6. Die vier Hauptstufen von Nervencentren

[396] »Wenn wir das menschliche Nervensystem näher betrachten, müssen wir zuvörderst verschiedene Nervencentren unterscheiden und zwar:

1) Die primären oder Vorstellungscentren, gebildet von der grauen Substanz der Hemisphärenwindungen.

2) Die secundären oder Sinnescentren, gebildet von den Anhäufungen von grauer Substanz zwischen der Decussation der Pyramiden und dem Boden der Seitenventrikel.[396]

3) Die tertiären oder Centren für die Reflexthätigkeit, hauptsächlich von der grauen Substanz des Rückenmarks gebildet.

4) Die organischen (vegetativen) Nervencentren, die zum sympathischen Nervensystem gehören. Diese bestehen aus einer grossen Anzahl gangliöser Gebilde, die vorzüglich durch die Eingeweide verbreitet sind, und unter einander und mit dem Rückenmark durch leitende Fasern in Verbindung stehen.«

»Jedes einzelne dieser Centren ist dem unmittelbar über ihm stehenden höheren untergeordnet, zugleich aber auch fähig, gewisse Bewegungen selbst zu veranlassen und auszuführen, ohne Vermittelung der über ihm stehenden höheren Centren. Die Organisation ist eine solche, dass eine vollständig unabhängige locale Thätigkeit vereinbar ist mit der Herrschaft einer höheren Autorität. Eine Ganglienzelle des Sympathicus coordinirt die Leistungen der verschiedenen Gewebselemente des Organes, in dem sie liegt, und stellt so die einfachste Form des Princips der Individuation dar. Durch die Ganglien des Rückenmarks werden die Leistungen der verschiedenen organischen (vegetativen) Centren so coordinirt, dass sie einen untergeordneten, aber doch wesentlichen Platz unter den Bewegungen des animalen Lebens einnehmen, und hierin gibt sich eine weitere und höhere Individuation kund. In analoger Weise stehen die Rückenmarkscentren unter der Aufsicht der Sinnescentren, und diese sind wiederum der controlirenden Thätigkeit der Hemisphären und speciell dem Willen untergeordnet, welcher die höchste Entfaltung des Princips der Individuation darstellt« (Maudsley S. 53-54).

An obiger Eintheilung wäre zweierlei zu erinnern: erstens, dass die Reihenfolge besser eine umgekehrte wäre, und die Benennung der »primären Centren« vielmehr den vegetativen Ganglien zukäme, und zweitens, dass die Bezeichnung der Rückenmarkscentra als Reflexcentra irreleitend ist, da auch die vegetativen und Sinnes- und Vorstellungscentra nur reflectorisch thätig sind, wie bereits erörtert. Ausserdem ist festzuhalten, dass die Differenzen zwischen den Ganglienzellen der verschiedenen Centra nur graduelle sind, welche sich durch Differenzirung aus den allgemeinen Anlagen der Ganglienzelle in der Stufenreihe des Thierreichs erst herausgebildet haben, und dass diese allgemeine Anlage jeder einzelnen Ganglienzelle – trotz noch so einseitiger Ausbildung nach einer bestimmten Richtung – erhalten geblieben ist. Es gibt in den Ganglienzellen ebenso wie in den Nervenfasern specifische Energien im Sinne imprägnirter[397] Dispositionen zu bestimmten Functionen; aber hier wie dort ist diese Specification nur relativ, nicht absolut, und überall bewegt sie sich in dem durch die allgemeine Natur der Ganglienzelle vorgezeichneten Rahmen: Reiz und Reaction, Perception und Wille.

Der Relativität der specifischen Energien der Ganglienzellen entsprechend ist auch der Uebergang von den Centren der einen Gattung zu denen der anderen ein mehr stufenweiser als plötzlicher. Wenn die Ganglien eines ausgeschnittenen Froschherzens dasselbe noch stundenlang zum Schlagen anregen, und auf einen Reiz mit einer rhythmischen Contraction reagiren, so scheint in der That mehr die verschiedene Lage im Körper, als die specifische Reflexenergie den Unterschied dieser Ganglien von den niedriger gelegenen Centren des Rückenmarks auszumachen. Zwischen dem Rückenmark und den Sinnesganglien des Gehirns bildet eine Art Uebergangsstufe das verlängerte Mark, welches nach seiner Entwickelungsgeschichte zwar zum Gehirn gehört, functionell aber dem Rückenmark bei weitem näher steht. Der mit dem Aufwärtssteigen im Rückenmark zunehmende Umfang der motorischen Innervationssphäre wird beim verlängerten Mark besonders auffällig; dasselbe zeichnet sich ausserdem vor den übrigen Rückenmarksreflexen durch künstlichere Combination zahlreicher Bewegungen zur Erzielung bestimmter Effecte aus, »wobei die Art der Combination oft durch eine Selbstregulirung zu Stande kommt, die in der wechselseitigen Beziehung mehrerer Reflexmechanismen begründet liegt« (Wundt 178). Im Rückenmark sind die Ganglienzellen der verschiedenen Höhenlagen ziemlich gleichmässig in den vier Säulen des grauen Marks geordnet; erst im verlängerten Mark wird diese gleichmässige Vertheilung unterbrochen, indem sich grössere Gruppen von Ganglienzellen zu in sich geschlossenen, nach aussen gegen ihre unmittelbare Nachbarschaft deutlicher isolirten Kernen zusammenschliessen, welche sowohl unter sich, wie nach oben und unten hin durch Leitungsfasern verbunden sind. Solche Kerne dienen dann bestimmten Gruppen von complicirteren Bewegungsvorgängen, die z. Th., wie die Regulirung des Herzschlags und der Athmung, dauernde rhythmische Functionen sind, welche denjenigen der vegetativen Ganglien (z.B. Darmbewegung, Tonus der Gefässe) nahe stehen. Durch die Verbindung zweier oder mehrerer Reflexcentra unter einander wird eine alternirende Wirksamkeit ermöglicht, z.B. zwischen einem Centrum der Inspiration, und einem anderen der Exspiration (181);[398] ersteres wird (wie die meisten der sogenannten automatischen Functionen niederer Centra) durch den Reiz mangelhaft gelüfteten Blutes, letzteres durch die von den sensiblen Nerven übermittelte Empfindung des Aufgeblähtseins der Lunge angeregt (W. 177). Aehnlich nimmt Wundt im verlängerten Mark besondere Centra an für die Beschleunigung des Herzschlags und für seine Verlangsamung und Hemmung, für die Erweiterung der Gefässe und für ihre Verengerung (185), für das Erbrechen, für den Schlucktakt, und endlich für Husten und Niesen, welche schon zu den mimischen Reflexen des Lachens, Weinens, Schluchzens u.s.w. hinüberführen (176 u. 178). Bei letzteren wirken bereits Reflexe der Sinnesganglien mit denen des verlängerten Marks zu einer combinirten einheitlichen Aktion zusammen.

Diejenigen Centra, welche Maudsley unter dem Namen der Sinnescentra zusammenfasst (obschon dieser Name auf das mit darunter befasste Kleinhirn nicht vollständig passen will), bilden bei vielen niederen Thieren, bei denen das Vorderhirn (oder Grosshirn) wesentlich nur als Geruchsganglion fungirt, die höchste Entwickelungsstufe des centralen Nervensystems, welche ihren Lebenszwecken vollkommen genügt. Diese Thiere bewegen sich ungefähr mit derselben Sicherheit und accommodiren ihre Verrichtungen mit derselben Zweckmässigkeit den sinnlich wahrnehmbaren äusseren Uniständen wie ein menschlicher Nachtwandler, dessen Grosshirnfunctionen völlig suspendirt sind (M. 281). »Trousseau erzählt von einem jungen Musiker, der mit vertigo epileptica behaftet war und oft während des Violinspielens einen 10 bis 15 Minuten dauernden Anfall bekam. Obgleich er während dieser Zeit vollständig bewusstlos war, und den, der ihn accompagnirte, weder sah noch hörte, so fuhr er doch während des ganzen Anfalls zu spielen fort« (M. 69). Aehnlich verhält es sich mit der Fähigkeit gewisser Idioten, durch langanhaltende Dressur schwierige Fertigkeiten zu erwerben, die sie zuletzt mit erstaunlicher Gewandtheit ausführen (M. 79). Trägt man einer Ratte die Grosshirnhemisphären nebst den Streifen- und Sehhügeln ab, so macht sie bei jeder Wiederholung eines lauten und kurzen Geräusches, wie es Katzen zu machen pflegen, einen Sprung zur Flucht (M. 93). Säugethiere oder Vögel, bei denen alle oberhalb der Vierhügel gelegenen Hirntheile entfernt sind, folgen den Bewegungen einer brennenden Kerze mit dem Kopf, percipiren also noch den Lichteindruck, und ebenso operirte »Frösche, welche[399] durch Hautreize zu Fluchtbewegungen gezwungen werden, weichen einem in den Weg gestellten Hinderniss aus« (W. 194).

Dies alles beweist, dass es ausser der Perception der Sinneseindrücke durch das Bewusstsein der Grosshirnhemisphären noch eine Perception durch ein von diesem ersteren nicht mit umfasstes besonderes Bewusstsein der Sinnesganglien geben muss, was Maudsley ausdrücklich anerkennt und mit grosser Entschiedenheit hervorhebt, – man müsse nur unterscheiden zwischen einer Perception in der Sphäre der selbstbewussten Intelligenz und einer solchen in der Sphäre der (bloss) bewussten Sinnesthätigkeit (M. 102). Ganz ebenso muss man aber auch einen Willen in der sensumotorischen Sphäre annehmen, der übrigens nicht so wie die Perception des ihn motivirenden Sinneseindrucks ein bewusster zu sein braucht. Wenn Maudsley ein durch Erkrankung der Sinnesganglien entstehendes »sensorielles Irrsein« annimmt (277), bei welchem Sinneshallucinationen oder krankhafte Reaction zu pathologischem Verhalten, sei es unter aufgehobenem, sei es unter fortbestehendem, aber gegen den sensumotorischen Willen widerstandsunfähigem Grosshirnbewusstsein führen, so muss doch die durch sinnliche Perception motivirte, mit dem Grosshirnwillen in Conflict tretende und siegreich aus diesem Kampf hervorgehende31 Ganglienaction nothwendig selbst als Wille bezeichnet werden.

Zu derselben Folgerung gelangen wir, wenn wir diese sensumotorische Sphäre beim Menschen und den höheren Thieren mit dem psychischen Leben derjenigen Thiere vergleichen, deren Nervensystem über die Stufe von Sinnescentren überhaupt noch nicht hinausgekommen ist; so wenig wir diesen Thieren einen Willen absprechen können, ebenso wenig den Functionen der menschlichen Sinnesganglien. Das Nämliche gilt für die Zweckmässigkeit der sensumotorischen Reflexe. Bei jenen Thieren, wo bewusste Perception und Willen nicht bestritten werden kann, ist die Zweckmässigkeit in ihrem Verhalten zur Aussenwelt zu evident, um an[400] dem Vorhandensein einer Intelligenz in denselben zweifeln zu können, welche zwar noch nicht bis zur Bildung abstracter Vorstellungen oder gar bis zum Selbstbewusstsein gelangt ist, aber doch schon Vorstufe zu dieser Grosshirnintelligenz der höheren Thiere ist.

Auch hier bildet die Parallele mit den bekannten, theilweise von hochentwickelter Intelligenz zeugenden Leistungen der Nachtwandler eine gute Erläuterung. Bei beiden findet wohl ein Haften der Eindrücke, d.h. ein Gedächtnis s statt; aber es fehlt bei beiden diejenige Stufe der Reflexion, welche zu einer Recognition, d.h. zu einer bewussten Erinnerung erforderlich ist, und das Gedächtniss documentirt sich deshalb nicht sowohl nach der Seite der Vorstellung als nach derjenigen des Wollens, d.h. es besteht wesentlich nur in der Erleichterung der Verknüpfung zwischen Perception und Willensreaction. Es befördert daher dieses Gedächtniss die Ausbildung der instinctiven Leichtigkeit und Sicherheit, mit welcher die häufigsten und wichtigsten Lebensverrichtungen von Thieren und Menschen vollzogen werden. Auch bei Nachtwandlern, welche zu wiederkehrenden Zeiten in ihren spontan somnambulen Zustand verfallen, ist ein gewisses Gedächtniss unverkennbar; sie setzen z.B. Arbeiten, die im letzten Anfall von ihnen unvollendet gelassen wurden, am rechten Punkte weiter fort, und zeigen durch die Vollendung, dass ihnen der gedankliche Zusammenhang mit dem Vorhergehenden gegenwärtig war. Dabei kann aber ihr Grosshirnhemisphären-Bewusstsein selbstverständlich keine Erinnerung von demjenigen haben, was die Intelligenz ihrer Hirnganglien im somnambulen Zustande vollbracht, weil es eben während jenes Thuns unterdrückt war, also auch keine Gedächtnisseindrücke in sich aufnehmen konnte.

Auch in den psychischen Functionen der Sinnescentra zeigt sich ebenso wie in denen der Rückenmarkscentra das Ineinander bewusster und unbewusster Seelenthätigkeit. Ich brauche nur daran zu erinnern, dass die meisten der thierischen Instincte in das Gebiet der sensumotorischen Action fallen, z.B. alle Bautriebe. Wem möchte nicht bei dem Singvogel, der eintönig die melodisch-rhythmische Periode seiner Species wiederholt, der Vergleich mit dem epileptischen Violinspieler einfallen, der das eingelernte Stück während des Anfalls weiter spielt? Nur dass der Singvogel zugleich mit seinem Grosshirnbewusstsein seinen Gesang percipirt und geniesst, was der Epileptiker nicht konnte.[401]

Es wird nicht nöthig sein, an dieser Stelle die Argumentationen des vorigen Abschnitts zu wiederholen, welche hier nur noch grössere Evidenz gewinnen. Auch die Ganglienzellen der Sinnescentren wirken reflectorisch und mechanisch, aber darum nicht minder zweckmässig, sondern nur in um so höherem Grade, als ihre motorische Innervationssphäre und ihre innere Verarbeitungsfähigkeit der Perceptionen grösser ist, als bei denen des Rückenmarks. Auch in den Sinnescentren geht die psychische Innerlichkeit mit der äusseren Mechanik der Molecularbewegungen Hand in Hand, und ihr Bewusstsein ist um so viel reicher und deutlicher, als die von den höheren Sinnesnerven zugeleiteten Eindrücke mannigfaltiger und präciser sind, als diejenigen, welche die Rückenmarkscentra von den sensiblen Körpernerven empfangen, und als ihre Verarbeitungsfähigkeit der Perceptionen grösser ist, als die der letzteren. Diese höhere Entfaltung der zweckmässigen äusseren Mechanik und der Intelligenz ist aber bloss, der doppelseitige Erscheinungsausdruck eines höheren (unbewussten) Zwecks, der das Individualleben des betreffenden Organs bestimmt. Hier wie dort vollzieht sich die Reaction des Willens auf das Motiv, die geistige Verarbeitung der Eindrücke durch Zusammenwirken vieler Zellen, und die zweckmässige Modification der Function, durch deren Wiederholung die zweckmässige Disposition des Organs sich vervollkommnet, durchaus unbewusst. Diese drei höchsten Leistungen des organisch-psychischen Individuums, welche im Grunde genommen nur eine und dieselbe, bloss von verschiedenen Seiten betrachtete Function sind, machen aber den innersten Kern der Individualität des Organs aus; man könnte sie die Actualität seines Individualzwecks nennen, was dasselbe ist, wie die teleologische Function der metaphysischen Substanz, deren Accidenzen oder Modi die innere psychische und äussere materielle Erscheinung des individualisirten Organs sind.

Es wäre ein grosser Irrthum, wenn man in dieser überwiegenden Bedeutung der unbewussten psychischen Function in den Sinnescentren einen specifischen Unterschied derselben von den Functionen des Grosshirns sehen wollte. Was im Grosshirn zunimmt, ist wesentlich nur der Grad der Verarbeitung der Perceptionen, oder physiologisch gesprochen: der Weg innerhalb des Organs, den der Reiz von seinem ersten Eintritt bis zur Entladung in motorische Reaction zurücklegt. Indem dieser Reiz bei seinem Ueberspringen von einer Zelle auf die andere in jeder von Neuem einen Reflex (Perception und Reaction) auslöst, entfaltet er sich zu einer aufeinander[402] folgenden Kette bewusster Vorstellungen, welche die discursive Reflexion bildet, die sich zwischen Sinneswahrnehmung und reactive Handlung einschaltet und die Beschaffenheit der letzteren bestimmt. Aber bei dieser Vermehrung der absoluten Zahl bewusster Momente wird keineswegs das Verhältniss dieser Zahl zu derjenigen der mitwirkenden unbewussten Akte vermehrt; denn jedes Weitergeben eines Reizes von einer Zelle an eine andere ist ein Reflexakt, der sich an und für sich unbewusst vollzieht, und dasselbe gilt von dem Aufnehmen des Reizes durch die betroffene Zelle und seine Umsetzung in bewusste Perception. Alles Schreiten bei der discursiven Reflexion ist unbewusst, und gleichsam nur die Fusstapfen dieses Schreitens sind es, die zum Bewusstsein kommen. Selten aber stehen auch nur mehrere solche Fusstapfen so nahe bei einander, dass man die einzelnen Schritte verfolgen kann; meistens weist ihr Verhältniss zu einander auf mehr oder minder grosse Sprünge der unbewussten psychischen Function hin, in welchen die Mittelglieder der logischen Verknüpfung zwischen den bewussten Endpunkten nur implicite enthalten sind.

Die Ausführung, welche diesen Gedanken oben im Abschnitte B zu Theil geworden, ist von naturwissenschaftlicher Seite so vielfach als speculative Mystik missgedeutet worden, dass es mir zu besonderer Genugthuung gereicht, die Ansichten, welche der englische Empirist Maudsley aus seiner eigenen psychiatrischen Praxis und psychologischen Beobachtung sich gebildet hat, zur Bestätigung anführen zu können. Das Zeugniss wird auch den Naturforschern für um so unverfänglicher gelten können, als M. selbst zum Materialismus hinneigt, und soviel als möglich mit einer materialistischen Deutung seiner psychologischen Beobachtungen auszukommen sucht. Dies gelingt ihm freilich nach seiner eigenen Meinung nicht überall, und am wenigsten an den entscheidenden Punkten, wie wir schon oben an einem Beispiele gesehen haben.

Die Existenz eines »unbewussten Seelenlebens« erklärt M. für zweifellos feststehend und sagt: »Es ist eine Wahrheit, die man nicht nachdrücklich genug hervorheben kann, dass Bewusstsein und Seele nicht Begriffe von gleicher Ausdehnung sind« (15), und fügt hinzu, »dass der wichtigste Theil der Seelenthätigkeit, der wesentliche Process, von dem das Denken abhängt, in einer unbewussten Thätigkeit der Seele gesteht« (19). »Ein Mensch, dessen Gehirn ihm zum Bewusstsein bringt, dass er ein Gehirn hat, ist nicht gesund, und ein Denken, das sich seiner selbst bewusst ist, ist kein[403] gesundes Denken« (21). »Ein thätiges Bewusstsein ist dem besten und erfolgreichsten Denken immer nachtheilig. Der Denker, der auf die Reihenfolge seiner Gedanken aufmerksam ist, wird mit wenig Erfolg denken. Der ächte Denker ist sich nur der Worte bewusst, die er spricht oder schreibt, während die Gedanken, die das Elaborat der unbewussten organischen Gehirnaktion sind, von einer unerforschlichen Tiefe aus in das Bewusstsein dringen. Reflexion beruht also in der That auf der Reflexthätigkeit der Cerebralganglienzellen in ihren Beziehungen zu einander; sie ist eine Reaktion einer Zelle auf einen von einer benachbarten Zelle ausgehenden Reiz, und die Uebertragung seiner Energie auf eine andere Zelle – seine Reflexion« (126). »Das Gehirn empfängt nicht nur unbewusst32 Eindrücke, es registrirt dieselben ohne die Mitwirkung des Bewusstseins, verarbeitet unbewusst dieses Material, ruft ohne das Bewusstsein die latenten Residua wieder wach, es reagirt auch als ein mit organischem Leben begabtes Organ auf die inneren Stimuli, die es von anderen Organen des Körpers unbewusst erhält« (19). »Der Hergang bei der Ideenassociation vollzieht sich nicht nur unabhängig vom Bewusstsein, sondern diese Assimilation oder Vermischung ähnlicher, oder des Gleichartigen von verschiedenen Vorstellungen, wodurch allgemeine Vorstellungen entstehen, geschieht auch, ohne dass dem Bewusstsein eine Controle darüber, oder eine Kenntniss davon zukäme« (17). »Des Schriftstellers Bewusstsein ist hauptsächlich mit seiner Feder und mit der Gestaltung der Sätze beschäftigt, während die Früchte der unbewussten Seelenthätigkeit, unbewusst herangereift, aus unbekannten Tiefen in das Bewusstsein emporsteigen und mit seiner Hülfe in passende Worte eingekleidet werden« (16). »Wenn die Gehirnthätigkeit eines Individuums eine wohlgeordnete ist, und die gehörige Bildung erfahren hat, erscheinen die Resultate dieser verborgenen Thätigkeit, indem sie plötzlich im Bewusstsein auftauchen, oft wie Intuitionen; sie sind fremd und staunenerregend, wie es oft Träume sind, auch für den Geist, welcher sie hervorgebracht hat« (17). »Die besten Gedanken[404] eines Autors sind gewöhnlich die ungewollten, die ihn selbst überraschen, und der Dichter ist, wenn er unter der Inspiration schöpferischer Thätigkeit steht, was das Bewusstsein betrifft, nur ihr Werkzeug. Wenn wir hierüber nachdenken, werden wir sehen, dass es so sein muss. Die Produkte schöpferischer Thätigkeit sind, insoweit sie seine früheren Erfahrungen überschreiten, ihrem Schöpfer selbst unbekannt, bevor er sie hervorbringt, und können deshalb nicht Resultate eines bestimmten (bewussten) Willensaktes sein, denn zu einem Willensakt ist es nothwendig, eine Vorstellung von dem zu haben, was man will« (18). »So kommt es zuweilen, dass, wenn sich ein solcher Verstand an die Erforschung einer neuen Reihe von Ereignissen macht, die Gesetzmässigkeit derselben sich plötzlich, wie durch einen Blitz von Intuition, dem Geiste erschliesst, obgleich nur verhältnissmässig wenige Beobachtungen vorausgegangen sind: die Phantasie33 greift mit glücklichem Erfolg den langsamen Resultaten beharrlicher systematischer Forschung vor, giesst das Licht wahrer Aufklärung über die Finsterniss aus und verbreitet es über dunkle Beziehungen und verwickelte Connexionen. So offenbart ein gut begabter und gut gebildeter Geist seine unbewusste Harmonie mit der Natur. Die bedeutendsten Meteore des Genies erscheinen unbewusst und ohne Anstrengung. Wachsthum ist kein willkürlicher Akt, wohl aber die Zufuhr der Nahrung« (197). »Wie das Kind kein Bewusstsein seines «Ich» hat, scheint auch der Mensch in seiner höchsten Entwickelung, wie diese unsere grössten Männer repräsentiren, zu einer ähnlichen Unbewusstheit seines Ich's gelangt zu sein, und in inniger und angeborener Sympathie fährt er in seiner Entwickelung fort mit kindlicher Unbewusstheit und mit kindlichem Erfolg« (32). »Regeln und Systeme sind für die gewöhnlichen Sterblichen nothwendig, deren Geschäft es ist, mit einander Material zu sammeln und zu ordnen. Der Genius als Architekt hat wie die Natur sein eigenes unbewusstes System. Es ist ihr natürliches Loos und nicht ihre Schuld, dass die Raupe kriechen muss: ebenso ist es das Loos des Schmetterlings, dass er fliegt, und nicht sein Verdienst« (33). »Nicht durch ängstliches Quälen, nicht durch introspectives Durchforschen und Peinigen seines eigenen Bewusstseins[405] ist der Mensch im Stand, das Genie zu erwecken. Als die reife Frucht unbewusster Entwickelung taucht es zur rechten Zeit und zur angenehmen Ueberraschung im Bewusstsein auf und erweckt von Zeit zu Zeit das schlafende Jahrhundert« (33).34

Wenn ein solches Genie plötzlich zu rechter Zeit als Frucht einer mit der gesammten Natur in unbewusster Harmonie stehenden unbewussten Entwickelung auftaucht, welche sich aus einem von Anderen blindlings vorbereiteten Material genährt hat, so wird man einen solchen unbewusst psychischen Process wohl im höchsten Sinne als einen teleologischen Vorgang betrachten müssen, für dessen Erklärung Maudsley vermuthlich auch nur auf den unerforschlichen Rathschluss des Schöpfers zu verweisen wüsste. Anders ausgedrückt, leuchtet bei den unbewusst-psychischen Processen in um so höherem Grade die Unzulänglichkeit aller materialistischen Erklärungsversuche ein, zu einem je höher organisirten Centrum (sei es innerhalb eines und desselben Organismus, sei es unter den vielen verschieden veranlagten Individuen der Menschheit) wir emporsteigen. Da aber die Unterschiede nicht principieller Natur sind, sondern nur auf Verschiedenheit der Entwickelungsstufe der gemeinsamen Uranlagen der Ganglienzelle beruhen, so muss dieses Resultat auch auf die Auffassung der einfachsten Reflexvorgänge in der Ganglienzelle sein Licht zurückwerfen.

31

In solchem Falle kann man oft sagen, dass sich der Irre des Unterschiedes zwischen gut und böse und der Tragweite seiner Handlungen sehr wohl bewusst war, dass er aber trotzdem ausser Stande war, seinen erkrankten Willen von pathologischen Excessen zurückzuhalten, also auch nicht für die auf diese Weise begangenen Handlungen verantwortlich gemacht werden kann. Die Gesetzgebung verschiedener Staaten bedurfte deshalb hinsichtlich der Fragestellung auf Unzurechnungsfähigkeit einer Rectification.

32

Dies bedeutet hier nur, dass solche Eindrücke unterhalb der Schwelle des Gesammtbewusstseins der Grosshirnhemisphären liegen können; wenn sie aber etwas wirken sollen, so müssen sie über der Schwelle des betreffenden Zellenbewusstseins liegen. Diese Unterscheidung fehlt bei M. deshalb, weil er nicht scharf daran festhält, dass ein Reiz gar nicht percipirt werde kann, ohne entweder von einem Bewusstsein percipirt zu werden, oder ein solches zu erzeugen.

33

»Wie nun aber die Phantasie einen Entwickelungsvorgang der geistigen Organisation darstellt, so ist auch die wohlbegründete Phantasie des Philosophen und Dichters die höchste Blüthe organischer Entwickelung, und ihr Schaffen, wie das der Natur, ein Unbewusstes« (194).

34

»Es ist amüsant, doch zugleich traurig, die schmerzliche Ueberraschung des Forschers, seine eifersüchtige Indignation, seine Schmerzensrufe zu beobachten, wenn das grosse Endresultat, an dem er und seine Arbeitsgenossen so lange geduldig, wenn auch blindlings, gearbeitet haben, wenn das Genie des Jahrhunderts, das er selbst mit erschaffen half, plötzlich auftaucht und den grossen allgemeinen Umschwung mit einem Male in's Werk setzt; amüsant, weil der geduldige Arbeiter, den Erfolg, den er mit vorbereitete, nicht voraussah, traurig, weil er persönlich vernichtet ist, und alle die Mühe, die er auf seine Kraft verwendete, hinweggeschwemmt wird von dem Gesammtprodukt, das alle die verschiedenen Data der Forschung und alle Gedanken in sich vereinigt, und indem es für diese eine einheitliche Entwickelung nachweist, sich durch die einfache Epigenese ergibt« (34).

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 396-406.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3

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