8. Die Centra der räumlichen Sinne

[410] Am längsten und sichersten bekannt von allen Hirntheilen ist die Function des Mittelhirns oder der Vierhügel (bei niederen Wirbelthieren Zweihügel genannt). Schon die Parallelität der Ausbildung der Vierhügel mit der Schärfe des Gesichtssinns im Thierreich lässt darauf schliessen, dass dieses Centrum die Aufgabe hat, die Gesichtseindrücke zu verarbeiten, und diejenigen Bewegungen reflectorisch hervorzurufen, welche mit den Gesichtseindrücken in Beziehung stehen. Zerstörung der Vierhügel bewirkt nicht nur Blindheit, sondern auch Lähmung der Augenbewegung und Accommodation; man muss also annehmen, dass die Grosshirnhemisphären die Gesichtswahrnehmungen erst in der durch die Vierhügel vorbereiteten Form der Bearbeitung empfangen, und dass nur diejenigen Bewegungen, welche durch ein Zusammenwirken von Gesichts- und anderen Sinneseindrücken motivirt werden, von den Hemisphären ausgehen, dass aber solche Bewegungen oder Modificationen andauernden Bewegungsvorgängen, welche ausschliesslich durch Gesichtseindrücke bestimmt werden, in der Hauptsache von den Vierhügeln selbstständig besorgt werden. Die Accommodation der Augen wird von den hinteren Vierhügeln geleitet, die Augenbewegungen von den vorderen, und zwar soll nach Adamük Reizung des rechten vorderen Vierhügels Linkswendung, des linken Rechtswendung beider Augen bewirken. Die Reizung des vorderen Umfangs stellt die Blicklinien horizontal, die des mittleren Theils nach oben und convergirend, die des hintersten Theils nach unten noch stärker convergirend (W. 147).

Nicht ganz so sicher constatirt ist die Bedeutung der (unpassend mit diesem Namen belegten) Sehhügel oder des Zwischenhirns. Wundt (198) betrachtet dieselben wohl mit Recht als das Tastcentrum nach Analogie des eben besprochenen Gesichtscentrums, d.h. als das Organ, welches »die functionelle Verbindung der Ortsbewegungen mit den Tastempfindungen« (vielleicht auch mit dem Muskelsinn oder specifischen Muskelbewegungsgefühl) vermittelt. Auch die Sehhügel functioniren unabhängig vom Grosshirnhemisphärenwillen als selbstständige Regulatoren, wodurch freilich nicht ausgeschlossen ist, dass nicht auch der Hemisphärenwille sich ihrer bedienen könne, um auf gegebenen Befehl complicirtere Bewegungen von ihnen ausführen zu lassen. Jedenfalls müssen dieselben bei allen auch durch anderweitige Vermittelung vom Hemisphärenwillen angeregten Körperbewegungen als Regulatoren mitwirken, ohne[410] welche der Bewegung das Maass im Ganzen und in ihren sie zusammensetzenden Theilbewegungen fehlt. Wir müssen nämlich das Maass unserer einzelnen Muskelcontractionen immer nach der Lage richten, welche die betreffenden Muskeln in jedem Augenblick zu den übrigen Körpertheilen einnehmen, diese Lage aber wird uns durch den Tastsinn vermittelt. Ist diese Vermittelung unterbrochen, so kann höchstens noch der Gesichtssinn für den Tastsinn vicarirend eintreten, wie bei einem an Rückenmarkschwindsucht Leidenden, dem das Tastgefühl der unteren Gliedmassen verloren gegangen ist, oder bei einer Frau mit Anästhesie eines Armes, welche ihr Kind aus dem Arm verlor, wenn sie den Blick davon abwendete. Der Ersatz durch den Gesichtssinn ist hier immer unvollkommen und erreicht nie die unmittelbare reflectorische Sicherheit wie die Regulirung durch den Tastsinn, welche die Sehhügel ausführen. Verletzt man den Sehhügel einer Seite, so wird diese reflectorische Regulirung vorwiegend für eine Körperhälfte zerstört; während nun die Muskeln der einen Körperhälfte richtig agiren, sind die der andern von einer plötzlichen Unbehülflichkeit befallen, welche einer Lähmung täuschend ähnlich sieht, ohne doch Lähmung zu sein, und das Resultat ist eine unsymmetrische Locomotion, welche man wegen ihrer Tendenz zur Körperdrehung »Reitbahnbewegung« genannt hat (W. 196-199). Dass eine wirkliche Lähmung nicht vorliegt, ergibt sich daraus, dass mit der Zeit die Störung sich dadurch ausgleicht, dass der Hemisphärenwille die falschen Bewegungen corrigiren lernt. Die zweckmässigen Fluchtbewegungen, welche Kaninchen oder Frösche nach Fortnahme der Hemisphären und Streifenhügel auf Hautreize ausführen, dürften auf die Sehhügel als Centrum zurückzuführen sein; eine Bestätigung für diese Annahme liegt darin, dass ein solcher Frosch nach Verletzung eines Sehhügels die betreffenden Fluchtversuche in Reitbahnbewegung ausführt.

Die enge Aneinanderlagerung der Vierhügel und Sehhügel, die nachweislichen Leitungswege zwischen beiden, und der Umstand, dass bei niederen Wirbelthieren (z.B. Fröschen) die Sehhügel unbedeutend entwickelt sind, und ihre Functionen theilweise von den Vierhügeln mitversehen werden, scheint auf eine nähere Zusammengehörigkeit beider Centra hinzudeuten, welche der nahen Verwandtschaft des Gesichts- und Tastsinns entsprechen würde. Beide sind die einzigen räumlichen, d.h. ihre Empfindungen räumlich ausbreitenden Sinne, welche wir besitzen, und es scheint mir die Vermuthung nicht unbegründet, dass die ideelle Verschmelzung von[411] Tastraum und Gesichtsraum zum einheitlichen Wahrnehmungsraum, welche wir unbewusst vorzunehmen gewohnt sind, hier eine ähnliche physiologische Grundlage haben dürfte, wie die Verschmelzung des Gesichtsraums des rechten Auges mit dem des linken Auges zu einem einheitlichen Gesichtsraum sie in dem Chiasma der Sehnerven besitzt. Ebenso ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Vereinigung der Vierhügel mit den Sehhügeln gewisse Bewegungen selbstständig einzuleiten vermag, die sich als Reflexe auf solche räumliche Wahrnehmungen bezeichnen lassen, welche aus Gesichts- und Tastempfindungen combinirt sind.

Diese Annahmen werden kaum noch Anstoss erregen können, sobald man sich daran erinnert, dass die linke Hälfte der Vierhügel nur die linke Hälfte des binocularen Gesichtsbildes, und die rechte Hälfte nur die entsprechende rechte enthält, so dass beide Hälften des Bildes erst durch Cooperation beider Hälften des Organes zur Verschmelzung in ein einheitliches und ganzes Bild gebracht werden können. Endlich werden diese Vermuthungen auch dadurch unterstützt, dass für die Regulirung der Lage der einzelnen Körpertheile im Raum noch ein zweites Organ, das Hinterhirn oder Kleinhirn, vorhanden ist, welches zwar auch von den anderen Sinnesorganen (besonders Gehörs- und Gleichgewichtssinn und Gesichtssinn) beeinflusst wird, vorzugsweise aber gleichfalls durch den Tastsinn in seinen Functionen bestimmt wird. Es begreift sich aus dieser über den ursprünglichen Zweck als Gehörsganglion hinausgreifenden Entwickelung des Hinterhirns, dass das Zwischenhirn oder die Sehhügel ohne Nachtheil für den Organismus in ihrer Entwickelung bei den meisten Thieren zurückbleiben durften; es würde aber unseren Ansichten über die zweckvolle Oekonomie des Organismus nicht entsprechen, wenn zwei Organe zur Erfüllung eines Zweckes vorhanden wären. Wir werden vielmehr annehmen dürfen, dass die Perceptionen des Tastsinnes, welche in den Sehhügeln, und diejenigen, welche in dem Kleinhirn zu Stande kommen, in ganz verschiedener Weise verwendet werden. Während im Kleinhirn die Tasteindrücke vor Allem mit denen des Gleichgewichtssinns combinirt werden, um so eine möglichst vollständige Gesammtperception der Lage des ganzen Körpers und seiner einzelnen Theile im Raume zu gewinnen, scheint in den Sehhügeln die Anschauung des Tastraumes für die Perception der Grosshirnhemisphären – in ähnlicher Weise, wie in den Vierhügeln die des Gesichtsraums – vorbereitet, und noch vor dem Eintritt in die Hemisphären zu dem einheitlichen Tast-Gesichtsraum[412] verschmolzen zu werden. Wenn diese Auffassung richtig ist, so erklärt sie auch, warum das Hemisphärenbewusstsein sich ausser Stande fühlt, die Verschmelzung von Tastraum und Gesichtsraum wieder aufzulösen, obwohl es in der abstracten Reflexion die Heterogenität und Zweiheit beider Räume als zweifellos erkennt: wäre diese Verschmelzung ein Produkt erst der Hemisphärenthätigkeit, so würde es wahrscheinlich keine besonderen Schwierigkeiten haben, die beiden Elemente derselben auch für die Anschauung wieder zu sondern. Das Gleiche gilt für die Unmöglichkeit, die Flächenausbreitung der Gesichtswahrnehmung in ihre unräumlichen Empfindungselemente zurück zu zerlegen, wohingegen die Möglichkeit dieses Processes bei der dritten oder Tiefendimension des Raumes dafür spricht, dass der Haupttheil der Genesis der Tiefenanschauung erst in den Hemisphären zu Stande kommt.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 410-413.
Lizenz:
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Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
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