XI. Das Unbewusste und das Bewusstsein in ihrem Werth für das menschliche Leben

[346] Den Werth des Unbewussten habe ich bisher genug hervorgehoben, so dass es scheinen könnte, als wollte ich mich einer Parteilichkeit für dasselbe dem Bewusstsein gegenüber schuldig machen. Diesen Vorwarf zurückzuweisen, den Werth des bewussten Denkens in Erinnerung zu bringen, und den Werth des Bewussten und Unbewussten und ihre verschiedene Stellung zum Leben mit einander zu vergleichen, ist die Aufgabe dieses Capitels.

Betrachten wir zunächst den Werth des Bewussten, also der bewussten Ueberlegung und der Anwendung der erworbenen bewussten Erkenntniss für den Menschen.

Die Grundfrage würde die sein: »kann Ueberlegung und Erkenntniss auf das Handeln und auf den Charakter bestimmend einwirken, und auf welche Weise?« Die bejahende Antwort, mit welcher der gemeine Menschenverstand nicht zögern würde, könnte durch die Erwägung in Zweifel gestellt werden, erstens, dass der bestimmte Wille, aus welchem die Handlung hervorgeht, aus einer Reaction des Charakters auf das Motiv entspringt, ein Process, der dem Bewusstsein ewig verschlossen bleibt, und zweitens, dass Wollen und Vorstellen incommensurable Dinge sind, weil sie ganz verschiedenen Sphären der Geistesthätigkeit angehören. Die Heterogenität und Incommensurabilität beider findet aber daran ihre Grenze, dass eine Vorstellung den Inhalt des Willens bildet, und eine Vorstellung sein Motiv oder Erregungsgrund, und die ewige Unbewusstheit des den Willen erzeugenden Processes würde nur dann jede Erkenntniss der Zusammengehörigheit von Motiv und Begehrung völlig unmöglich machen, wenn entweder der Charakter an sich schnell veränderlich wäre, oder keine nothwendige Gesetzmässigkeit in dem Processe der Motivation, sondern eine Freiheit des Willens[346] im Sinne der Indeterministen bestände. Da beide Bedingungen nicht zutreffen, so steht Jedem die Möglichkeit offen, sich wie der Arzt von denjenigen Arzneien, deren physiologische Wirkung ihm unbegreiflich ist, eine empirische Kenntniss zu sammeln, welche Begehrung durch jedes Motiv hervorgerufen werde und in welchem Grade. So weit die menschlichen Charaktere sich im Allgemeinen gleichen, wird diese Erkenntniss allgemeine empirische Psychologie sein, insofern aber die Charaktere verschieden sind, wird sie specielle Selbst- und Menschenkenntniss (Charakterologie) sein. Verbindet man hiermit die Kenntniss derjenigen psychologischen Gesetze, nach welchen die Erregbarkeit der verschiedenen Arten von Begehrungen zeitweise sich ändert, als z.B. das Gesetz der Stimmung, das der Leidenschaft, das der Gewohnheit u.s.w., und stellt man sich auf bald zu betrachtende Weise vor den Täuschungen des Intellectes sicher, die durch Affecte herbeigeführt werden, so wird man, alle diese Bedingungen in idealem Maasse erfüllt, für jedes Motiv die Art und den Grad des aus demselben folgenden Begehrens in jedem Augenblicke vorherwissen, und werden alsdann die in Capitel III. und IV. erwähnten Irrthümer über den Ausfall des unbewussten willenerzeugenden Processes von selbst fortfallen.

Da nun jedes Motiv nur die Form der Vorstellung haben kann, und das Auftauchen von Vorstellungen dem Einfluss des bewussten Willens unterworfen ist, so folgt aus dem Gesagten die Möglichkeit, durch willkürliche Erzeugung einer Vorstellung, die man als Motiv einer gewissen Begehrung kennt, mittelbar diese Begehrung zu erwecken. Da ferner der Wille nichts ist als die Resultante aller gleichzeitigen Begehrungen, und da die Vereinigung aller Componenten zu der einen Resultante die einfache Form einer algebraischen Summe hat, weil ja alle Componenten in Hinsicht auf eine zu thuende oder zu unterlassende Handlung nur die zwei Richtungen, positive oder negative, haben können, so folgt weiter die Möglichkeit, den Ausfall der Resultante dadurch zu beeinflussen, dass man durch willkürliches Sichvorhalten der geeigneten Motive eine oder mehrere neue Begehrungen in sich erweckt, oder bereits vorhandene verstärkt. Dasselbe Mittel gilt auch, um solche Begehrungen zu unterdrücken, welche zwar zu einer Aeusserung im Handeln aus äusserlichen Gründen doch so bald nicht gelangen würden, welche aber durch Störung der Stimmung, Beirrung des Intellects, Erzeugung nutzloser Unlustempfindungen u. s w. nachtheilig wirken. Niemals aber kann die bewusste Ueberlegung unmittelbar eine vorhandene[347] Begierde beeinflussen, sondern nur durch mittelbare Erregung einer entgegengesetzten. – Dass die angeführte Art und Weise der Beeinflussung des Willens durch den Intellect in der That die einzig mögliche und überall practisch vorkommende ist, wird Jeder leicht zugeben, der dieses Gebiet der Psychologie ein wenig zum Gegenstande seines Nachdenkens macht; dies, sowie dass der Gegenstand unserem eigentlichen Thema schon ferner liegt, hält mich von weiterer Ausführung desselben ab. Ich will nur noch anführen, dass sich allein von diesem Standpuncte aus eine Charakterveränderung aus bewusster Ueberlegung erklären lässt. Wir haben nämlich die Möglichkeit gesehen, in jedem einzelnen Falle den Ausfall der Resultante anders zu bestimmen, als es beim blossen Ueberlassen an das Wirken der sich von selbst darbietenden Motive geschehen würde, und dadurch die Möglichkeit, in jedem einzelnen Falle erfolgreich gegen die Affecte anzukämpfen, welche in Folge des einmal bestehenden Charakters am leichtesten erregbar sind und daher am häufigsten auftauchen. Wenn nun diese Unterdrückung bei jeder Gelegenheit regelmässig eine längere Zeit hindurch eintritt, so wird sich nach dem Gesetze der Gewohnheit durch die dauernde Unthätigkeit und Nichtbefriedigung des betreffenden Triebes seine Erregungsfähigkeit schwächen, dagegen werden die häufig und stark erregten Anlagen sich verstärken, d.h. der Charakter wird sich ändern. So haben wir auch die Möglichkeit einer Charakterveränderung durch bewusste Ueberlegung, freilich nur mit Hülfe langer Gewohnheit, begriffen (vgl. Phil. Monatshefte Bd. IV Hft. 5 über Bahnsen's Charakterologie).

Hiermit ist die oben gestellte Grundfrage in ihren beiden Theilen bejahend beantwortet und wir können nun einen kurzen Ueberblick nehmen über das, was bewusste Ueberlegung und Erkenntniss dem Menschen in practischer Beziehung zu bieten vermag.

1. Verhinderung von Täuschungen der Erkenntniss durch den Einfluss von Affecten. Schon früher haben wir gesehen, wie das Auftauchen der Vorstellungen wesentlich vom augenblicklichen Interesse abhängig ist. Daher kommt es, dass bei vorwaltendem einseitigen Interesse, z.B. Affecten, vorzugsweise immer Wahrscheinlichkeitsgründe für den dem Interesse zusagenden Fall vor das Bewusstsein treten, und weniger Gegengründe, dass Scheingründe pro zu gern angenommen werden, um als falsch erkannt zu werden, dass aber Scheingründe contra, wenn sie überhaupt auftauchen, sogleich entlarvt, und selbst wahre Gründe contra unterschätzt,[348] oder durch Scheingründe widerlegt werden, und so entsteht der Irrthum. Kein Wunder also, dass uns Schreck, Jähzorn, sinnliche Begierde so die Besinnung rauben können, dass wir nicht mehr wissen, was wir sagen oder thun, dass der Hass uns an den Feinden lauter Fehler, die Liebe lauter Vorzüge an den Geliebten sehen lässt, dass Furcht in düsterem, Hoffnung in rosigem Lichte malt, dass erstere uns oft die auf der Hand liegenden Rettungsmittel nicht mehr erkennen lässt, letztere uns das Unwahrscheinlichste wahrscheinlich macht, wenn es nur unseren Wünschen entspricht, dass wir uns meist zu unserem Vortheil, selten zu unserem Nachtheil irren, und nur zu häufig das für billig und gerecht halten, was für uns vortheilhaft ist.

Selbst in die reine Wissenschaft schleicht sich das Interesse ein, denn eine Lieblingshypothese schärft den Blick für Alles, was sie bestätigt, und lässt das Naheliegendste, was ihr zuwiderläuft, übersehen, oder zu einem Ohr herein, zum anderen hinausgehen.

Hiergegen giebt es zwei Mittel; das erste ist, dass man sich ein- für allemal einen vom Grade des Affects oder Interesses abhängigen empirischen Reductionscoefficienten bildet, und mit diesem in jedem einzelnen Falle den gewonnenen Wahrscheinlichkeitscoefficienten des Urtheils multiplicirt, das zweite, dass man keinen Affect in sich bis zu dem Grade aufkommen lässt, wo er das Urtheil in merklicher Weise zu trüben anfängt. Letzteres Mittel ist allein stichhaltig, aber in der Welt missliebig, weil unbequem und nur durch lange andauernde Gewöhnung an Selbstbeherrschung zu erreichen; ersteres versagt bei starken Affecten und Leidenschaften, wo alle Geisteskräfte sich auf einen Punct concentriren, völlig den Dienst; auch ist die Grösse des Reductionscoefficienten schwer zu bestimmen, noch schwieriger die jedesmalige Schätzung des Grades des eigenen Affects. – Der Werth der Klarheit des Intellects (sôphrosynê) ist sehr hübsch bei einem Wortstreit zu beobachten, wo der Eine sich vom Affecte hinreissen lässt, der Andere nicht. Bei Weibern geht fast jeder sachliche Streit in einen persönlichen über, gleichviel oh in feinste Ironie oder in Hökerschimpfworte gekleidet. Noch eclatanter ist der Werth der Besonnenheit und des Niederhaltens von Affecten bei Gefahren.

2. Verhinderung der Unbedachtsamkeit und Unschlüssigkeit. Der grösste Theil aller Reue ja der Welt entsteht aus unbedachtsamem Handeln, bei welchem die möglichen Folgen der That nicht nach allen Richtungen hin überlegt waren, so[349] dass man alsdann von ihrem Eintritt schmerzlich überrascht wird. Fallen die Übeln Folgen auf den Thäter selbst zurück, so wird die Unbedachtsamkeit zum Leichtsinn. Alle diese Reue wäre also durch Ueberlegung beim Handeln zu verhindern. – Die Unschlüssigkeit andererseits geht theils aus Mangel an Muth zum Handeln, theils aus Mangel an Vertrauen zur eigenen Ueberlegung hervor. Die Charaktereigenschaft des Muthes lässt sich aber auch durch bewusste Vernunft ersetzen, da Muth das Riskiren eines Uebels zur Vermeidung eines zweiten, oder zur Erlangung eines Vortheils ist, unter der Voraussetzung, dass die Chancen für den Versuch günstig sind, sei es in Folge des Verhältnisses der Grösse der beiden Uebel, oder der Wahrscheinlichkeiten ihres Eintretens. Den Mangel an Vertrauen zur eigenen Ueberlegung corrigirt ebenfalls die Ueberlegung selbst, indem sie sich sagt, dass Niemand mehr thun kann, als in seinen Kräften steht, dass er daher, wenn er dieses Mögliche gethan hat, den Erfolg der Handlung ruhig abwarten muss, dass aber das zu lange Ueberlegen nicht bloss in der Regel nicht weiter führt, als ein kurzes, sondern durch die Verzögerung der Handlung viel mehr schadet, als eine etwaige Verbesserung des Resultates nutzen kann.

3. Angemessene Auswahl der Mittel zum Zweck. Wenn ein Zweck unvernünftig ist, so ist er selbst ein zweckwidriges Mittel zu dem Endzweck jedes Wesens, grösstmöglichem Gesammtglück des Lebens, der, wenn er nicht Jedem klar bewusst ist, doch als dumpf durchklingender Orgelpunct allen Accorden des Lebens zu Grunde liegt. Aber auch wo die Zwecke vernünftig sind, oder ihre Wahl und Beurtheilung dem Einzelnen gar nicht anheimsteht, sondern ihm nur die Wahl der Mittel ganz oder theilweise überlassen ist, wird durch unvernünftige Wahl der Mittel unsäglich viel übel gemacht, was nie wieder gut gemacht werden kann. Bei wichtigen Sachen fällt dies genügend auf, aber weit grösser ist der Einfluss bei den tausend kleinen Sorgen, Plackereien, Bequemlichkeiten und Unbequemlichkeiten, Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten des Tages, in dem Verkehr des Geschäftes, des Dienstes, der Berufsthätigkeit, der Geselligkeit, des Familienlebens, der Herrschaft und Dienerschaft; hier ist es besonders, wo die vorliegenden Zwecke theils durch unpassende Mittel verfehlt, theils mit einem unverhältnissmässigen Aufwand erreicht werden, und wo auf solche Weise die Leute sich und Anderen durch allerlei Noth, Plage, Schererei, Aerger und Verdruss das Leben noch schwerer und[350] bitterer machen, als es ohnehin schon ist. Und weit mehr von allem diesen kommt auf die bornirte Mittelmässigkeit der Normalmenschen und ihre unpassende Wahl der Mittel zu den vorliegenden Zwecken als von bösem Willen, so dass man manches Mal versucht sein könnte, auszurufen: »wenn die Menschen lieber schlechter wären, wenn sie bloss nicht so dumm wären!«

4. Die Bestimmung des Willens nicht nach dem augenblicklichen Affect, sondern nach dem Princip des grösstmöglichsten eigenen Gesammtglückes. Das Thier ist mit den wenigen Ausnahmen der höchststehenden, vom Menschen geschulten Thiere in seiner Willensbestimmung wesentlich vom augenblicklichen, sinnlich und instinctiv erregten Affect abhängig; wo der Instinct nicht die Zukunft mit in Berechnung bringt, befasst sich auch das Bewusstsein des Thieres nicht leicht mit derselben, und nur zu oft muss es unter den Folgen seines absoluten Leichtsinnes leiden. Der Mensch geniesst durch sein höher entwickeltes Bewusstsein den Vorzug, den Affecten der sinnlichen Gegenwart Begehrungen gegenüberstellen zu können, welche durch Vorstellungen der Zukunft willkürlich erzeugt sind, und hat hierin ein Mittel, dem Ich der Zukunft seine ideelle Gleichberechtigung mit dem Ich der Gegenwart zu sichern. Nun ist aber durch die geringere Lebhaftigkeit der willkürlichen Vorstellungen der Stärkegrad der gegenüber zu stellenden Begehrungen erheblich beschränkt, und einem einigermassen starken, durch sinnliche Gegenwart erzeugten Affect sind sie nicht mehr erfolgreich Trotz zu bieten im Stande, vielmehr führt ein solcher den Menschen auf den Standpunct der Thierheit zurück, und wenn er mit massigem Schaden und Reue davon kommt, so hat er es dann nur noch seinem guten Glück zu danken: wenn also das Recht der zukünftigen Ich's und das Princip des grösstmöglichsten eigenen Gesammtglückes gewahrt werden soll, so bleibt nichts übrig, als das Aufkommen der Affecte bis zu einem solchen nicht mehr zu bewältigenden Grade zu verhindern, d.h. sie früher zu unterdrücken, am sichersten und leichtesten im Entstehen. Hier haben wir den zweiten Grund zur Unterdrückung der Affecte gefunden. – Eine wichtige Aufgabe der Ueberlegung ist ferner die, zu entscheiden, welcher von den vielen gleichzeitigen, in einem Menschen sich kreuzenden Zwecken des Lebens in jedem Augenblicke am besten gefördert werde, um in jedem Augenblicke möglichst viel für das Gesammtglück beizutragen; denn die sich fortwährend ändernden Verhältnisse verlangen auch, dass man die Zwecke, an deren Erreichung[351] man gerade arbeitet, fortwährend ändert, theils ganz fallen lässt, theils zu günstigerer Zeit wieder aufnimmt.

5. Werth der bewussten Vernunft für die Sittlichkeit. Die allermeisten unsittlichen Handlungen werden durch einen klugen Egoismus, der nach dem Princip des grösstmöglichsten eigenen Gesammtglückes verfährt, vollkommen verhindert, namentlich in einem Staat mit geordneter Rechtspflege und einer Gesellschaft, welche solche Unsittlichkeiten, die der Staat nicht strafen kann, mit ihrer Verachtung bestraft. Dass nicht viele Fälle übrig bleiben, in denen das Gebot der Sittlichkeit sich nicht auf egoistische Weise begründen liesse, wird schon dadurch bewiesen, dass so viel Ethiken offen oder versteckt auf dem Egoismus und dem Princip des grösstmöglichsten eigenen Gesammtglückes basiren, z.B. die Epikurische, Stoische, Spinozistische. Für alle solche Fälle sieht man ein, dass die bisher besprochene Vernunftanwendung für die Sittlichkeit ausreichen muss, und in der That ist nächst der Gewohnheit durch Zwang diese Zurückführung auf den Egoismus fast die einzig erfolgreiche Art, Moral zu lehren, und zu bessern; was durch sie nicht erreicht wird, dürfte für den Standpunct der Individualethik wohl schwerlich überhaupt erreicht werden.

Wenn man aber von dem practisch lebendigen Wirken der Sittenlehre absieht, und den theoretischen Werth der ethischen Systeme in's Auge fasst, so möchte wohl kein Zweifel obwalten, dass, welche theoretischen Grundlagen der Ethik man auch für die wahren halte, es nur solche sein können, die in Grundsätzen der bewussten Vernunft bestehen, wenn dieselben irgend welchen wissenschaftlichen Halt besitzen und fähig sein sollen, ein System zu tragen; weiter will ich mich hier nicht aussprechen, um nicht zu weit vom Thema abzukommen.

6. Richtige Wahl des Berufes, der Mussebeschäftigung, des Umganges und der Freunde. »Wer mit einem Talent geboren ist, findet in demselben sein schönstes Dasein« (Göthe), darum ist es sehr wichtig, einerseits das Talent in sich zu erkennen, das schon recht bedeutend sein und Einem dennoch völlig entgehen kann, und andererseits sich nicht in jugendlicher Begeisterung für eine Sache ein Talent einzubilden, das man nicht hat. Wäre nicht Beides häufig der Fall, so würden nicht so viele Menschen ihren Beruf verfehlen, dessen Wahl trotz aller Beschränkungen doch dem Individuum noch ziemlich viel Spielraum lässt. Noch schwerer ist es, von mehreren Talenten das grösste herauszufinden, leichter dagegen[352] die ebenfalls wichtige Wahl der dilettantischen Mussebeschäftigung, weil von ihrem Wechsel nicht so viel abhängt, und man dadurch Zeit zum Versuchen gewinnt. Wie die Wahl des Berufes eine grosse Selbstkenntniss, so erfordert die Wahl des Umganges und der Freunde eine grosse Welt- und Menschenkenntniss. Es ist dies einmal ein menschliches Bedürfniss, und nicht ob, sondern mit wem man umgehen will, hat man zu wählen. Die Bedeutung der Sache ermisst man, wenn man erwägt, wie der Besitz eines einzigen, völlig harmonirenden und wahren Freundes über die grössten Unglücksfälle zu trösten vermag, wie bittere Enttäuschungen aber die Wahl ungeeigneter Personen bereiten kann. Trotzdem siebt man oft Freundschaften schliessen und lange Zeit bestehen, die so gar nicht zusammenpassen, dass man denken sollte, die Leute müssten mit Blindheit geschlagen sein; in der That aber, betrachteten die Menschen im Stillen sich nicht wirklich als so unvernünftig, wie sie sind, so wäre auch das nicht möglich, dass so gewöhnlich Versöhnungen nach Vorfällen stattfinden, die auf Charakterfehler bezogen nie vergeben werden könnten und nur durch Unvernunft zu entschuldigen sind, daher auch die Menschen ihre schlechten Streiche gern als Verirrungen bezeichnen. – Am bittersten rächt sich die unverständige Freundeswahl in der Ehe, weil hier die Lösung des Verhältnisses am schwersten ist, und doch sieht man hier gerade auf alle anderen Rücksichten (Schönheit, Geld, Familie) mehr als auf die Harmonie der Charaktere. Wären die Leute nicht hernach so geistig indifferent, sich wohl oder übel in einander zu schicken, wenn sie sehen, dass sie sich in einander geirrt haben, so würde es noch viel mehr schlechte Ehen in der Welt geben, als es so schon giebt.

7. Unterdrückung nutzloser Unlustempfindungen. Lust und Unlust besteht in Befriedigung und Nichtbefriedigung des Begehrens, welche von Aussen gegeben werden, und welche der Mensch nur dadurch beeinflussen kann, dass er in die äusseren Umstände entsprechend eingreift, was der Zweck alles Handelns ist Wenn seine Macht dazu nicht ausreicht, die Befriedigung seiner Begehrungen herbeizuführen, so muss er eben die Unlust tragen, und kann dann diese nur dadurch vermindern oder vernichten, dass er die Begehrung vermindert oder vernichtet, in deren Nichtbefriedigung die Unlust besteht. Wenn man dies consequent bei jeder Unlust durchführt, so stumpft man nach dem Gesetz der Gewohnheit die Erregungsfähigkeit der Begehrungen ab, vermindert mithin ebenso die[353] zukünftigen Lustempfindungen als die zukünftigen Unlustempfindungen. Wer mit mir der Ansicht ist, dass im Menschenleben durchschnittlich die Summe der Unlustempfindungen die Summe der Lustempfindungen bei Weitem überwiegt, wird dieses allgemeine Princip der Abstumpfung als logische Consequenz dieser Ansicht zugeben müssen; wer aber dieser Ansicht nicht oder nur bedingungsweise beitritt, den verweise ich auf die nicht unbeträchtliche Anzahl derjenigen Unlustempfindungen, denen gar keine Lustempfindung gegenübersteht, d.h. bei denen die Befriedigung der zu Grunde liegenden Begehrung ausser dem Bereich der Möglichkeit liegt, als z.B. bei Schmerz über vergangene, nicht mehr ungeschehn zu machende Ereignisse, Aerger, Ungeduld, Neid, Missgunst, diejenige Reue, welche keinen sittlichen Nutzen bringen kann, ferner übermässige Empfindlichkeit, grundlose Eifersucht, übermässige Aengstlichkeit und Besorglichkeit für die Zukunft, zu hoch verstiegene Ansprüche im Leben u.s.w. – Man erwäge nur, wie viel das Leben der Menschheit gewinnen würde, wenn man jeden einzelnen dieser Feinde des Seelenfriedens aus der Welt streichen könnte, – der Vortheil wäre unberechenbar; und doch steht einem Jeden frei, durch Anwendung der bewussten Vernunft sein Leben von diesen Störenfrieden zu reinigen, wenn er nur bei einigen misslungenen Versuchen nicht gleich den Muth zum Kampfe verliert. – So haben wir hier einen dritten Grund zur Unterdrückung der Affecte gefunden.

8. Gewährung des höchsten und dauerndsten menschlichen Genusses im Forschen nach Wahrheit. Je concentrirter und heftiger ein Genuss ist, desto kürzere Zeit kann er nur dauern, bis die Reaction eintritt, und desto länger muss man bis zu seiner Wiederholung warten; man denke an die Tafelfreuden und besonders den Geschlechtsgenuss. Je ruhiger, klarer und reiner ein Genuss ist, desto dauernder kann er anhalten, desto geringere Pausen zur Erholung erfordert er; man vergleiche den musikalischen, poetischen und wissenschaftlichen Genuss. So kommt es, dass die stärksten Genüsse wegen der Kürze ihrer Dauer und ihrer nothwendigen Seltenheit nicht die summarisch grössten sind, dass vielmehr die geistigsten, vor allen der wissenschaftliche, wegen ihrer Dauer eine viel grössere Summe von Lust in derselben Zeit geben. Die anderen Gründe, dass der im Streben nach Wahrheit liegende Genuas der höchste sei, sind so bekannt, dass ich meine Leser damit verschonen will. Auch wird Niemand zweifelhaft sein, dass wir die Hauptmasse der Wissenschaft, namentlich die Fülle ihres[354] Materials und die Verarbeitung desselben, der bewussten Vernunft verdanken.

9. Die Unterstützung der künstlerischen Production durch bewusste Arbeit und Kritik. Ich kann mich hier wesentlich auf das in Cap. B. V. Gesagte berufen. Wenn auch das Unbewusste die Erfindung zu liefern hat, so muss doch erstens die Kritik hinzutreten, das Schwache gar nicht ausführen und das Gute von Ausschweifungen der Phantasie reinigen, und zweitens die bewusste Arbeit die Pausen ausfüllen, wo die Eingebungen des Unbewussten schweigen, und die bewusste Concentration des Willens mit eisernem Fleiss das Werk zu Ende führen, wenn nicht die Begeisterung für dasselbe bei halbfertiger Arbeit an Ueberdruss ersterben soll. –

Das bisher über den Werth der bewussten Vernunft und Erkenntniss Gesagte konnte in Ansehung unseres Hauptzweckes nur in skizzenhaften Andeutungen bestehen, die leicht Allzubekanntes gebracht haben mögen; die Gelegenheiten zu interessanten psychologischen Bemerkungen mussten unbenutzt vorübergelassen werden, und dem Leser die lebendige Bekleidung der dürren Abstractionen anheimgestellt bleiben, und doch konnte eine solche Zusammenstellung nicht unterlassen werden, um dem Werth des Unbewussten, welcher in allen früheren Capiteln hervorgehoben wurde, ein Gegengewicht zu bieten.

Auch diesen noch einmal ganz kurz zusammenzufassen, sei mir hier vergönnt.

1. Das Unbewusste bildet und erhält den Organismus, stellt innere und äussere Schäden wieder her, leitet seine Bewegungen zweckmässig, und vermittelt seinen Gebrauch für den bewussten Willen.

2. Das Unbewusste giebt im Instincte jedem Wesen das, was es zu seiner Erhaltung nöthig braucht, und wozu sein bewusstes Denken nicht ausreicht, z.B. dem Menschen die Instincte zum Verständniss der Sinneswahrnehmung, zur Sprach- und Staatenbildung und viele andere.

3. Das Unbewusste erhält die Gattungen durch Geschlechtstrieb und Mutterliebe, veredelt sie durch die Auswahl in der Geschlechtsliebe, und führt die Menschengattung in der Geschichte unverrückt dem Ziele ihrer möglichsten Vollkommenheit zu.

4. Das Unbewusste leitet die Menschen beim Handeln oft durch Ahnungen und Gefühle, wo sie sich durch bewusstes Denken nicht zu rathen wüssten.[355]

5. Das Unbewusste fördert den bewussten Denkprocess durch seine Eingebungen im Kleinen wie im Grossen, und führt die Menschen in der Mystik zur Ahnung höherer, übersinnlicher Einheiten.

6. Es beglückt die Menschen durch das Gefühl für's Schöne und die künstlerische Production. –

Vergleichen wir nun Bewusstes und Unbewusstes mit einander, so springt zunächst in die Augen, dass es eine Sphäre giebt, welche überall dem Unbewussten allein überlassen bleibt, weil sie dem Bewusstsein ewig unzugänglich ist; wir finden zweitens eine Sphäre, welche bei gewissen Wesen nur dem Unbewussten gehört, bei anderen aber auch dem Bewusstsein zugänglich ist; sowohl die Stufenleiter der Organismen, als der Gang der Weltgeschichte kann uns belehren, dass aller Fortschritt in Vergrösserung und Vertiefung der dem Bewusstsein aufgeschlossenen Sphäre besteht, dass also das Bewusstsein in gewissem Sinne das Höhere von beiden sein muss. Betrachten wir ferner im Menschen die sowohl dem Unbewussten, als dem Bewusstsein angehörige Sphäre, so ist soviel gewiss, dass Alles, was irgend das Bewusstsein zu leisten vermag, vom Unbewussten ebenfalls geleistet werden kann, und zwar immer noch treffender, und dabei schneller und für das Individuum bequemer, da man sich für die bewusste Leistung anstrengen muss, während die unbewusste von selbst und mühelos kommt. Diese Bequemlichkeit, sich dem unbewussten, seinen Gefühlen und Eingebungen zu überlassen, kennen auch die Menschen recht wohl, und darum ist bei allen faulen Köpfen die bewusste Vernunftanwendung in Allem und Jedem so verschrieen. Dass das Unbewusste wirklich alle Leistungen der bewussten Vernunft überbieten kann, das lässt sich nicht nur von vornherein aus dem Hellsehen des Unbewussten erwarten, sondern wir sehen es auch realisirt in jenen glücklichen Naturen, die Alles besitzen, was andere mühsam erwerben müssen, die nie einen Kampf des Gewissens haben, weil sie immer von selbst ihrem Gefühle nach richtig und sittlich handeln, sich nie anders als tactvoll benehmen können, Alles spielend lernen, Alles, was sie anfangen, mit glücklichem Griffe vollenden, und in ewiger Harmonie mit sich leben, ohne je viel zu überlegen, was sie thun, oder überhaupt im Leben Schwierigkeiten und mühevolle Arbeit kennen zu lernen. In Bezug auf Handeln und Benehmen sieht man die schönsten Blüthen dieser instinctiven Naturen nur bei Frauen, die dann aber auch an bezaubernder Weiblichkeit Alles überbieten. –

Was liegt nun aber für ein Nachtheil in dem sich Ueberlassen[356] an das Unbewusste? Der, dass man niemals weiss, woran man ist und was man hat, dass man im Finstern tappt, während man die Laterne des Bewusstseins in der Tasche trägt; dass es dem Zufall überlassen ist, ob denn auch die Eingebung des Unbewussten kommen wird, wenn man sie braucht; dass man kein Kriterium als den Erfolg hat, was eine Eingebung des Unbewussten und was ein querköpfiger Einfall der launischen Phantasie sei, auf welches Gefühl man sich verlassen könne, und auf welches nicht; endlich, dass man das bewusste Urtheil und Ueberlegung, welche man nie ganz entbehren kann, nicht übt, und dass man sich dann vorkommenden Falles mit elenden Analogien statt vernünftiger Schlüsse und allseitiger Uebersicht begnügen muss. Nur das Bewusste weiss man als sein Eigen, das Unbewusste steht Einem als etwas Unbegreifliches, Fremdes gegenüber, von dessen Gnade man abhängig ist; das Bewusste hat man als alle Zeit fertigen Diener, dessen Gehorsam man stets erzwingen kann, – das Unbewusste schirmt Einen wie eine Fee und hat immer etwas unheimlich Dämonisches; auf die Leistung des Bewusstseins kann ich stolz sein, als auf meine That, die Frucht meines Schweisses, – die Leistung des Unbewussten ist gleichsam ein Geschenk der Götter, und der Mensch nur ihr begünstigter Bote, sie kann ihn also nur Demuth lehren; das Unbewusste ist, sobald es da ist, fix und fertig, hat über sich selber kein Urtheil und muss daher so genommen werden, wie es einmal ist, – das Bewusste ist sein eigenes Maass, es beurtheilt sich selbst und verbessert sich selbst, es ist jeden Augenblick zu verändern, sobald eine neu gewonnene Erkenntniss oder veränderte Umstände es Verlangen; ich weiss, was an meinem bewusst erworbenen Resultat Gutes ist, und was ihm zur Vollkommenheit fehlt, darum giebt es mir das Gefühl der Sicherheit, weil ich weiss, was ich habe, aber auch das der Bescheidenheit, weil ich weiss, dass es noch unvollkommen ist; das Unbewusste lässt den Menschen fertig dastehen, er kann sich nie in den Leistungen des Unbewussten vervollkommnen, weil seine erste, wie seine letzte als unwillkürliche Eingebungen auftauchen, – das Bewusstsein enthält die unendliche Perfectibilität im Individuum und in der Gattung in sich, und erfüllt deshalb den Menschen mit dem beseligenden unendlichen Streben nach Vervollkommnung. Das Unbewusste ist unabhängig vom bewussten Willen jedes Momentes, aber sein Functioniren ist ganz abhängig vom unbewussten Willen, den zu Grunde liegenden Affecten, Leidenschaften und Grundinteressen des Menschen, – das Bewusste ist dem[357] bewussten Willen jedes Momentes unterthan und kann sich vom Interesse und den Affecten und Leidenschaften völlig emancipiren; das Handeln nach den Eingebungen des Unbewussten hängt mithin ausschliesslich von dem angeborenen und anerzogenen Charakter ab, und ist je nach diesem gut oder schlecht, – das Handeln aus dem Bewusstsein lässt sich nach Grundsätzen regeln, welche die Vernunft dictirt.

Man wird nach diesem Vergleich nicht zweifelhaft sein, das Bewusstsein für uns als das Wichtigere anzuerkennen und hiermit unseren obigen Schluss aus der organischen Stufenordnung und dem Fortschritt der Geschichte zu bestätigen. Ueberall, wo das Bewusstsein das Unbewusste zu ersetzen im Stande ist, soll es dasselbe ersetzen, eben weil es dem Individuum das Höhere ist und alle Einwände hiergegen, als ob die stete Anwendung bewusster Vernunft pedantisch mache, zu viel Zeit koste u.s.w., sind falsch, denn Pedanterie entsteht erst aus unvollkommenem Vernunftgebrauch, wenn man bei Anwendung der allgemeinen Regel den Unterschieden des Besonderen nicht Rechnung trägt, und zu viel Zeit kostet die Ueberlegung nur bei mangelndem Erkenntnissmaterial und ungenügender theoretischer Vorbereitung für die Praxis, oder bei Unschlüssigkeit, welche nur durch den Vernunftgebrauch selber beseitigt werden kann. Man soll also die Sphäre der bewussten Vernunft möglichst zu erweitern suchen, denn darin besteht aller Fortschritt des Weltprocesses, alles Heil der Zukunft. Dass man diese Sphäre nicht positiv überschreite, dafür ist schon durch die Unmöglichkeit gesorgt; aber eine andere Gefahr liegt bei diesem Bestreben allerdings nahe, und vor ihr zu warnen, ist hier der Ort. Die bewusste Vernunft ist nämlich nur negirend, kritisirend, controlirend, corrigirend, messend, vergleichend, combinirend, ein- und unterordnend, Allgemeines aus Besonderem inducirend, den besonderen Fall nach der allgemeinen Regel einrichtend, aber niemals ist sie schöpferisch productiv, niemals erfinderisch; hierin hängt der Mensch ganz vom Unbewussten ab, wie wir früher gesehen haben, und wenn er die Fähigkeit einbüsst, die Eingebungen des Unbewussten zu vernehmen, so verliert er den Quell seines Lebens, ohne den er im trockenen Schematismus des Allgemeinen und Besonderen sein Dasein einförmig weiter schleppen würde. Darum ist ihm das Unbewusste unentbehrlich, und wehe dem Zeitalter, das seine Stimme gewaltsam unterdrückt, weil es in einseitiger Ueberschätzung des Bewusst-Vernünftigen ausschliesslich dieses gelten lassen will; dann fällt[358] es unrettbar in einen wässerigen, seichten Rationalismus, der sich in kindisch greisenhafter Altklugheit brüstend überhebt, ohne für seine Kinder irgend etwas Positives thun zu können, wie die jetzt von uns belächelte Zeit der Wolff-Mendelssohn-Nicolai'schen Aufklärerei. Nicht mit roher Faust zerdrücken darf man die zarten Keime der unbewussten Eingebungen, wenn sie wieder kommen sollen, sondern kindlich andächtig ihnen lauschen, und mit liebevoller Phantasie sie erfassen und gross nähren. Und dies ist die Gefahr, der sich Jeder aussetzt, welcher einseitig ganz von bewusster Vernunft sein Dasein abhängig zu machen sucht, wenn er sie auf Kunst und Gefühl und Alles übertragen will, und das Walten des Unbewussten sich zu verläugnen sucht, wo es ihm nur immer möglich scheint. Darum ist gegen die verstandesmässige Erziehung unserer Zeit die Beschäftigung mit den Künsten ein so nöthiges Gegengewicht, als in welchen das Unbewusste seinen unmittelbarsten Ausdruck findet, freilich nicht ein solches technisches Kunstexercitium, wie es heutzutage aus Mode und Eitelkeit getrieben wird, sondern Einführung in das Gefühl für's Schöne, in das Verständniss und den wahren Geist der Kunst. Ebenso ist es wichtig, die Jugend mit dem Thierleben als dem unverfälschten Born reiner Natur mehr bekannt zu machen, damit sie in ihm ihr eigenes Wesen in vereinfachter Gestalt verstehen lerne, und an ihm sich von der Unnatur und Verzerrung unserer gesellschaftlichen Zustände erquicke und erhole. Ferner sollte man sich ganz besonders hüten, das weibliche Geschlecht zu vernünftig machen zu wollen, denn da, wo das Unbewusste erst zum Schweigen gebracht werden muss, gelingt dies doch nur in widerlichen Zerrbildern; wo aber die unbewusste Anlage mit den Forderungen des Bewusstseins übereinstimmt, ist es eine unnütze und für das Allgemeine schädliche Arbeit. Das Weib verhält sich nämlich zum Manne, wie instinctives oder unbewusstes zum verständigen oder bewussten Handeln; darum ist das echte Weib ein Stück Natur, an dessen Busen der dem Unbewussten entfremdete Mann sich erquicken und erholen und vor dem tiefinnersten lauteren Quell alles Lebens wieder Achtung bekommen kann; und um diesen Schatz des ewig Weiblichen zu wahren, soll auch das Weib vom Manne vor jeder Berührung mit dem rauhen Kampfe des Lebens, wo es die bewusste Kraft zu entfalten gilt, möglichst bewahrt werden, und den Bussen Naturbanden der Familie aufbehalten bleiben. Freilich liegt auch der hohe Werth des Weibes für den Mann nur in der Uebergangsperiode, wo die Spaltung zwischen Bewusstem[359] und Unbewusstem schon erfolgt, aber die Wiederversöhnung beider noch nicht vollzogen ist. Dieses Uebergangsstadium, in dem sich heute noch die gesammten Culturnationen befinden, wird auch für alle Zukunft dem Individuum in seiner Entwickelungsperiode nicht erspart bleiben, und deshalb wird das ewig Weibliche für alle Zeit ein unersetzliches Ergänzungs- und Bildungsmoment für die Jugendzeit des männlichen Geschlechts bleiben. Es ist nicht zu viel gesagt, dass für einen jungen Mann edler weiblicher Umgang weit fördernder ist als männlicher, und in um so höherem Maasse, je philosophischer der Mann veranlagt ist; denn weiblicher Umgang verhält sich zu männlichem ähnlich, wie die Umschau im Leben zur Umschau in Büchern; der männliche Umgang kann durch Bücher ersetzt werden, der weibliche niemals. – Endlich sollte man Alles, was wir dem Unbewussten verdanken, als Gegengewicht gegen die Vorzüge der bewussten Vernunft beständig sich und Anderen vor Augen halten, damit der schon halbversiegte Quell alles Wahren und Schönen nicht vollends eintrockene, und die Menschheit in ein vorzeitiges Greisenalter eintrete; und auf dieses Bedürfniss hinzuweisen, war ein mächtiger Impuls mehr, mich zur schriftlichen Ausführung der in diesem Werke vorliegenden Gedankenarbeit zu bestimmen.[360]

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 346-361.
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Die Reise nach Braunschweig

Die Reise nach Braunschweig

Eine Reisegruppe von vier sehr unterschiedlichen Charakteren auf dem Wege nach Braunschweig, wo der Luftschiffer Blanchard einen spektakulären Ballonflug vorführen wird. Dem schwatzhaften Pfarrer, dem trotteligen Förster, dem zahlenverliebten Amtmann und dessen langsamen Sohn widerfahren allerlei Missgeschicke, die dieser »comische Roman« facettenreich nachzeichnet.

94 Seiten, 5.80 Euro

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Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

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