5. Der teleologische Charakter der Reflexfunction

[385] Der sicherste Beweis für die psychische innerliche Seite des Reflexvorganges ist der teleologische Charakter dieser Reaction, der sich in der durchgängigen Zweckmässigkeit der physiologischen (nicht pathologischen) Reflexe ausdrückt. – Selbstverständlich kann diese Zweckmässigkeit nicht bei einer nach oben und unten unbegrenzten Reizskala stattfinden. Wie unser Ohr bei den tiefsten Tönen zunächst nicht einen Ton, sondern ein dröhnendes Geräusch hört, bei den höchsten nicht mehr einen Ton, sondern einen schrillenden Schmerz empfindet, wie unser Auge die Gegenstände bei einer allzumatten Beleuchtung nicht unterscheidet, und von einem allzuhellen Lichtglanz geblendet und zerstört wird, ohne dass man deshalb die Zweckmässigkeit dieser Organe bemängelt, so können auch die zweckmässigen Reflexe nur innerhalb gewisser endlicher Grenzen der Reizskala gesucht werden, aber diese Grenzen werden selbst wieder teleologisch bestimmt sein. Würden die Centra auf allzuschwache Reize reagiren, so würden sie, wie ein erkranktes Centrum es wirklich thut, ihren Kraftvorrath auf Grund der sie unaufhörlich umspielenden schwachen Reize vergeuden, statt ihn für die Fälle aufzusparen, wo seine Verwendung für das Leben des Organismus von Werth ist; sollten andrerseits die Centra so solide und robust constituirt sein, dass auch die allerheftigsten Eingriffe keine Desorganisation in ihnen hervorbringen könnten, so müssten sie eine Beschaffenheit haben, welche sie für ihre feineren Aufgaben weniger geeignet machen würde, ohne doch der an und für sich sinnlosen Forderung einer absoluten Unzerstörbarkeit jemals genugzuthun. Die Thatsache, dass abnorm starke Reize krampferzeugend und desorganisirend auf die Centra wirken, ist also ebenso wenig wie die andere, dass die zweckmässige Reaction erst bei einer gewissen Reizstärke beginnt, geeignet, den teleologischen Charakter der Reflexe in Frage zu stellen, sondern dient vielmehr dazu, ihn erst in das rechte Licht zu setzen.

Ferner ist zu beachten, dass, wie wir oben sahen, mit steigender Reizstärke immer mehr und immer höhere Centra in die Action mit hereingezogen werden; hieraus ergibt sich, dass der[385] Charakter der Reaction sich mit der Reizstärke ändern muss. Aber auch dies spricht nicht gegen, sondern für die Zweckmässigkeit der Reflexe; denn es ist eben zweckmässig für den Organismus, dass er auf schwache Reize nicht bloss mit schwächeren, sondern auch mit anderen motorischen Reactionen antworte, als auf starke Reize, welche an dem nämlichen Angriffspunkt wirken. Diese zweckmässigen Unterschiede werden nun dadurch erreicht, dass für die Reflexaction der verschiedenen Centra die Reizschwelle verschieden ist. Beim schwächsten Reiz wird nur das Centrum, in welchem der betroffene sensible Nerv unmittelbar mündet, zum Reflex sollicitirt, und der Erfolg ist eine einfache Zuckung, welche z.B. genügt, um dem Rind eine Fliege von der Haut zu verscheuchen, oder dem Menschen eine drückende Kleiderfalte zu verschieben, oder ein unbequem liegendes Bein im Schlafe umzulegen.

Zwecklos kann man daher die Reflexe auch auf die schwächsten oberhalb der Schwelle liegenden Reize nicht nennen (wie Wundt S. 823 thut); nur ist die motorische Innervationssphäre für das bei den schwächsten Reizen allein reagirende Centrum eine beschränkte und daher auch die von ihm aus zu erzielende Aenderung der äusseren Umstände eine sehr eng begrenzte. In dem Maasse, als mehr und höhere Centra von dem weiter fortgeleiteten Reiz erreicht werden, erweitert sich die motorische Innervationssphäre der gesammten bei dem Reflex betheiligten Centra, und damit die Möglichkeit combinirter Muskelbewegungen zur Aenderung der durch den Reiz gemeldeten äusseren Situation. Der von einer Centralstelle beherrschten Sphäre der motorischen Innervation müssen natürlich die von ihr ausgehenden Innervationsimpulse entsprechen, wenn sie nicht von vornherein inadäquat und darum unzweckmässig genannt werden sollen, und darum ist in der That für eine einzelne Ganglienzelle diejenige Reflexaction, welche in ihr teleologisch gefordert ist, eine ganz andere, als für eine grössere Gruppe von gemeinsam agirenden Ganglienzellen, für eine Zelle im untern Theil des Rückenmarks eine ganz andere, als für eine solche im oberen, und für diese wieder eine andere, als für eine solche im verlängerten Mark. Die Reaction kann an jedem Punkte nur dann zweckmässig heissen, wenn sie auf das Maximum des von diesem Punkte aus Erreichbaren Rücksicht nimmt. Dies wird von Wundt nicht hinlänglich gewürdigt, während er für mittlere Reizstärken sich der Anerkennung der allzu eclatant hervortretenden Zweckmässigkeit natürlich nicht entziehen kann.[386]

»Ein enthaupteter Frosch bewegt das Bein gegen die Pincette, mit der man ihn reizt, oder er wischt den Tropfen Säure, den man auf seine Haut bringt, mit dem Fusse ab. Einer mechanischen oder elektrischen Reizung sucht er sich zuweilen durch einen Sprung zu entziehen. In eine ungewöhnliche Lage gebracht, z.B. auf den Rücken gelegt, kehrt er wohl auch in seine vorherige Körperlage zurück. Hier führt also der Reiz nicht bloss im Allgemeinen eine Bewegung herbei, die sich mit zunehmender Reizstärke und wachsender Reizbarkeit von dem gereizten Körpertheil ausbreitet, sondern die Bewegung ist angepasst dem äusseren Eindruck. Im einen Fall ist sie eine Abwehrbewegung, in einem zweiten ist sie auf Beseitigung des Reizes, in einem dritten auf Entfernung des Körpers aus dem Bereich des Reizes, in einem vierten endlich auf Wiederherstellung der vorigen Körperlage gerichtet. Noch deutlicher tritt diese zweckmässige Anpassung an den Reiz in den von Pflüger und Auerbach ausgedachten Versuchen hervor, in denen man die gewöhnlichen Bedingungen der Bewegung irgendwie abändert. Ein Frosch z.B., dem auf der Seite, auf welcher er mit Säure gereizt wird, das Bein abgeschnitten wurde, machte zuerst einige fruchtlose Versuche mit dem amputirten Stumpf, wählt dann aber ziemlich regelmässig das andere Bein, welches beim unverstümmelten Thier in Ruhe zu bleiben pflegt22. Befestigt man den geköpften Frosch auf dem Rücken, und benetzt die innere Seite des einen Schenkels mit Säure, so sucht er die letztere zu entfernen, indem er die beiden Schenkel an einander reibt; zieht man nun aber den bewegten Schenkel weit vom andern ab, so streckt er diesen nach einigen vergeblichen Versuchen plötzlich herüber, und erreicht ziemlich sicher den Punkt, welcher gereizt wurde23. Zerbricht man endlich geköpften Fröschen die Oberschenkel und ätzt man, während sie sich in der Bauchlage befinden, die Kreuzgegend, so treffen sie trotz dieses störenden Eingriffs mit den Füssen der zerbrochenen Gliedmaassen die geätzte Stelle. Diese Beobachtungen, die noch mannigfach variirt werden können, zeigen, dass das seines ganzen Gehirns beraubte Thier seine Bewegungen den veränderten Bedingungen in einer Weise anpassen kann, die, wenn Bewusstsein und Wille dabei im Spiele sein sollten, offenbar eine vollständige Kenntniss der Lage des ganzen Körpers und seiner einzelnen Theile voraussetzen würde« (824).[387]

Dass Wundt mit letzterer Schlussfolgerung, insoweit sie sich auf eine bewusste Kenntniss des eigenen Körpers bezieht, über das Ziel hinausschiesst, gibt er selbst durch die Bemerkung zu, dass auch der Mensch bei hellstem Bewusstsein und als vollständiger Herr seines Willens dieselbe nicht besitzt; hieraus hätte er umgekehrt zurückschliessen sollen, dass auch in jenen Rückenmarksactionen Bewusstsein und Wille vorhanden sein kann, ohne dass von einer bewussten Kenntniss der Lage der eigenen Körpertheile die Rede zu sein braucht. Hätte er diesen Schluss nicht unterlassen, so würde er auch in der mechanischen Auffassung der Reflexvorgänge keinen Grund mehr gefunden haben, an dem Vorhandensein von Bewusstsein und Willen bei denselben zu zweifeln, da ja dieselbe mechanische Auffassung bei den Functionen der Grosshirnhemisphären ihm keinen Zweifel zu bieten scheint.

Er sagt: »Es ist zwar zuzugeben, dass die Selbstregulirungen, welche vorausgesetzt werden müssen, um die mannigfachen Modificationen bewusstloser thierischer Bewegungen zu erklären, theilweise ausserordentlich verwickelter Art sind; aber wo ist, wenn man einmal das Princip des Mechanismus zulässt, die Grenze, von der an die thierische Maschine nicht mehr zureicht?« (822). Indessen dieselbe Bemerkung würde Wundt auch auf die Mechanik der Grosshirnhemisphären anwenden müssen, also durch sein Argument zur Leugnung des Bewusstseins und Willens überhaupt gelangen; ist das Argument in diesem letzteren Falle untriftig, so hat es überhaupt kein Gewicht, – und das kommt daher, weil dasselbe lediglich auf der von ihm selbst für falsch erklärten Entgegensetzung von Mechanismus und Willen beruht. – Die Cartesianische Lehre, dass die Thiere wandelnde Automaten seien, welche uns bloss mit dem Schein eines Seelenlebens äffen, wird heute von jedem fühlenden Menschen als eine gradezu empörende Verirrung angesehen; wie lange wird es noch dauern, bis unsere modernen Physiologen sich endgiltig von dem principiell nicht geringeren Irrthum befreien, dass die organischen Lebensäusserungen der niederen Centralorgane des Nervensystems blosse Maschinenverrichtungen ohne jeden Funken inneren Lebens seien?

Grade die physiologische Psychologie müsste sich gedrängt fühlen, in umgekehrter Richtung zu schliessen und zu sagen: »wenn das ganze Leben der Centralorgane äusserlich betrachtet in einer molecularen Mechanik besteht, und doch in unserm Bewusstsein[388] dieser Mechanik ein zweckmässiges Denken und Wollen entspricht, so muss diese im Grosshirn auch für das Bewusstsein als solche zu Tage tretende Zweckmässigkeit schon von Anfang an in allem Functioniren von Ganglienzellen drinstecken, wenn sie auch nicht überall als solche bewusst wird: denn es kann in höchster Instanz nichts herauskommen, als wozu schon den niederen Phasen der Entwickelung die Anlage gegeben ist.« Grade der materialistisch gesinnte Physiologe, der das bewusste Denken und Wollen als einen blos passiven Reflex des äusseren Geschehens, als einen zeitweilig auftretenden zufälligen Appendix bei gewissen Phasen der molecularen Nervenmechanik ansieht, besitzt gar keine Möglichkeit, dem Bewusstsein selbstständige Activität zuzuschreiben, und hat folglich gar keine Wahl, die unleugbar im bewussten Denken und Wollen zu Tage tretende Zweckmässigkeit anders als durch eine Zweckmässigkeit der molecularen Nervenmechanik zu erklären, d.h. grade der Materialismus kann nicht umhin, die Zweckmässigkeit in der Function der Ganglienzelle anzuerkennen, wenn er sich nicht jede Erklärung der Zweckmässigkeit im Bewusstsein, in seinen Reflexionen und Entschliessungen abschneiden will.

Die thatsächlich gegebene Zweckmässigkeit anerkennen kann der Materialismus natürlich nur mit Hilfe des Darwinismus, welcher die zweckmässigen molecularen Dispositionen in den Ganglienzellen durch natürliche Zuchtwahl entstehen lassen will. Wenn dieser Erklärungsversuch ohne die Grundlage metaphysischer teleologischer Principien sich schon ganz im Allgemeinen als unzulänglich erweist24, so insbesondere in diesem speciellen Falle; denn es ist nicht wohl ersichtlich, wie neben so vielen anderen bei weitem wichtigeren individuellen Abweichungen ein ganz geringes Mehr oder Minder von Reflexdispositionen in der grauen Substanz des Rückenmarks für die Concurrenzfähigkeit eines Thieres entscheidend werden soll. Das Lamarck'sche Princip der allmählichen Vervollkommnung durch Uebung hilft hier ebenso wenig; denn mag man nun die zweckmässigen Modificationen der Function, welche durch Uebung befestigt werden sollen, vom Rückenmark oder von höheren Centren ausgehend denken25, so kann doch das passive Bewusstsein[389] die Zweckmässigkeit dieser Modificationen deshalb nicht erklären, weil die Zweckmässigkeit seiner Vorstellungsverknüpfungen nach materialistischer Ansicht selbst erst wieder aus der Zweckmässigkeit der molecularen Mechanik erklärt werden soll. Darum ist auch Wundt vollständig im Recht, wenn er daran festzuhalten ermahnt, dass die Annahme eines Rückenmarksbewusstseins und -Willens zur Aufhellung des Problems der Zweckmässigkeit in den Bewegungen gar nichts beiträgt (829); nur sollte er consequent weiter denken und zugestehen, dass ein höherer Grad von Bewusstsein ebenso wenig dazu beitragen kann, wie ein niederer, dass ein Hirnbewusstsein für die Erklärung der Zweckmässigkeit der Körperbewegungen ebenso sehr fünftes Rad am Wagen ist, wie ein Rückenmarksbewusstsein, dass am allerwenigsten das Hirnbewusstsein etwas leisten kann zur Erklärung der Zweckmässigkeit der Rückenmarksreflexe, und dass deshalb auch das Lamarck'-sche Princip, so lange bloss die bewusste Ueberlegung als Ursache der zweckmässigen Modification der Function angesehen wird, sich in einem Cirkelschluss bewegt26.[390]

Diesem fehlerhaften Drehen im Kreise entgeht man nur, wenn man annimmt, dass jene zweckmässigen Modificationen der Function, welche bei öfterer Wiederholung durch Einprägung molecularer Dispositionen mit immer geringerem Widerstand von Statten gehen, aus einem unbewussten teleologischen Princip hervorgehen, dessen Wirksamkeit bei dieser Vervollkommnung der Nervencentra nur ein Specialfall seiner allgemeinen teleologischen Wirksamkeit als organisirendes Princip ist. Wie die äussere Mechanik der materiellen Processe und die innere Mechanik der bewussten Vorstellungen und Begehrungen coordinirte Erscheinungen einer und derselben metaphysischen Substanz sind, so ist auch die Gesetzmässigkeit dieser äusseren und inneren Mechanik (nicht etwa eine in prästabilirter Harmonie parallel-laufende, sondern) ein zusammenhängender Ausflugs aus dem einheitlichen Wesen dieser metaphysischen Substanz. Auch auf diesem Standpunkt bleibt die Passivität des Bewusstseins bestehen, aber dasselbe erscheint nun nicht mehr als Accidenz der Materie, sondern als das einer immateriellen Substanz, deren anderes Accidenz die materielle Kraftäusserung ist; so beschränkt sich hier das Psychische nicht auf die Sphäre des Bewusstseins, sondern reicht tiefer als dieses, nämlich in das metaphysische Wesen selbst hinein. Dann ist auch die bewusste Zweckmässigkeit im Denken und Beschliessen nicht mehr als eine passive Abspiegelung aus der Sphäre der zweckmässigen Molecularmechanik zu betrachten, sondern sie ist wie diese eine unmittelbare Manifestation der teleologischen Natur der metaphysischen Substanz selbst (des unbewussten Geistes); was dort todte Aeusserlichkeit ist, deren geistiger Stempel erst von einem denkenden Geiste herausgefunden wird, das ist hier unmittelbares Innewerden der innersten Natur des Geistes selbst in ihm selber.

Ohne Verständniss für die Parallelität beider Probleme bleiben beide unlösbar, d.h. sowohl der teleologische Charakter der äusserlichen Mechanismen und ihrer Entstehung als auch die bewusste Zweckthätigkeit des menschlichen Geistes müssen in ihrer Isolirung von einander als transcendente Fragen erscheinen, in welche einzudringen ein hoffnungsloses Unternehmen ist. Von dem Augenblick an dagegen, wo man Inneres und Aeusseres als doppelseitige Erscheinung des einen Wesens erkennt, und die Einheit des teleologischen Problems in beiden Formen der Erscheinung begreift, kann der einheitliche Grund für den teleologischen Charakter sowohl der äusserlichen materiellen Mechanik wie der bewussten Geistesfunction[391] nur noch in ein und derselben Beschaffenheit der metaphysischen Substanz gesucht werden, an welcher beide Seiten der Erscheinung nur Accidenzen sind, und nun ist es die uns unmittelbar bekannte Zweckmässigkeit unseres Geistes, welche uns zum Verständniss jener fraglichen Beschaffenheit der metaphysischen Substanz den Schlüssel liefert, nämlich sie als das unbewusst Logische erkennen lässt, das als Inhalt eines Willens oder einer Kraft sich teleologisch bethätigen muss. Darum ist es auch so wichtig, sich klar zu machen, dass die psychische Innerlichkeit des zwischen Reiz und Reaction spielenden Processes und die bewusste Perception allen, auch den niedersten Nervencentren zukommt, – nicht als ob das Bewusstsein in denselben unmittelbar etwas zur Erklärung der Zweckmässigkeit der Functionen beitragen könne (was ich nie behauptet habe), sondern weil es darauf ankommt, sich überall der Doppelseitigkeit der Erscheinung bewusst zu bleiben, und den Schlüssel, welcher die teleologische Natur der metaphysischen Substanz am unmittelbarsten erschliesst, niemals aus der Hand fallen zu lassen.

Wie die hier behauptete höhere Einheit von Causalität und Teleologie zu denken sei, darauf kann hier nicht näher eingegangen werden27; nur soviel will ich hier bemerken, dass die Zeit mit Riesenschritten naht, wo unsere Naturwissenschaft aufhören wird, von »todter Materie« zu sprechen. Schon jetzt erkennen die namhaftesten Naturforscher die innerliche, psychische Seite der Atome an28 und es beginnt bereits die Ahnung zu dämmern, dass der Schlüssel für die Beschaffenheit der einfachsten Gesetze der Mechanik des Atoms, welche man bisher eben nur als schlechthin gegeben hingenommen hat, in dieser psychischen Seite der Atome gesucht werden muss, und aus den Analogien unserer eigenen Psyche gefunden werden wird29.[392]

Das Gesetz der Erhaltung der Kraft bedeutet metaphysisch gesprochen nur die Unveränderlichkeit des actuellen Weltwillens nach der Seite seiner Intensität; dieses Gesetz ist aber ganz formell und lehrt uns nur: wenn dieses Quantum mechanische Kraft sich in eine andere Gestalt, z.B. in Wärme umwandelt, dann wird es ein so und so grosses Quantum Wärme liefern. Aber ob diese mechanische Kraft sich in dem gegebenen Falle in Wärme oder irgend eine andere Gestalt umwandelt, oder ob sie sich z.B. durch Entfernung von ihrem Centralkörper in Spannkraft umsetzt, oder ob sie sich vorläufig gar nicht umwandelt, davon lehrt das abstract formelle Gesetz der Erhaltung der Kraft gar nichts. In dem Entscheid dieser Fragen in jedem Einzelfall liegt aber der ganze Inhalt des Weltprocesses ohne Rest; also alles das, was den Inhalt des Weltprocesses bestimmt, d.h. die ganze Sphäre der logischen Idee, wird vom Gesetz der Erhaltung der Kraft nicht berührt. Somit erweist sich das Gesetz der Erhaltung der Kraft erst als der abstract formelle Rahmen, innerhalb dessen erst die logische Nothwendigkeit der Inhaltsbestimmung beginnt, und die qualitative Bestimmtheit durch Causalität und Teleologie erst den Raum zu ihrer Entfaltung gewinnt. Das Gesetz der Unveränderlichkeit des absoluten Kraftquantums bedarf demnach anderer Naturgesetze zu seiner Ergänzung, welche das »Wie« der Kraft an jedem Punkte der unveränderlichen Totalsumme bestimmen, und in diesen letzteren Gesetzen kann erst, muss aber auch, der teleologische Charakter der metaphysischen Substanz der Atome zum Ausdruck kommen: ihr Drang nach Befriedigung ihres Specialwillens und ihre instinctive Abwehr der Unlust (welche aus Repression dieses Willens entspringt). Wie sich, metaphysisch gesprochen, der Weltprocess aus Willen und unbewusst-logischer Idee zusammensetzt, von welchen beiden Momenten ersteres das »Dass«, letzteres das »Was und Wie« jedes Augenblicks im Processe bestimmt, so setzt sich, naturwissenschaftlich gesprochen, der Weltprocess aus dem unveränderlichen kosmischen Kraftquantum und aus den die Umwandlung der Kraft für die besonderen Umstände bestimmenden Gesetzen zusammen, und diese genaue Parallelität beider Anschauungsweisen des Weltprocesses kann als ein neuer Beweis dafür gelten, dass die metaphysische[393] Unterscheidung der Momente des Willens und der Idee nichts weniger als willkürlich genannt werden kann, sondern tief im Wesen der Dinge begründet, und geradezu geeignet ist, die Naturwissenschaft über die tiefere Bedeutung ihrer letzten Principien aufzuklären.

Es wird sich dann weiter fragen, ob die inhaltlich die Kraftumwandlung bestimmenden teleologischen Naturgesetze für die Mechanik des Atoms auch dafür ausreichend sind, das gesetzmässige teleologische Verhalten der Ganglienzelle zu erklären, oder ob bei dieser Vereinigung von Atomen und Moleculen zu einem organisch-psychischen Individuum höherer Ordnung neue Gesetze als hinzutretend angenommen werden müssen, welche auf einen specifischen Unterschied zwischen dem unbewussten Individualzweck einer Ganglienzelle und den combinirten unbewussten Zwecken der sie constituirenden Atome und Molecule hinweisen. Aus einem solchen abweichenden unbewussten Zweck, der mit einem abweichend veranlagten Individualwillen oder Individualcharakter zusammenfällt, würden dann sofort abweichende Motivationsgesetze folgen, insofern ein anders bestimmter unbewusster Individualwille auch durch anderartige äussere Umstände in die Empfindungszustände der Unlust und Lust versetzt wird. – Ein unvollkommenes Beispiel möge dies erläutern. In der Chemie gilt das Gesetz, dass wenn mehrere Stoffe in reactionsfähigem Zustande zusammengebracht werden, diejenigen molecularen Umlagerungen stattfinden, dass die algebraische Summe der dabei entwickelten positiven und negativen Wärmemengen ein Maximum wird. Diesem Gesetz scheint das Verhalten in der mit Strychnin vergifteten Rückenmarkszelle, oder in der Gehirnzelle des Maniacus zu entsprechen, wo die chemischen Processe auf Vergeudung der aufgespeicherten potentiellen Energie abzielen; die dieser Umwandlung entgegenwirkenden Einflüsse in der gesunden Ganglienzelle dagegen, welche wir die hemmenden Potenzen genannt haben, und in denen sich erst die specifische Zweckmässigkeit der Ganglienfunction offenbart, scheint auf ein hinzukommendes Gesetz höherer Ordnung hinzudeuten, welches das Spiel der chemischen Moleculargesetze einschränkt. Indessen soll dies blos ein verdeutlichendes Beispiel ohne eigenen Anspruch auf Gültigkeit sein.

Wenn sich nun herausstellen würde, dass die teleologisch-gesetzmässige Mechanik der Ganglienzelle auf Naturgesetzen beruht, welche sich nicht aus der blossen Combination der Gesetze der[394] Mechanik des Atoms ergeben, so würden auch die Atome nicht mehr als die Träger solcher Gesetze höherer Ordnung angesehen werden können, weil ein und dasselbe individuelle Subject nicht Träger entgegengesetzter, einander einschränkender Naturgesetze sein kann. Es müsste dann also für die hinzutretenden Gesetze höherer Ordnung auch ein metaphysischer Träger derselben herangezogen werden, welcher mit den die Zelle zusammensetzenden materiellen Atomen im Verein erst das ganze Individuum dieser Ganglienzelle constituiren würde.

Von der Seite her, wo wir hier in diese Untersuchung eingetreten sind, möchte es vielleicht verfrüht scheinen, über diese Frage eine definitive Entscheidung treffen zu wollen: da wir aber bereits gesehen haben, dass dieser eventuelle Träger zusammenfallen würde mit dem organisirenden Princip, welches die teleologische Vervollkommnung der Ganglienzelle als eines integrirenden Bestandtheils der Vervollkommnung des organischen Gesammttypus leitet, und da dieses organisirende Princip als metaphysischer Träger des allgemeinen organischen Entwickelungsgesetzes nothwendig als etwas zu den materiellen Atomen Hinzukommendes gedacht werden muss, so werden wir von dieser Seite her unsere obige Alternative gleichfalls zu Gunsten eines hinzukommenden metaphysischen Agens entscheiden dürfen, welches die Vielheit der äusseren und inneren Atomfunctionen in der Ganglienzelle sowohl zur äusserlich-teleologischen wie zur innerlichen psychischen Einheit verknüpft, und so erst die Zelle zu einem innerlich wie äusserlich einheitlichen organisch-psychischen Individuum macht.

Wer freilich den teleologischen Charakter der molecularen Mechanik in der Ganglienzelle entweder leugnet (wie der ältere Materialismus) oder als ein die Wissenschaft nicht tangirendes, an und für sich unlösliches transcendentes Problem ignorirt (wie Maudsley), oder endlich zwar als Thatsache einräumt, aber aus blind-nothwendigen und zufälligen Ursachen erklären zu können glaubt (wie der Darwinismus und Wundt mit ihm), der wird nur consequent verfahren, wenn er von vornherein jedes zu den Atomen hinzukommende metaphysische oder unbewusst-psychische Princip ablehnt, und die bewussten wie die unbewussten psychischen Erscheinungen in der Ganglienzelle als Combinationsphänomene lediglich aus den psychischen Functionen der betheiligten Atome auffasst30. Wer dagegen[395] die Teleologie der materiellen Mechanik wie des Bewusstseins als parallele Ausflüsse der unbewusst-logischen und teleologischen Natur der (beiden Seiten der Erscheinung zu Grunde liegenden) metaphysischen Substanz betrachtet, der wird (auch abgesehen von der Nothwendigkeit eines organisirenden Princips als Trägers des organischen Entwickelungsgesetzes) eher nach der anderen Seite der Alternative hinneigen, und erwarten, dass die höheren Bethätigungsformen der Teleologie, welche in der Ganglienzelle im Vergleich mit den Gesetzen der Mechanik des Atoms zu Tage treten, und die innere und äussere Einheit, welche die Ganglienzelle zur Individualität erhebt, von hinzutretenden Functionen der metaphysischen Substanz herrühren, welche erst die isolirten Atomfunctionen dem einheitlichen unbewussten Individualzweck höherer Ordnung unterordnen.

Ein Spiel der Atome, über deren gleichgültiger Vielheit die Eine, sie seiende Substanz thront, muss der demokratischen, gleichmacherischen, desorganisirenden Tendenz der Romanen mehr zusagen, welche freilich den über der identischen Vielheit waltenden, Einen, allmächtigen Cäsar nicht entbehren kann, wenn nicht alles sich in Anarchie auflösen soll; ein organischer Aufbau des Kosmos, in welchem die Atomkräfte oder Individuen erster Ordnung nur die Rolle der einfachsten und niedersten Bausteine spielen, und in jedem Individuum höherer Ordnung durch einigende Functionen zu concretem Zwecke zusammengehalten werden, um so ihrerseits wiederum höheren Individualzwecken als Baumaterial zu dienen, ein solcher stufenweiser Aufbau wird den germanischen Geist mehr ansprechen, welcher weiss, dass man überall, wo ein lebendiges architektonisches Kunstwerk zu Stande kommen soll, auf Gleichmacherei verzichten und sich willig dem höheren Zwecke fügen muss.

22

Pflüger, Die sensorischen Functionen des Rückenmarks, S. 125.

23

Auerbach in Günsburg's Zeitschrift f. klin. Med. IV. S. 487.

24

Vgl. meine Schrift: »Wahrheit und Irrthum im Darwinismus. Eine kritische Darstellung der organischen Entwickelungstheorie.« Berlin, C. Duncker, 1875.

25

Die Rückenmarksfunctionen der höheren Thiere machen etwa den Eindruck, wie die Leistungen eines Menschen, der unter der Knechtschaft eines strengen Herrn an der Ausbildung seiner allseitigen Anlagen verhindert worden ist, und sich beständig nur ganz bestimmten Verrichtungen hat widmen dürfen. Das Rückenmark der höheren Thiere ist durch seine beständige Nöthigung zu Handlangerdiensten für das Gehirn gleichsam versimpelt; aber daraus ist immer noch nicht zu schliessen, dass es Bewusstsein und Willen (die es bei den niederen Thieren offenbar besitzt) verloren habe, da es ja in der ihm übrig gelassenen Sphäre der Bethätigung deutliche Intelligenz entfaltet, und in abnormen pathologischen Fällen sich bald auch an die vicarirende Erfüllung selbstständigerer Aufgaben gewöhnt.

26

Maudsley, der die Unlösbarkeit des nicht abzuleugnenden teleologischen Problems von seinem materialistischen Standpunkt aus sehr wohl empfindet, findet sich in echt englischer Manier mit der Schwierigkeit durch Berufung auf den unerforschlichen göttlichen Rathschluss ab. Die Stelle ist zu charakteristisch für die englische Wissenschaft, als dass ich der Versuchung widerstehen könnte, sie hierherzusetzen. »Auf den Einwurf, den man uns hierauf machen könnte, dass die allmähliche Ausbildung dieser angeborenen Zweckmässigkeit in den Central-Organen des Nervensystems auf dem Wege der Erziehung an und für sich schon eine Zweckmässigkeit bekunde, können wir nur erwidern, dass dies nur, wenn auch in andern Worten, eine Bestätigung der Thatsache ist, dass die Dinge eben existiren, wie sie existiren« (d.h. also hier in teleologischer Beschaffenheit und Wirkungsweise existiren), »und unsere Ueberzeugung hinzufügen, dass die Wissenschaft nie im Stande sein wird, in den Rathschluss der Schöpfung einzudringen« (S. 72). Wo nur solch' ein englischer Naturforscher noch den Muth hernimmt, weiter zu forschen? Und dabei gehört ein Maudsley noch zum grünen Holz!

27

Vgl. meine Schriften: »Wahrheit und Irrthum im Darwinismus« Abschn. VII (»Mechanismus und Teleologie«), und »J. H. v. Kirchmann's erkenntnisstheoretischer Realismus«. No. 15-22.

28

Vgl. u. A. Zöllner »Ueber die Natur der Kometen« (Leipzig 1872) S. 320-327.

29

Zöllner sagt a. a. O. (S. 326-327): »Wie man sieht, würden durch die gemachte Annahme alle Ortsveränderungen der Materie, gleichgültig ob sie an unorganischen oder organischen Naturkörpern vor sich gehen, dem folgenden Gesetze unterworfen sein, welches im Wesentlichen bereits oben (S. 217) ausgesprochen war: ›Alle Arbeitsleistungen der Naturwesen werden durch die Empfindungen der Lust und Unlust bestimmt, und zwar so, dass die Bewegungen innerhalb eines abgeschlossenen Gebiete – von Erscheinungen sich so verhalten, als ob sie den unbewussten Zweck verfolgten, die Summe der Unlustempfindungen auf ein Minimum zu reduciren.‹«

30

Vgl. die anonyme Schrift: »Das Unbewusste vom Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie« (Berlin 1872) Cap. IV u. V.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 385-396.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3

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