erst ihre ungehinderte Wirksamkeit entfalten, wenn dass Grosshirn durch den Schlaf depotenzirt, oder durch eine anderweitige Richtung der Aufmerksamkeit in Anspruch genommen ist; es ist das analog wie im politischen Leben, wo der Statthalter einer Provinz erst dann rückhaltlos aus eigener Initiative handelt, wenn der Fürst nicht gerade zugegen ist, um seine allerhöchsten Entschliessungen zu treffen, oder wenn derselbe anderweitig in Anspruch genommen ist und sich deshalb augenblicklich nicht mit Provinzialangelegenheiten befassen kann.

Die Aufmerksamkeit habe ich (vgl. oben S. 112-113, 150-151, 238-239 und S. 53-56 des folgenden Bandes) als einen die Leitung erleichternden centrifugalen Innervationsstrom dargestellt, der theils durch Vorstellungsreflexion, theils durch zugeführte Reize angeregt sein kann, und wird diese vielfach angefochtene Auffassung in allen Hauptpunkten durch die eingehenden Untersuchungen Wundt's bestätigt. (W. 717-725.)

Nehmen wir an, es lese Jemand ein Buch, und ein im Zimmer Anwesender richte eine Frage an ihn, so wird zwar nicht gleich der Inhalt der Frage in sein Hemisphärenbewusstsein fallen, aber doch ein Reiz auf dasselbe geübt. Es ist gleichsam ein Weckersignal, wie der Telegraphist es der Aufgabe einer Depesche vorausschickt. Dieser Reiz genügt, um reflectorisch den Innervationsstrom der Aufmerksamkeit nach dieser Seite hinzulenken, und das Resultat ist, dass das Hemisphärenbewusstsein nachträglich die im Gehörscentrum percipirte und dort noch nicht verklungene Frage percipirt. Hier ergiebt sich die Wichtigkeit hochentwickelter, selbstständiger Sinnesganglien, welche die Eindrücke als geordnete Wahrnehmungen percipiren, ehe noch das Hemisphärenbewusstsein etwas von dem Stattgefundenhaben einer Wahrnehmung merkt.

In derselben Weise, wie die Grosshirnhemisphären den Innervationsstrom der Aufmerksamkeit und des Hemmungswillens nach den Sinnesganglien und sensumotorischen Centren als Reflex auf den[428] präliminarisch zugeführten Reiz entsenden, in derselben Weise muss man sich von den mittleren Hirntheilen solche Ströme nach den Sinnesnerven und nach dem verlängerten Mark und Rückenmark, und von jedem höhergelegenen Theil des verlängerten Markes und Rückenmarkes nach jedem tiefer gelegenen Theile derselben ausstrahlend denken, theils als dauernden Tonus, theils als momentane reflectorische Verstärkungen dieses Tonus. Von dem dauernden Tonus dieses Hemmungsstromes ist das Gleichgewicht der chemischen Composition und Decomposition in den niederen Centren, d.h. die Ernährung derselben abhängig (M. 84-85), in gleicher Weise, wie die der Nervenfaser es von dem Hemmungsstrom der Ganglienzelle ist, aus welcher sie entspringt (vergl. oben den 2. Abschnitt). »Die gesteigerte, aber« (im Vergleich zu der durch höhere Centra bewirkten Coordination) »regellose Thätigkeit der niederen Centralorgane lässt mit Sicherheit auf eine herannahende Degeneration schliessen: wie das stürmische zwecklose Treiben einer Volksherrschaft ohne ein leitendes Haupt« (M. 85). Dies darf man bei der Betrachtung der Zweckmässigkeit der Reflexe der niederen Nervencentra nie vergessen, dass sie nur unter der Voraussetzung des Vorhandenseins höherer Führer, deren Anordnungen sie sich willig unterwerfen, ihre normale, eigentliche und am häufigsten zu lösende Aufgabe erfüllen, dass die Reflexaction auf von oben kommende Befehle der gewöhnliche Fall, und der Reflex auf einen peripherischen Reiz bei ausbleibender höherer Weisung nur die seltenere Ausnahme ist.

Der Einfluss des von oben kommenden Hemmungsstromes ist experimentell nachzuweisen und zwar in doppelter Art. Trennt man nämlich einen Theil des Nervensystems von seinen oberen Centren ab, so unterbricht man den Hemmungsstrom, und diese Unterbrechung kommt sofort in einer beträchtlich gesteigerten Reizbarkeit des nach oben hin isolirten Theiles zur Erscheinung. Lässt man dagegen den Zusammenhang der Theile unberührt, erregt aber höher gelegene Centra (z.B. die oberen Theile des Rückenmarkes) durch zugeführte Reize, so macht sich die erhöhte Activität derselben auch in einer Verstärkung des Hemmungsstroms geltend, d.h. man findet nun die Reizbarkeit der tiefer gelegenen Centra unter den normalen Stand herabgesetzt (W. 174 und 118). Die Steigerung der Reizbarkeit der niederen Centra im ersten Fall ist auch dadurch nachzuweisen, dass man von oben her die Hemisphären und anliegenden Theile abträgt. Diese Experimente sind im Zusammenhang mit den vorangestellten psychischen Beobachtungen ganz[429] schlagend, und beweisen unzweideutig die kunstreiche und planvolle Organisation des Nervensystems, in welchem die niederen Kräfte zwar vorbereitet und jederzeit schlagfertig gehalten werden, aber zugleich von den oberen Instanzen im Zaume gehalten werden, wie eine Schwadron geschickter Reiter und schnaubender Rosse durch den Willen des Führers, bis ihm der Augenblick zur Entfesselung dieser Kräfte durch seinen Wink gekommen scheint.A75

37

»Die Zellen sind Individuen, und auch hier gibt es wie im Staate höhere und niedere Individuen; doch ist die Wohlfahrt und Macht der Höhergestellten ganz und gar abhängig von der Wohlfarth und Zufriedenheit der niederen Arbeitskräfte im Rückenmark, die einen so wesentlichen Theil der alltäglichen Arbeit des gewöhnlichen Lebens verrichten.« (M. 86.)

A75

S. 430 Z. 7. Eine werthvolle Ergänzung zu den physiologischen Thieruntersuchungen bieten die Erscheinungen des abnormen Seelenlebens; wie dort durch das Messer oder die sonstigen Eingriffe des Anatomen, so wird hier durch Veränderungen der Blutcirculation eine Lähmung oder Ausschaltung oberer Hirntheile herbeigeführt und das selbstständige Spiel der mittleren blossgelegt. Der Thierversuch bietet den Vortheil, besser übersehen zu können, welche Theile functionsunfähig gemacht sind; aber er hat den Nachtheil, dass seine Eingriffe zugleich schwere Störungen des Allgemeinbefindens einschliessen und dass die Thiere der Sprache ermangeln, um über ihre Bewusstseinszustände Rechenschaft zu geben. Die Beobachtungen der abnormen Geisteszustände an Menschen haben dagegen den Vortheil, dass man es mit höheren und reicheren Versuchsobjecten zu thun hat, und dass theilweise eine Controle der Beobachtungen Anderer durch die Erinnerung der Versuchsperson möglich ist; sie haben dagegen den Nachtheil, dass die zeitweilig ausser Function gesetzten Hirntheile auch nicht annähernd zu bestimmen sind, sondern höchstens vermuthet werden können (z.B. aus den Stellen des Kopfschmerzes beim magnetischen Transfert aus einer Hirnhälfte in die andere). Von den abnormen Zuständen ist der Traum des gewöhnlichen Schlafes aus der eigenen Erinnerung zugänglich, während die Herrschaft des Traumbewusstseins über die willkürlichen Muskeln und damit die Möglichkeit zu äusseren Kundgebungen fehlt; den Zuständen des Irrsinns fehlt wiederum, von Fällen der nachherigen Genesung abgesehen, einerseits die Möglichkeit der Selbstcontrole des abnormen Zustandes durch die Erinnerung des wachen Bewusstseins und andererseits die Fügsamkeit gegen die Maassnahmen des Experimentators. Die beste Gelegenheit bietet der Sonnambulismus, d.h. derjenige Grad der Hypnose, bei welchem die Sinne, wenn auch sonst gegen die Aussenwelt seelisch verschlossen, doch gegen den Experimentator geöffnet sind und das Traumbewusstsein die nöthige Herrschaft über die willkürlichen Muskeln und insbesondere über diejenigen des Sprachorgans hat. Die neueren französischen Untersuchungen auf diesem Gebiete haben bereits werthvolles psychologisches Material zu Tage gefördert (vgl. M. Dessoir »Bibliographie des modernen Hypnotismus«, Berlin, Carl Duncker's Verlag 1888), sind aber noch keineswegs als abgeschlossen zu betrachten.

Ich nehme an, dass das somnambule Bewusstsein dieser mittleren Hirntheile permanent thätig ist und fortdauernd Eindrücke in sich aufnimmt, welche sein Gedächtniss bereichern; aber wie das Bewusstsein des Grosshirns nach dem Erwachen für gewöhnlich keine Erinnerung von dem Inhalt des offenen sonnambülen Bewusstseins hat, so hat es auch als waches Bewusstsein in der Hauptsache keinen Einblick in die Vorgänge des gleichzeitig bestehenden latenten sonnambülen Bewusstseins. Insoweit es aber einen solchen Einblick erlangt, d.h. insoweit Vorstellungen des sonnambülen Bewusstseins über die Wahrnehmungsschwelle des wachen Bewusstseins treten und diesem durch Leitung zugeführt werden, insoweit fasst eben das wache Bewusstsein diese Vorstellungen als seinen Inhalt und nicht als den eines anderen Bewusstseins auf; dagegen fasst das sonnambüle Bewusstsein das Thun und Erleben des wachen Bewusstseins als das Thun und Erleben eines Anderen auf, weil es sich dramatisch spaltet. Die Sensitivität besteht in einem erleichterten Emporsteigendes sonnambülen Bewusstseinsinhalts über die Schwelle des Grosshirnbewusstseins; denn vom somnambülen Bewusstsein werden eine Menge Sensationen des Nervensystems percipirt, welche dem wachen Bewusstsein unmittelbar nicht bemerkbar werden. Im normalen wachen Zustande des Organismus ist es allein das wache Bewusstsein des Grosshirns, welches die willkürlichen Muskeln beherrscht und durch seine reflexhemmende Thätigkeit die Sondergelüste der mittleren und niederen Centra bis auf unbedeutende Reflexactionen im Zaume hält; im offenen Sonnambulismus, wo die Function des wachen Bewusstseins völlig erloschen ist, geht die Herrschaft über den Körper ganz und ungehindert auf das somnambule Bewusstsein über; in den gemischten Zuständen, welche ich als »larvirten Sonnambulismus« bezeichne, theilt sich das wache Bewusstsein mit dem sonnambülen Bewusstsein in die Herrschaft über den Körper, pflegt aber von den durch das sonnambüle Bewusstsein beschlossenen und ausgelösten Bewegungen auch während ihrer Ausführung nichts zu wissen.

Bei dem durch einen Experimentator künstlich hervorgerufenen Sonnambulismus pflegt das sonnambüle Bewusstsein an und für sich ganz leer und völlig passiv zu sein, und erst durch die Suggestionen des mit ihm in Rapport stehenden Experimentators eine Erfüllung und Willensziele zu bekommen; bei dem spontanen oder unwillkürlich auftretenden und bei dem willkürlich selbst herbeigeführten Autosonnambulismus dagegen ist das sonnambüle Bewusstsein keineswegs inhaltsleer, passiv und willenlos, sondern geht eigensinnig und launisch seine eigenen Wege. Allerdings kann auch der Autosonnambule durch Einleitung eines Rapports einem überlegenen fremden Willen und dessen Suggestionen unterthan gemacht werden; umgekehrt kann aber auch das sonnambüle Bewusstsein eines künstlich Hypnotisirten den Zügel des Experimentators abwerfen und auf eigene Hand Unfug treiben. Die hypnotische Erziehung einer Versuchsperson geht auf die Unterdrückung jeder selbstständigen Regung aus, damit der Experimentator sie ganz in der Hand behält; die Erziehung zum »Medium« hingegen lässt den selbstständigen Regungen freien Spielraum, begünstigt ihren Eintritt und benutzt die Fremdsuggestion nur als Vorstufe zur Weckung der Autosuggestion, ebenso wie die künstliche Hypnotisirung nur als Verbreitung zur Erleichterung der willkürlichen Selbstversenkung in Autosonnambulismus. Je fester in einem Individuum das Subordinationsverhältniss der Hirntheile gefügt und je stärker dir Herrschaft des Grosshirns über die niederen Centra begründet ist, desto schwerer ist er zu hypnotisiren und desto ferner steht er allen autosonnambulen und mediumistischen Anwandlungen. Leichte Hypnotisirbarkeit ist immer ein Zeichen von Schwäche der Grosshirnherrschaft, oder des Grosshirnwillens und von einer relativen Lockerheit des Subordinationsverhältnisses der niederen Centra. Neigung zum Autosonnambulismus und Anlage zur Mediumschaft ist ein Beweis von einer beginnenden Desorganisation des Nervensystems, da es nicht einmal mehr eines äusseren Einflusses bedarf, um die Centralgewalt des Grosshirns zeitweilig zu suspendiren.

Beim blossen Autosonnambulismus ist die Desorganisation zunächst bloss noch negativ, insofern bloss die Herrschaft des Grosshirns zeitweilig ausser Kraft gesetzt und durch eine inhaltlose Ekstase oder durch ein passives willenloses Spiel phantastischer Traumbilder ersetzt wird; sie kann aber auch positiv und activ werden, insofern der Wille der niederen Centra auf die Phantasiebilder mit Traumhandlungen reagirt. Beim Mediumismus erreicht diese active Desorganisation ihre höchste Stufe, indem der Inhalt der Traumbilder durch Autosuggestionen mehr oder weniger geleitet wird, und abnorme physikalische Leistungen der niederen Nervencentra zum objectiven Beweise für die Wahrheit der symbolischen Traumpersonificationen und Spaltungen des Ich dienen sollen. Die mediumistische Veranlagung ist fast immer mit sexuellen Anomalien (Ueberreizung, Impotenz, Vereinigung beider, perversen Instincten und dergl.) verbunden, welche ein blosses Symptom von der bestehenden Desorganisation des Nervensystems sind. (Vgl. hierzu meine Schrift »Der Spiritismus« und meinen Aufsatz »Der Sonnambulismus« in den »Modernen Problemen« 2. Aufl. Nr. XV.)

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 420-430.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3

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