9. Das Kleinhirn

[413] Die Auffassung der Functionen des Kleinhirns lässt noch immer manchen Zweifeln Raum. Dass die Meinung Gall's von einer näheren Beziehung desselben zu den Geschlechtsfunctionen unrichtig ist, steht fest; das Centrum für letztere ist vielmehr noch im verlängerten Mark zu suchen36. Dagegen zeigt der durch das ganze Wirbelthierreich zu verfolgende Parallelismus in der Entwickelung der Körpermuskulatur und des Kleinhirns, dass dieses Organ für eine energische Innervation der Muskeln von Bedeutung sein muss, und dass die Muskeln unter normalen Verhältnissen einen beträchtlichen Theil ihrer Innervationsimpulse aus dem Kleinhirn beziehen. Dies berechtigt aber nicht, das Kleinhirn mit Luys als die Kraftquelle aller motorischen Innervation zu bezeichnen, da auch nach Zerstörung des Kleinhirns noch ganz energische Bewegungen von allen übrigen Centren aus hervorgebracht werden, und diese letzteren den Verlust des Kleinhirns bis zu einem gewissen Grade ausgleichen können.

Was wir am sichersten vom Kleinhirn wissen, weil wir es nicht durch Vivisectionen, sondern auch durch die mannigfachsten Experimente am lebenden Menschen demonstriren können, ist die Thatsache, dass es das Organ des Schwindels in allen seinen Gestalten ist. Der Schwindel kann durch einseitige Verletzungen des Organs, durch einseitigen Druck auf dasselbe, durchquere Durchleitung[413] eines galvanischen Stromes, endlich durch bewegte Gesichtswahrnehmungen, ja sogar durch blosse Phantasievorstellungen möglicher Bewegungen, welche an gewisse Gesichtswahrnehmungen anknüpfen, hervorgerufen werden. Der Schwindel ist bekanntlich eine der Willkür, d.h. dem Grosshirnhemisphärenwillen, nicht unterworfene Erscheinung, welche sich als Störung der unwillkürlichen Regulation der Körperbewegungen darstellt. Indem die einseitige Störung der Kleinhirnfunction einseitige Empfindungsstörungen in beiden Augen hervorbringt (auch hier ist die Leitungskreuzung eine partielle in demselben Sinne wie bei den Vierhügeln), erzeugt sie eine veränderte Vorstellung von der Lage des Auges, und dadurch eine Scheinbewegung der Objecte, zu welcher bei höheren Graden des Schwindels Verdunkelung des Gesichtsfelds hinzutritt. Da das Organ weiter functionirt und sich bemüht, die Körperhaltung den Empfindungen anzupassen, so muss, wenn die Empfindungen pathologisch gefälscht sind, auch diese Anpassung zu objectiv verkehrten Muskelbewegungen führen, und dies sind die Drehbewegungen, welche das Gefolge jedes Schwindels bilden, wenn auch bei den schwächsten Schwindel graden die betreffenden Innervationsimpulse des Kleinhirns durch entgegengesetzte des Grosshirns paralysirt werden können (W. 207-221).

Fragen wir nun, wie grade das Gehörsganglion dazu gekommen ist, von allen Centralorganen, welche der Regulation der Körperbewegungen nach ihrer Lage im Raume dienen, das wichtigste zu werden, so dürfte der Schlüssel zu diesem Räthsel darin liegen, dass der specifische Gleichgewichtssinn mit dem Gehörsorgan in engster Verbindung steht, und deshalb auch für seine centrale Vertretung in erster Reihe auf dasselbe Ganglion, wie der Gehörssinn, angewiesen war. Dieser Gleichgewichtssinn besteht in den drei halbcirkelförmigen Kanälen, welche als ein Manometer für den inneren hydrostatischen Druck nach den drei aufeinander senkrechten Axen bezeichnet werden müssen, und deren Verletzung die nämlichen Schwindelerscheinungen und Drehbewegungen hervorruft, wie diejenige des Kleinhirns selbst. Dieses Gleichgewichtsorgan orientirt zunächst über die Haltung des Kopfes zur Richtung der Schwere, und da die Körperhaltung im Verhältniss zum Kopfe durch Tastempfindungen bestimmt ist, indirect über die Gesammtlage des Körpers. Es ist, klar, dass dieser Gleichgewichtssinn sich nur Hand in Hand mit der Entwickelung des correspondirenden Centrums ausbilden konnte, und dass diese correlative Entwickelung des[414] Kleinhirns in der Entfaltung von Reflexdispositionen behufs Regulirung der Körperhaltung nach der Gleichgewichtsempfindung bestehen musste. So überwucherte die Entfaltung des Centrums für den Gleichgewichtssinn bald die des Centrums für den Gehörssinn im Hinterhirn, und während der Gehörssinn wahrscheinlich schon ziemlich frühzeitig eine zweite centrale Vertretung im Vorderhirn fand setzte sich das Gleichgewichtscentrum mit anderweitigen unterstützenden Hülfsmitteln zur Erfüllung seiner Aufgabe, also in erster Reihe mit dem Leitungsstrange der Nerven des Tastsinns aus dem ganzen Körper, in zweiter Reihe mit dem Gesichstsinn in Verbindung.

Aus diesem Zusammenhang ergibt sich auch eine Erklärung dafür, dass bei den im Wasser und in der Luft lebenden Wirbelthieren die Entwickelung des Kleinhirns im Ganzen bedeutender ist, als bei den auf dem Erdboden lebenden Landthieren; denn beim Kriechen und Gehen bietet der Tastsinn im Anschluss an die horizontale Bodenfläche allein schon einen ziemlichen Anhalt, welcher die Regulirung nach dem Gleichgewichtssinn minder dringlich erscheinen lässt, aber beim Fliegen und ganz besonders beim Schwimmen in der Tiefe liefert der Gleichgewichtssinn die hauptsächliche, wo nicht alleinige Grundlage der Regulation.

Beim Menschen zeigt sich der ursprüngliche Zusammenhang von Kleinhirn und Gehörssinn eigentlich nur noch in zwei Punkten: erstens darin, dass die nervöse Anlage des Gehörsorgans sich im Embryo aus dem Hinterhirnbläschen entwickelt, und zweitens darin, dass der durch das Ohr aufgenommene musikalische Rhythmus unwillkürlich zu rhythmischen Bewegungen drängt. Man wird nicht fehlgreifen, wenn man das Kleinhirn als das Centrum des Tanzes bezeichnet, und die Thatsache, dass eine ermüdete Truppe beim Einsetzen der Militärmusik mit neuer Elasticität weitermarschirt, erklärt sich daraus, dass an Stelle des ermüdeten Grosshirns, der Streifenhügel und Sehhügel, nunmehr vorzugsweise das Kleinhirn als frisches Organ die Innervation der Muskeln übernimmt. Obwohl fast alle Sinne eine ziemlich vollständige centrale Vertretung im Kleinhirn zu besitzen scheinen, wird doch durch Zerstörung desselben die Sinneswahrnehmung der Grosshirnhemisphären nicht alterirt; es beweist dies, dass letztere keine Gattung von Sinneswahrnehmungen (auch nicht die des Gehörs) durch die Vermittelung des Kleinhirns in dem Sinne beziehen, wie sie die Gesichtswahrnehmungen durch die Vermittelung der Vierhügel beziehen.[415]

Die Kleinhirnhemisphären sind ausser den Grosshirnhemisphären das einzige Centrum, welches eine Rindenschicht von grauer Substanz entwickelt hat, und dieser Umstand deutet darauf hin, dass der Uebergang von der compakten Kernformation zu der einer flächenförmigen Ausbreitung in beiden Fällen dem gleichen Zwecke dient. Dieser Zweck kann nur die Abspiegelung der Körperprovinzen in Provinzen der grauen Rindenschicht sein. Ein compakter Kern ist mehr zur einheitlichen Zusammenfassung peripherisch einströmender Eindrücke geeignet; wo es sich aber darum handelt, die isolirte Action auf jede einzelne Provinz des ganzen Körpers vorzubereiten, da wird eine flächenförmige Ausbreitung der agirenden Schicht für das gesonderte Auseinanderhalten der motorischen Innervation verschiedener Bezirke für eine geeignetere Formation gelten müssen, als die gedrungene und die Sonderung der einzelnen Theile erschwerende Gestalt eines Kernes. Obwohl es bisher nicht gelungen ist, die Abspiegelung der Körperprovinzen in der Kleinhirnrinde nachzuweisen, werden wir dieselbe doch annehmen müssen, gestützt auf die Analogie der Grosshirnrinde, wo dieser Nachweis für einzelne Theile kürzlich stattgefunden hat.

Ob mit den besprochenen Leistungen des Kleinhirns die Functionen desselben wirklich erschöpft sind, muss mindestens dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist es im Wirbelthierreich das am frühesten entwickelte, und selbst beim Menschen nächst dem Vorderhirn das am höchsten entwickelte Centrum, und es wäre gewiss voreilig, zu behaupten, dass unsere Kenntnisse schon gegenwärtig den Zweck dieses Organs erschöpft hätten.

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Longet, Anatomie und Physiologie des Nervensystems, I. S. 615.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 413-416.
Lizenz:
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Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
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