10. Das Vorderhirn

[416] In der grauen Rindenschicht der Grosshirnhemisphären sind durch Versuche von Fritzsch und Hitzig bestimmte centrale Innervationsheerde für bestimmte Muskelgruppen (z.B. für die Strecker des Vorderbeins, die Beuger des Vorderbeins, die Nackenmuskeln, die Muskeln des Hinterbeins u.s.w.) nachgewiesen worden, welche in einem begrenzten Theil der vorderen und seitlichen Fläche zusammenliegen (W. 168). Die betreffenden Stellen haben schon auf schwache galvanische Ströme reagirt, und wenn es bei Reizung anderer Stellen bisher nicht gelungen ist, motorische oder sensible Wirkungen zu erzielen, so liegt das vielleicht zum Theil an einer ungeeigneten Intensität und Qualität der angewandten Reize, zum Theil an der rasch eintretenden Abstumpfung der Reizbarkeit in Folge der Entblössung[416] des Gehirns. Exstirpation der genannten motorischen Centralheerde, erzeugt für längere Zeit Störung der betreffenden Bewegungen, die sich indessen mit der Zeit wieder ausgleicht.

Eine andere Stelle der vorderen Hirnlappen ist durch pathologische Beobachtungen schon früher als Centrum der Sprache erkannt worden. Die Sprachlosigkeit oder Aphasie sondert sich in eine ataktische und eine amnemonische Art; in ersterer will es nicht gelingen, dem vorschwebenden Begriff sein sprachliches Zeichen zu geben, in letzterer werden verschiedene Wörter mit einander verwechselt. Vielleicht deutet dieser Unterschied auf zwei verschiedene Centra, welche bei der Sprachfunction zusammenwirken müssen (W. 230). – Weitere Anhaltspunkte zu exakten Bestimmungen über die Vertheilung der Centralheerde der Perception und Innervation fehlen noch gänzlich, und die einschlägigen Behauptungen der Phrenologie stehen auf schwachen Füssen.A74

Mehr als in irgend einem anderen Hirntheil können in den grossen Hemisphären die einzelnen Gangliengruppen vicarirend für einander eintreten, und deshalb gleichen sich Verletzungen und Störungen, welche nicht die Streifenhügel oder den Hirnschenkelfuss mit berühren, hier leichter und vollständiger als in irgend welchen anderen Centren aus. Beträchtliche Substanzverluste von beiden Hemisphären, oder einseitiger Verlust einer ganzen Hemisphäre werden von Tauben ohne dauernde Veränderung des Benehmens, von Kaninchen und Hunden unter Zurücklassung eines gewissen Grades von Stumpfsinn ertragen. Selbst beim Menschen ist totale Zerstörung eines Grosshirnlappens ohne nachweisbare Störung mehrmals beobachtet, wenngleich hier ausgebreitetere Verletzungen beider Seiten immer von motorischen Störungen, seltener von solchen der Sinne oder der psychischen Functionen gefolgt zu sein pflegen (W. 222).

Diese Thatsachen beweisen, dass, wenn auch in der Grosshirnrinde an bestimmten Stellen specifische Dispositionen zu bestimmten Functionen vorgefunden werden, diese specifischen Energien doch auch hier nur eine relative, keine absolute Bedeutung haben, dass sie auch hier nur Folge der generationenlangen Gewöhnung an eine gewisse Art von Leistungen sind, deren Beschaffenheit wieder durch die Art der Verbindungen und der von diesen zugeleiteten Reizen bedingt ist (W. 231). Aendern sich diese Verbindungen und die von ihnen abhängigen Beziehungen zum übrigen Nervensystem, so werden trotz der (theils angeborenen, theils individuell erworbenen)[417] Dispositionen in kurzer Frist andere specifische Functionen von den betroffenen Theilen eingeübt, so dass den psychischen und organischen Gesammtfunctionen kein Abbruch geschieht.

Diese Stellvertretung wird theils durch die anatomisch gleichmässige Beschaffenheit der grauen Rindensubstanz in allen Theilen der Hemisphären, theils durch die ausserordentlich reichen und mannigfachen Verbindungen der einzelnen Partien unter einander begünstigt. Diese Verbindungen sind, wenn wir von den die Fortsetzung der aufsteigenden Leitungsbahn bildenden Stabkranzfasern absehen, von dreierlei Art: 1) die Balkenfasern, welche Commissuren zwischen gleichgelegenen Partien beider Hemisphären bilden, 2) die bogenförmigen Faserbündel, welche die Rindenoberfläche benachbarter Windungen verbinden, und 3) die längeren, leitenden Faserbündel, welche entferntere Partien jeder einzelnen Hemisphäre in Communication mit einander setzen (W. 157).

Die Häufigkeit und Güte dieser leitenden Verbindungen allein ist es, welche eine so bequeme psychische Communication der sämmtlichen Ganglienzellen des Vorderhirns mit einander ermöglicht, dass ihre lebhafteren Perceptionen durch den Akt der Mittheilung und des Vergleichs zu einem einzigen Bewusstsein zusammenfliessen, was z.B. zwischen den Perceptionen des Kleinhirns und denen des Vorderhirns nicht der Fall ist. Da nun dasjenige Bewusstsein, welches philosophirt und Bücher schreibt, das Grosshirnhemisphärenbewusstsein ist, so ist es selbstverständlich, dass dasselbe von einem Kleinhirnbewusstsein unmittelbar nichts wissen kann; es ist nur ein Verkennen der Unmöglichkeit, mit dem philosophirenden Bewusstsein unmittelbar in das Kleinhirnbewusstsein hineinzugucken, wenn Wundt und Andere aus dieser Thatsache heraus ein Bewusstsein des Kleinhirns und der Sinnescentra ohne Weiteres leugnen zu können wähnen (W. 713-715). Allerdings bestehen leitende Verbindungen auch zwischen allen übrigen Nervencentren und den Grosshirnhemisphären, so dass in ihnen nicht bloss alle peripherischen Körperprovinzen, sondern auch alle untergeordneten Centralorgane ihre Vertretung finden; aber diese Verbindungen müssen schon aus teleologischen Rücksichten erschwert sein, damit nicht der ganze Vortheil der Arbeitsvertheilung an selbstständige Centra und die dadurch bewirkte Entlastung von gemeiner Arbeit und die Concentration auf geistige Interessen für das Vorderhirn wieder verloren gehe. Es werden also entweder die vorhandenen Leitungswege nur zur Uebermittelung von Befehlen an die ausführenden Unterbeamten, oder[418] (wie von Seiten der Vierhügel) zur Zuleitung von synthetisch vorbereitetem Empfindungsmaterial dienen, oder es werden nur besonders mächtige und starke Eindrücke zum Vorderhirn telegraphirt werden. Auf alle Fälle aber werden die grossen Hemisphären sich der von anderen Centren zugeleiteten Reize (ebenso wie der von Sinnesorganen direkt erhaltenen) nur als ihrer eigenen Erregungen bewusst werden, denn was percipirt wird, ist nur die Modification des eigenen Zustandes durch den Reiz. Es fehlt die Wechselwirkung im gleichen Sinne, wie sie unter Ganglienzellen der Hemisphären stattfindet, und aus der erst durch den Vergleich beider Perceptionen in beiden Zellen das Combinationsphänomen eines Bewusstseins von höherer Individualitätsstufe resultirt. Bei niederen Thieren, z.B. den Cyclostomen (Myxine und Petromyzon), wo noch keiner der fünf Hirntheile eine entschieden dominirende Stellung erlangt hat, sondern alle fünf in der durch die leitende Aneinanderlagerung bewirkten Coordination ihre Angelegenheiten einzeln, obschon nicht ohne organischen Zusammenhang, regeln, kann mithin von einem einheitlichen Bewusstsein als Repräsentant der organischen Einheit des Individuums ebenso wenig die Rede sein, wie bei einem Bandwurm, einem Korallenstock oder einem Eichbaum, wenngleich in diesen Beispielen die Beziehungen zwischen den verschiedenen Bewusstseinen immer lockerer werden. Die Myxine hat eben nicht Ein, sondern fünf Hirnbewusstseine, welche erst in ihrer Gesammtheit mit den vielfachen Rückenmarks- und sonstigen Zellenbewusstseinen das ganze psychische Leben des Thieres repräsentiren. Der Mensch ist ganz in demselben Falle, aber das eine jener fünf, sein Grosshirnhemisphärenbewusstsein, hat sich so einzigartig vor allen anderen entwickelt, und letzteren gegenüber so sehr eine herrschende Stellung erobert, dass es nicht nur qualitativ wie quantitativ den Haupttheil des psychischen Lebens im menschlichen Individuum in sich schliesst, sondern auch durch sein Principat in der Herrschaft über die Bewegungsmuskeln zu dem psychischen Gegenbild der organischen Einheit der menschlichen Individualität geworden ist. Diese Verhältnisse verkennt Wundt vollständig, wenn er den falschen Satz aufstellt, dass das Bewusstsein eines zusammenhängenden Nervensystems allemal ein einheitliches sein müsse, und dass deshalb innerhalb eines Nervensystems verschiedene einander co- oder subordinirte Arten von Bewusstsein unmöglich angenommen werden könnten (714 oben, 715 unten).

Es wurde schon oben erwähnt, dass das Vorderhirn ursprünglich[419] Geruchsganglion ist; noch beim menschlichen Embryo geht die Entwickelung der nervösen Anlage des Geruchsorgans von dem vordersten Hirnbläschen aus. Schon bei den Knorpelfischen ist das Geruchsorgan mächtig entwickelt, und sendet das Vorderhirn zwei »Riechlappen« nach vorn als Verlängerung aus, welche sich bei vielen höheren Wirbelthieren zu einem »Riechkolben« zusammenschliessen. Beim Menschen, wo nicht nur die Hemisphären als Organ der Vorstellungsthätigkeit eine alles überwuchernde Grösse erlangt haben, sondern auch der Geruchssinn an und für sich gegen die anderen Sinne zurücktritt, ist auch das Riechcentrum von bescheidener Grösse, und liegt ziemlich versteckt im basalen Theil des Streifenhügelkopfes. Der Umstand, dass hier sowohl Faserzüge des Riechnerven als auch motorische Faserbündel des Hirnschenkelfusses münden, lässt darauf schliessen, dass von dieser Stelle aus diejenigen Reflexe vermittelt werden, welche auf Geruchs eindrücke ausgelöst werden (W. 202).

Die übrige Masse der Streifenhügel sammt dem Linsenkern sind als Durchgangspunkte für die Leitung der Willensimpulse von den Hemisphärenlappen zu den Muskeln zu betrachten (W. 203.) Dies wird sowohl durch Vivisectionen, wie durch pathologische Befunde am Menschen wie auch durch die Parallelität der Entwickelung der Hemisphären und Streifenhügel im Thierreich bestätigt. Die lähmungsartigen Bewegungsstörungen nach Schlaganfällen rühren sehr häufig von apoplektischen Functionshemmungen in den Streifenhügeln her, und ist beim Menschen das Resultat bei Erkrankung der Streifenhügel und der motorischen Partien der Hemisphären ziemlich das Gleiche, nur dass letztere leichter ausgeglichen wird. Die Streifenhügel werden mithin (abgesehen von dem Riechcentrum) als Coordinationscentra für die (von den Hemisphären veranlassten) willkürlichen Bewegungen zu bezeichnen sein; sie führen auf einen einfachen Willensimpuls combinirte Bewegungen aus, deren Combinationsmodus theils angeboren, theils durch Uebung erworben sein kann, die aber immer noch als willkürliche Bewegungen empfunden werden, insofern die Hemisphären sich ihres Innervationsimpulses bewusst, und bloss der vermittelnden Functionen zur Ausführung des Befehls nicht bewusst sind.

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S. 417 Z. 15. Es ist neuerdings auf dem Gebiete der Physiologie der Grosshirnrinde sehr viel experimentirt worden, aber die Ergebnisse dieser Arbeiten sind keineswegs so zweifellos, wie sie von manchen Seiten hingestellt werden. Erstens sind die Störungen des Gesammtbefindens der Versuchsthiere meistens so gross, dass dieselben bei den Versuchen unter ganz abnormen Verhältnissen stehen, und zweitens gehen alle Eingriffe in ihren indirecten Wirkungen tiefer als auf die graue Rinde, so dass man nicht wissen kann, welche Folgen aus der Affection der grauen Rindensubstanz, und welche aus der Mitleidenschaft der tiefer liegenden Theile entspringen, insbesondere aus derjenigen der in der Nähe liegenden Nerveninsertionsstellen. Die Möglichkeit bleibt auch jetzt noch offen, dass alle Theile der Grosshirnrinde zu allen Hirnfunctionen gleich brauchbar und verwendbar sind, und dass die Langsamkeit des vicarirenden Füreinandereintretens nach localen Verletzungen nur durch die experimentell hervorgerufenen Gesundheitsstörungen und Schädigungen von Nerveneinsätzen hervorgerufen ist. (Vgl. F. Goltz »Ueber die moderne Phrenologie« in der »deutschen Rundschau« Jahrgang XII, Heft 2-3, November und December 1885.) Andererseits ist es a priori nicht unwahrscheinlich, dass diejenigen Theile der Grosshirnrinde, welche bestimmten Nerveneinsätzen zunächst liegen, sich auch auf die diesen Nerven entsprechenden Functionen vorzugsweise eingeübt haben.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 416-420.
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