7. Die morphologische Bedeutung der Gehirntheile

[406] Die morphologische Deutung der verschiedenen Theile des Gehirns hat erst durch das Zusammenwirken der Embryologie mit der vergleichenden Anatomie eine sichere Grundlage erhalten und ist zuerst von Baer klarer erkannt worden. Bei niederen Würmern z.B. Strudelwürmern, besteht das ganze centrale Nervensystem aus[406] dem oberen Schlundganglien-Paar, von welchem Nervenfäden an die verschiedenen Körpertheile ausstrahlen. Bei den Ringelwürmern und Gliederthieren hat sich dieser obere Schlundknoten zu einem Schlundring erweitert, und dieser zu einem Bauchmark verlängert; bei den Larven der Ascidien, beim Amphioxus und den Wirbelthieren hat sich dagegen der obere Schlundknoten zum Rückenmark verlängert. Bei der Ascidienlarve und dem Amphioxus ist das Rückenmark noch ein einfacher, gleichförmiger Strang, der vorn ebenso zu enden scheint, wie hinten, und nur bei genauerer Beobachtung vom eine schwache, blasenförmige Auftreibung erkennen lässt. Bei den Cyclostomen (Myxine und Petromyzon) schwillt bei der weiteren Entwickelung des Embryo's diese Blase birnförmig an, und bildet so die Uranlage des Wirbelthiergehirns; dann aber differenzirt sie sich durchquere Einschnürungen in mehrere in grader Linie hinter einander liegende Blasen, und dieser Einschnürungsprocess kehrt in der embryonischen Entwickelung aller Wirbelthiere ohne Ausnahme wieder.

Zunächst bilden sich drei Abschnitte: Vorderhirn, Mittelhirn und Hinterhirn; das erste ist als das Geruchsganglion, das zweite als das Gesichtsganglion, das dritte als das Gehörsganglion zu bezeichnen. Aber bald tritt eine weitere Differenzirung ein, indem vom Vorderhirn das Zwischenhirn, und vom Hinterhirn das Nachhirn abgeschnürt wird; ersteres würde als das feinere Organ für die Wahrnehmungen des Tastsinns, letzteres als das Centrum für die automatische Regulirung complicirterer organischer Functionen, die zum Leben nothwendig sind, angesprochen werden dürfen. Bei den Cyclostomen erhalten sich diese fünf gradlinig hintereinander liegenden und ziemlich gleichwerthigen Abschnitte ohne wesentliche Formveränderung; bei den Knorpelfischen entwickeln sich überwiegend Mittelhirn und Nachhirn, bei den höheren Wirbelthieren dagegen Vorderhirn und Hinterhirn, so dass ersteres das Zwischen- und Mittelhirn, letzteres das Nachhirn überdeckt. Ein Unterschied ähnlicher Art findet wieder zwischen den Reptilien und Vögeln einerseits und den Säugethieren andrerseits statt; bei ersteren erfährt das Mittelhirn und der mittlere Theil des Kleinhirns eine relativ starke Ausbildung, bei letzteren überwuchert mehr und mehr das Vorderhirn alle übrigen Theile, so dass es zuletzt bei Affen und Menschen selbst das Hinterhirn überdeckt.35[407]

Im menschlichen Gehirn gehören zum Vorderhirn die beiden Grosshirnhemisphären, Streifenhügel, Balken und Gewölbe; zum Zwischenhirn die Sehhügel und die übrigen Theile, welche die sogenannte dritte Hirnhöhle umgeben, nebst Trichter und Zirbel; zum Mittelhirn die Vierhügel und die Sylvische Wasserleitung, zum Hinterhirn die Kleinhirnhemisphären und der mittlere Wurm, zum Nachhirn das verlängerte Mark nebst der Rautengrube, den Pyramiden, Oliven u.s.w. Die ursprünglichen Functionen der fünf Theile haben sich für das Zwischenhirn, Mittelhirn und Nachhirn unverändert erhalten; dagegen hat das Hinterhirn oder Kleinhirn schon bei den Amphibien und niederen Säugethieren seinen Functionsbereich beträchtlich erweitert, und das Vorderhirn oder Grosshirn ist bei den höheren Säugethieren zu einer so universellen Bedeutung für alle Wahrnehmungsfunctionen gelangt, dass seine ursprüngliche Bestimmung als Geruchscentrum auf einen verschwindend kleinen Raum zurückgedrängt ist.

Nach Versuchen von Gudden blieb das Gehirn neugeborener Vögel, denen er die Augen exstirpirt hatte, unentwickelt, während bei Kaninchen die Gehirnentwickelung nicht dadurch gehemmt wurde (Wundt, 194); dies beweist, eine wie viel wichtigere Rolle, die durch den Gesichtssinn angeregte Function der Vierhügel im geistigen Leben der Vögel als in dem der Säugethiere spielt. Wenn man dagegen neugeborenen Hunden den Geruchsnerv durchschneidet, so sind sie keiner intellectuellen und gemüthlichen Entwickelung mehr fähig und machen den Eindruck theilnahmloser und schwachsinniger Individuen; dies beweist, wie sehr das geistige Leben dieser Säugethiere vom Geruchssinn abhängt.

Erwägen wir nun, dass die vom Mittelhirn und Vorderhirn entfaltete Intelligenz, wie wir im vorhergehenden Abschnitt sahen, nur eine graduell verschiedene ist, so könnte es gewissermaassen als zufällig erscheinen, dass grade das Vorderhirn oder das Geruchsganglion, und nicht das Tast-, Gesichts- oder Gehörsganglion bei den höheren Wirbelthieren einen so überwiegenden Grad von Ausbildung erlangt hat, dass die zu dem ursprünglichen Geruchsganglion hinzugetretenen Gruppen von Ganglienzellen zugleich zu einer Art von universellem Centrum geworden sind, in welchem ausser dem Geruchsorgan auch die übrigen Sinnesorgane, ja sogar alle Körpertheile und die niederen Centra eine centrale Vertretung finden. Die Wichtigkeit des Geruchsorgans für das Leben würde allein genommen hierfür kaum ein genügender Erklärungsgrund sein; belangreicher scheint die Erwägung,[408] dass das Vorderhirn eine dem Rückenmark und verlängerten Mark polar entgegengesetzte Lage hat, dass es in Bezug auf den Mittelpunkt oder Schwerpunkt des centralen Nervensystems geradezu peripherisch liegt. Dies klingt vielleicht paradox, hat aber einen um so tieferen Sinn. Wie das ganze Nervensystem phylogenetisch und embryologisch aus dem Hautsinnesblatt, d.h. aus der äussersten Peripherie des Organismus abstammt, so muss auch derjenige Theil des centralen Nervensystems, welcher in das geistige Centrum des Selbstbewusstseins einführt, für den Organismus als solchen und sein organisches Leben eine peripherische Bedeutung haben.

Für den Organismus als solchen liegt der Schwerpunkt des centralen Nervensystems weder in dem zu wenig leistungsfähigen Rückenmark, noch in den Grosshirnhemisphären, in welchen die hervorbrechende bewusstgeistige Zweckthätigkeit bereits als ein über die unmittelbaren Zwecke des organischen Lebens Hinausführendes sich enthüllt, sondern in den zwischen Vorderhirn und Rückenmark gelegenen Theilen, welche die universellen Reflexvorgänge des Organismus leiten und die Lebensverrichtungen desselben den durch die Sinneswahrnehmungen abgespiegelten äusseren Umständen anpassen. Dieses Verhältniss findet auch darin einen anatomischen Ausdruck, dass in dem Hirnstamm und dem Rückenmark die Ganglienzellengruppen sich zu centralen Markmassen zusammenlagern, welche in peripherischer Richtung Leitungsfasern ausstrahlen; in den Hemisphären aber bildet die graue Masse eine äussere Rindenschicht, zu welcher die Leitungsbahnen von dem Hirnstamm in divergirender Richtung hinführen. Dieser Gegensatz ist an dem mehr soliden oder wenig ausgehöhlten Grosshirn der Fische und Amphibien noch nicht klar entwickelt; hier ist noch die ganze Masse der Hemisphären von grauer Substanz in unregelmässig vertheilter Weise durchsetzt, so dass man eine Uebergangsstufe von der Kern- zur Rindenformation vor sich hat. Die Kleinhirnhemisphären zeigen dagegen schon bei Fischen eine deutlichere Sonderung der Rindenschicht vom Kern (vgl. W. 55-56 Anm.), und diese das Grosshirn übersteigende Entwickelung des Kleinhirns beweist, dass letzteres bei diesen Thieren auch Functionen von höherer Ordnung als ersteres zu verrichten hat.

Nachdem wir die Functionen des Nachhirns oder verlängerten Marks schon im vorigen Abschnitt in aller Kürze erörtert, gehen wir nunmehr zu der Besprechung der übrigen vier Hirntheile im Einzelnen über.[409]

35

Vgl. Haeckels Anthropogenie S. 514-529.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 406-410.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
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Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
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