X. Das Unbewusste in der Geschichte

[322] Natur und Geschichte oder die Entstehung der Organismen und die Entwickelung des Menschengeschlechtes sind zwei parallele Probleme. Die Frage heisst in beiden Fällen: particuläre Zufälligkeit oder allgemeine Nothwendigkeit der Resultate, todte Causalität oder lebendige Zweckmässigkeit, blosses Spiel der Atome und Individuen oder einheitlicher Plan und Leitung des Ganzen? Es wird dem, welcher die Frage für die Natur zu Gunsten der Zweckmässigkeit entschieden hat, nicht schwer werden, dies auch für die Geschichte zu thun. Was dabei täuschen kann, ist der Schein der Freiheit der Individuen. Zunächst glaube ich mich darauf berufen zu können, dass die neuere Philosophie einstimmig die Frage der Willensfreiheit dahin entschieden hat, dass von einer empirischen Freiheit des einzelnen Willensactes im Sinne der Unbedingtheit keine Rede sein könne, da dieser wie jede andere Naturerscheinung unter dem Gesetze der Causalität steht und aus dem augenblicklich gegebenen geistigen Zustande des Menschen und den auf ihn wirkenden Motiven mit Nothwendigkeit folgt, dass vielmehr, wenn von einer ausserhalb der naturgesetzlichen Causalität stehenden Willensfreiheit die Rede sein kann, diese höchstens noch in dem übersinnlichen Gebiet (mundus noumenon), in Kant's intelligibelm Charakter, gesucht (ich sage nicht: gefunden) werden kann, aber keinenfalls im einzelnen Willensacte wohnen kann, da jeder solche in die Zeit fällt, also in das Gebiet der Erscheinungswelt gehört und damit dem Causalitätsgesetze, d.h. der Nothwendigkeit, unterworfen ist. Dies und die Gründe, warum wir dem Schein einer Willensfreiheit unterworfen sind, ist nachzulesen in Schopenhauer's Schrift: »Ueber die Freiheit des Willens.«[322]

Aber gesetzt den Fall, wir liessen sogar die empirische Willensfreiheit gelten, so würde, wenn wir überhaupt einen planvollen Entwickelungsgang in der Geschichte anerkennen, dieser doch nur dann das Resultat der Freiheit der Individuen sein können, wenn das Bewusstsein des nächsten zu thuenden Schrittes mit seiner ganzen Bedeutung und seinen Folgen in jedem mit Freiheit an der Geschichte Mitwirkenden vorhanden wäre, ehe er thätig eingreift.

Allerdings nähern wir uns seit dem letzten Jahrhundert jenem idealen Zustande, wo das Menschengeschlecht seine Geschichte mit Bewusstsein macht, aber doch nur sehr von Weitem und in hervorragenden Köpfen, und Niemand wird behaupten wollen, dass der bei Weitem grössere schon zurückgelegte Theil des ganzen Weges auf diese Weise überwunden sei. Denn die Zwecke des Einzelnen sind immer selbstsüchtig. Jeder sucht nur sein Wohl zu fördern, und wenn dies zum Wohle des Ganzen ausschlägt, so ist das sicher nicht sein Verdienst; die Ausnahmen von dieser Regel sind so selten, dass sie für das grosse Ganze gar nicht in Betracht kommen. Das Wunderbare ist aber dabei, dass auch der Geist, der das Böse will, das Gute schafft, dass die Resultate durch Combination der vielen verschiedenen selbstsüchtigen Absichten ganz andere werden, als jeder Einzelne gedacht hatte, und dass sie letzten Endes doch immer zum Wohle des Ganzen ausschlagen, wenn auch oft der Nutzen etwas weitaussehend ist, und Jahrhunderte des Rückschrittes dem zu widersprechen scheinen; aber dieser Widerspruch ist nur scheinbar, denn sie dienen nur dazu, die Kraft eines alten Gebäudes zu brechen, damit ein neues, besseres Platz findet, oder eine Vegetation verwesen zu lassen, damit sie den Dünger zu einer neuen, schöneren giebt. Auch Jahrtausende des Stillstandes auf einer Stelle der Erde dürfen uns nicht beirren, wenn nur diese Culturstufe zu irgend einer Zeit einen bestimmten ihr eigenthümlichen Beruf erfüllt hat, und wenn nur zu derselben Zeit an einer anderen Stelle der Entwickelungsprocess vorwärts geht.

Ebensowenig darf man, wie so häufig unbilliger Weise geschieht, verlangen, dass an ein und derselben Stelle alle verschiedenen Zweige oder Richtungen gleichzeitig einen ungehemmten Fortgang nehmen und sich über Stillstand oder Rückschritt beklagen, wenn irgend ein bestimmter Zweig, dem man vielleicht gerade seine persönliche Vorliebe zugewandt hat, in Verfall gerathen ist. Die Entwickelung im Grossen und Ganzen geht fort, wenn auch nur immer Ein oder wenige Momente im Fortschritte begriffen sind und die Felder der[323] übrigen brach liegen; denn diese übrigen werden zu gelegener Stunde neu in Angriff genommen, und zwar so, dass der früher erreichte Gipfel in die neue Entwickelungsphase mit eingeschlossen ist (man denke an Raphael und Phidias, Göthe und Euripides). Was manchen Beobachter gegen die allgemeine Entwickelung der Menschheit zu verblenden vermag, ist wesentlich eine zu enge Beschränkung des Umblicks, welche das Auge verdriesslich auf gewisse sich ihnen schmerzlich fühlbar machende und doch unheilbar scheinende politische oder sociale Schäden oder auf die augenblickliche Verkommenheit ihrer intellectuellen Lieblingsrichtungen geheftet hält, anstatt dasselbe zu grossen historischen Prospectiven zu öffnen, welche ihm nicht nur die hohen culturhistorischen Vorgänge der Gegenwart anschaulich vergegenwärtigen, sondern ihn auch auf die Mannichfaltigkeit der Wege der Geschichte und auf die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit einer Besserung der ihm schmerzlichen Zustände auf einem von ihm nicht vermutheten, vielleicht sogar vorurtheilsvoll verschmähten Wege hinweisen würden. Aber auch noch in einem andern Sinne kann zu enge Beschränkung des historischen Gesichtskreises gegen die grosse Wahrheit der Entwickelung blind machen, wenn man nämlich aus der langen Entwickelungszeit der Menschheit ein allzukleines Stück, z.B. die letzten (im engeren Sinne »historisch« genannten) Jahrtausende herausschneidet, und etwa die Blüthe des Perikleischen oder Augustischen Zeitalters mit der Gegenwart vergleicht. Hier kann die Natürlichkeit, Richtigkeit und Feinfühligkeit der damaligen Geschmacksbildung einen Augenblick lang über die Ueberlegenheit der unsrigen täuschen; diese Täuschung schwindet aber sofort, sobald man erwägt, dass das Perikleïsche Zeitalter diese Vorzüge durchaus nur in instinctiver, unbewusster Weise besass, wie die Thatsache beweist, dass selbst ein so tiefer und sinniger Denker wie Plato bei solchen Vorbildern nur eine so erbärmliche Aesthetik und ein der Wirklichkeit so entrücktes Staatsideal zu schaffen vermochte. Nicht das flache Raisonnement der Römer, sondern erst die Deutschen des letzten Jahrhunderts haben zum bewussten und nunmehr unverlierbaren Besitz der Menschheit erhoben, was die Griechen nur instinctiv ausübten, und was wir gar nicht mehr so ausüben können, weil wir von der plastischen Empfindungsweise auf allen Kunstgebieten zur malerischen fortgeschritten sind. Die naive Feinfühligkeit des Geschmacks, in der das Alterthum nach allen Richtungen sich auszeichnete, ist natürlich auch weit leichter zerstörbar durch rauhe äussere Einwirkungen oder durch inneren[324] Verfall, als die mehr substantielle Geistesbildung der heutigen Zeit mit ihrem reichen materiellen Wissen und selbstbewussten Können, das durch tausendfältige Mittel vor dem Zurücksinken in Vergessenheit geschützt ist. Weitere Unterschiede bestehen noch darin, dass im Alterthum der cultivirte Erdenfleck ein sehr kleiner war im Verhältniss zur Gegenwart, wo die Cultur sich mehr oder minder über alle lebenskräftigen Racen und Völker verbreitet hat, und neue Welttheile von den Culturvölkern Europa's in Besitz genommen sind; gleichzeitig hat sich aber auch innerhalb der Culturvölker die Bildung auf immer grössere Kreise und Schichten der Bevölkerung ausgedehnt, so dass die heutige gebildete und geistig hochstehende Gesellschaft aus doppeltem Grunde eine sehr viel grössere Quote der gesammten Erdbevölkerung ausmacht als je zuvor, und gerade jetzt in reissendem Wachsthum begriffen ist. Da es sich nun nicht um Entwickelung des Menschen, sondern der Menschheit handelt, so ist diese extensive Zunahme nicht minder wichtig wie die intensive Steigerung, – abgesehen davon, dass sie mit einer in beschleunigter Progression wachsenden Wahrscheinlichkeit die Unverlierbarkeit des einmal Gewonnenen verbürgt.

Es ist wahr, dass uns heute der freie Besitz unserer Culturgüter noch durch den Kampf gegen die drohend in unsere Zeit hereinragenden Schatten des Mittelalters verkümmert und verbittert wird, aber wir dürfen uns durch den Kampf gegen diese nunmehr historisch rechtlos gewordenen Existenzen nicht verblenden lassen gegen die historische Berechtigung derselben für die Vergangenheit und ihre bleibende Bedeutung für die Entwickelung der Menschheit. Die völlig rohen germanischen Stämme der Völkerwanderung bedurften während ihrer Kindheit einer strengen Lehrzeit, innerhalb deren zugleich die physiologischen Umwandlungs- und Verschmelzungsprocesse stattfanden, als deren Resultat gegenwärtig die Nationalitäten Europas dastehn. Wenn die Antike vorzugsweise die schöne Sinnlichkeit und die Phantasie entwickelten, wenn die Verstandesbildung uns heute das Recht giebt, die Formen mittelalterlichen Lebens für relative Barbarei zu erklären, so war es die Aufgabe des Germanenthums, die Vertiefung des Gemüths in einer natürlich zunächst einseitigen Weise zu vollenden, und dies konnte es an keiner andern treibenden Culturidee wirksamer vollbringen als an den transcendenten Idealen der christlichen. Es wäre ungerecht, zu verkennen, dass die Ausbildung und Entwickelung der tiefsten Kräfte des deutschen Gemüths, welche der Menschheit auch[325] nach Abstossung jenes Mutterbodens für immer unverloren bleiben wird, wesentlich, wo nicht ausschliesslich, der schwärmerischen Verinnerlichung des Mittelalters zu verdanken ist. Wer die für die Gegenwart culturfeindlichen Elemente des heutigen Christenthums überwunden hat, der ist für immer sicher davor, in culturfeindliche Elemente vergangener Entwickelungsperioden der Menschheit zurückzufallen, während der höchstgebildete Grieche oder Römer die christliche Entwickelungsphase noch vor sich hatte.

Einer solchen Ungerechtigkeit gegen das Mittelalter macht sich Buckle und seine Schule schuldig, indem er den bewussten Verstand, der allerdings über Sinnlichkeit, Phantasie und Gemüth steht und diese beherrschen soll, als einzigen Maassstab für die Culturentwickelung betrachtet, was er keineswegs ist, da zu dieser die harmonische Ausbildung aller Geisteskräfte gehört, und da der Verstand allein ohne die Grundlage von kräftig entfalteter Sinnlichkeit, Phantasie und Gemüth nur vertrocknete Schatten erzeugen würde, aber nicht mehr Menschen, die irgend einer ernsten Aufgabe gewachsen sind. Es rührt dieser Irrthum daher, dass die Engländer sich noch heute wesentlich auf dem rationalistischen Standpunct befinden, den wir im vorigen Jahrhundert einnahmen, und dass diese Culturhistoriker, anstatt nach den treibenden unbewussten Ideen der Geschichte zu suchen, dieselbe als ein Product bewusster Reflexionsarbeit erklären zu können wähnen. Die unbewusste Vernunft entfaltet sich nämlich, wie wir eben gesehen haben, ebensowohl in Sinnlichkeit, Phantasie und Gemüth, wie in der Reflexion des bewussten Verstandes, und es beweist wiederum nur für zu engen Blick, wenn man das im modernen Leben maassgebende Element als das zu allen Zeiten wichtigste und als einen für alle Zeiten brauchbaren Maassstab der Cultur ansieht. Gegenüber einer solchen Verengung der Culturgeschichte zur »Geschichte der Aufklärung« behalten Hegels Anläufe zu einer Philosophie der Geschichte ihren vollen Werth, da es sich in ihnen immer nur um die den Epochen zu Grunde liegenden (unbewussten) Ideen handelt.

Schopenhauer's entgegengesetzte Ansicht über die Geschichte beruht auf seiner Auffassung der Zeit als rein subjectiver Erscheinungsform, wonach alles Geschehen ein exclusiv subjectiver Schein, also die Geschichte ein wahrheitsloses subjectives Vorstellungsgespinnst ist. Den handgreiflichen Widerspruch dieser Ansicht gegen den grossartigen Organismus der Entwickelungsgeschichte der Menschheit verhüllt er sich dadurch, dass er einerseits nur auf den[326] gleichgültigen und zufälligen Rahmen von Thatsachen (Regentenfol gen, Schlachten u.s.w.) anstatt auf den von ihm völlig unbeachteten culturgeschichtlichen Inhalt dieses Rahmens reflectirt, und dass er andererseits die Forderung einer Steigerung des individuellen Behagens mit der Forderung eines culturgeschichtlichen Fortschreitens der Menschheit als eines Ganzen verwechselt. Das Glück wächst freilich nicht bei den Fortschritten der Menschheit, aber dies beweist nichts gegen die Wahrheit, dass diese Fortschritte sowohl auf innerem geistigen Gebiete als in den Formen des menschlichen Zusammenlebens wirklich vorhanden sind und zu immer höherer Entwickelung führen.

Wenn irgend etwas geeignet ist, den grossen Fortschritt in geistiger Beziehung von den Griechen zur Gegenwart zu beweisen, so sind es die Fortschritte der Philosophie und namentlich die der deutschen und englischen Philosophie der letzten 200 Jahre. Die Philosophie als der letzte Summenzieher der eine Culturperiode tragenden Ideen und als die Blüthe des historischen Selbstbewusstseins der unbewussten Idee kann als der treueste Repräsentant des geistigen Horizonts eines Zeitabschnitts im engsten und handlichsten Rahmen gelten; die Fortschritte der Ideenentwickelung, welche wir in der Geschichte der Philosophie erkennen, zeigen uns wie durch ein Verkleinerungsglas die Quintessenz des geistigen Besitzes der entsprechenden Zeitalter in ihren verschiedenen Entwickelungsstadien. Dass in den verschiedenen Philosophien wirklich eine Entwickelung besteht, hat uns erst Hegel gelehrt, welcher die früher einzeln beschriebenen Gedankentorsos zu einer organisch zusammenhängenden und harmonisch sich gipfelnden Giebelfeldgruppe aufbaute. Freilich haben die einzelnen Mitarbeiter von dieser Zusammengehörigkeit entweder gar keine Ahnung gehabt, oder doch nur eine oft höchst mangelhafte Kenntniss von einem beschränkten Theil ihrer Vorgänger besessen, und so instinctiv, wie die geniale Conception ihres Grundprincips ihnen aus dem Quell des Unbewussten entsprang, so instinctiv trafen sie das Richtige in Bezug auf den Platz, den sie in der von ihnen selbst nicht überschauten Entwickelungsreihe einzunehmen hatten, so dass die moderne Geschichtsschreibung der Philosophie bezeichnet werden muss als das zum Bewusstsein Bringen der unbewusst zwischen den verschiedenen Philosophien obwaltenden Beziehungen, in Folge deren sie unbewusst eine grosse Entwickelungsreihe bilden. Bedenkt man nun aber dabei, dass gleichzeitig jede dieser Philosophien nur der bewussteste Ausdruck[327] der so eben ihren Gipfel überschritten habenden Culturperiode ist, also nur der letzte Blüthenzweig, der aus der gemeinsamen dunklen Wurzel entsprossen ist, aus welcher alle die in den verschiedensten Richtungen vollbrachten Leistungen dieses Zeitabschnitts harmonisch hervorgewachsen sind, – dann leuchtet ein, dass die Culturepochen als Ganze genommen ganz ebenso sich als Phasen einer aufsteigenden Entwickelungsreihe verhalten müssen, wie jene gemeinsamen Wurzeln der charakteristischen Leistungen einer jeden von ihnen (d.h. ihre unbewusst treibenden Ideen) oder wie deren bewussteste Ausdrucksformen (die maassgebenden Philosophien). Welches die unbewusste treibende Culturidee in einem bestimmten Zeitabschnitt sein solle, kann nur durch das Unbewusste selbst in Beziehung auf die gerade dann ideell erforderliche Entwickelungsphase bestimmt werden; denn die menschlichen Individuen selbst, welche die dieser Phase entsprechenden Leistungen vollziehen, ehe sie nur einigermaassen zum Bewusstsein der unbewussten Idee gelangen, von welcher sie getrieben werden, können unmöglich die Ursache dieser Phase der Idee sein, da vielmehr die Menschheit von der Einführung derselben in den Gesammtorganismus der Culturentwickelung und von der Notwendigkeit gerade dieser Entwickelungsphasen in diesem Zeitabschnitt erst lange nach Abschluss der betreffenden Periode ein Bewusstsein erlangt.

Die Mittel, durch welche eine bestimmte Phase der Idee sich in einer gewissen Periode verwirklicht, sind nun zweierlei Art, nämlich einerseits Einpflanzung eines instinctiven Dranges in die Massen, und andererseits Production von wegweisenden und bahnbrechenden Genies. Dieser dunkle Drang, der in Völkerwanderungen, Massenauswanderungen, Kreuzzügen, religiösen, politischen und socialen Volksrevolutionen von Zeit zu Zeit in die Massen fährt, und dieselben mit wahrhaft dämonischer Gewalt zu einem ihnen unbewussten Ziele lenkt, ist sich doch stets »des rechten Weges wohl bewusst«, wenn er auch meistens glaubt, dass dieser Weg zu einem ganz andern Ziele führe, als er wirklich thut. Denn in den Fällen, wo die Massen nicht überhaupt blindwüthig und ohne bewusstes Ziel darauf los wirthschaften, sondern ein Ziel im Auge haben, ist dieses bewusste Ziel in der Regel ein werthloses oder verkehrtes, während die wahre Absicht der Geschichte bei diesen Umwälzungen sich erst später enthüllt. – In ähnlicher Weise erreicht die Geschichte auch ohne eigentliche Entflammung der Massen durch die Initiative einzelner hervorragender Männer Resultate, die von den bewussten[328] Absichten derselben weit entfernt waren. (Man denke besonders an die fruchtbare Vermählung verschiedener Nationalculturen, wie sie bei der nationalen Abgeschlossenheit in früheren Zeiten ganz allein durch grossartige Eroberungszüge hervorgebracht werden konnten, wie z.B. die Alexanders, Cäsars, die Römerzüge der deutschen Kaiser, ja selbst die durch Napoleon hervorgerufenen europäischen Umwälzungen. Nur ein unhistorischer Sinn kann die Leichenfelder dieser vom Unbewussten dupirten Helden schmähen, aus denen so fruchtbare und segensvolle Ernten hervorgesprosst sind.) Andere Ziele erreicht das Unbewusste auf friedlicherem Wege, indem es im rechten Augenblick das rechte Genie erweckt, das befähigt ist, gerade diese Aufgabe zu lösen, deren Lösung seine Zeit dringend bedarf.18 Kein unheilvolleres Geschenk für das Individuum als Genialität, denn die Genies sind selbst bei scheinbarem äusserem Glücke, doch stets diejenigen Menschen, welche das Elend des Daseins am tiefsten und unheilbarsten empfinden. Aber die Genies sind eben auch nicht für sich selber da, sondern für die Menschheit, und für die Menschheit ist es ganz gleichgültig, ob dieselben nach Erfüllung ihrer Aufgabe sich elend fühlen, oder auch in Noth verkommen. Der rechten Zeit hat noch nie der rechte Mann gefehlt, und das mitunter gehörte Geschrei, dass es an Männern für gewisse dringende Aufgaben fehle, beweist eben nur, dass diese Aufgaben von menschlichen Bewusstseinen irrthümlich gestellt sind, dass sie gar nicht (oder wenigstens jetzt nicht) im Plan der Geschichte liegen, und dass in Folge dessen auch die genialsten Männer an diese Aufgaben (wenigstens zu dieser Zeit) ihre Geisteskräfte vergeblich verschwenden würden. (Solch' eine schlechterdings unlösbare Aufgabe ist z.B. die Verjüngung und Kräftigung zum Verfall und zur Auflösung bestimmter Staaten; zeitweilig unlösbare Aufgabe hingegen ist hervorragende und verjüngende Production auf einem Specialgebiet geistiger Leistungen, das, augenblicklich im Epigonenthum befindlich, erst eine längere Brache durchmachen muss, ehe unter dem Einfluss einer neuen treibenden Culturidee eine neue Entwickelungsphase für dasselbe beginnt.) Diese so zu sagen prästabilirte Harmonie zwischen historischen Aufgaben und Individuen mit[329] der Specialbefähigung, dieselben zu lösen, geht so weit, dass selbst technische Erfindungen (in practisch verwendbarer Gestalt) immer erst dann, aber dann auch stets, gemacht werden, wenn die Vorbedingungen zu einer für die Cultur fruchtbaren Ausnutzung derselben, so wie das Bedürfniss nach derartigen Culturhülfsmitteln gegeben sind.

Fassen wir nun die gesammte innere geistige Entwickelung der Menschheit zusammen, so bildet diese den eigentlichen Inhalt der Menschheitsgeschichte, während Staat, Kirche und Gesellschaft, unbeschadet ihres organischen Charakters und ihrer organischen Eigenentwickelung, für die innere geistige Entwickelung doch nur den Werth eines stützenden Rahmens haben, welcher, durch unbewusste Geistesthätigkeit der Individuen producirt, nun seinerseits wieder die Ausbildung des bewussten Geistes trägt und fördert, indem er sie nicht nur schützt und sichert, sondern auch als Hülfsmechanismus einen grossen Theil der geistigen Arbeit erspart und einen andern Theil erleichtert.

Wie jeder Körpertheil wird auch das grosse Gehirn durch den Gebrauch und die Uebung gestärkt und zu neuen ähnlichen Leistungen geschickter gemacht; wie bei jedem Körpertheil ist aber auch beim grossen Gehirn die von den Eltern erworbene Kräftigung und materielle Vervollkommnung durch Vererbung auf das Kind übertragbar. Diese Vererbung ist nicht in jedem einzelnen Falle direct nachweisbar, aber als Durchschnitt von einer Generation auf die folgende genommen ist sie Thatsache, und ebenso ist es Thatsache, dass es eine latente Vererbung giebt, welche erst in der zweiten oder dritten Generation ihre Fruchte offenbart (z.B. wenn jemand von seinem Grossvater mütterlicherseits starken rothen Bartwuchs und schöne Bassstimme geerbt hat). Da jede Generation ihren bewussten Intellect weiter ausbildet, also auch dessen materielles Organ weiter vervollkommnet, so summiren sich im Laufe der Generationen diese für Eine Generation immerhin unmerklich kleinen Zuwachse zu deutlich sichtbar werdenden Grossen. Es ist keine blosse Redensart, dass die Kinder jetzt klüger geboren werden, und dass sie, minder kindlich als sonst, schon in der Kindheit Neigung zeigen, vorzeitig altklug zu werden. Wie die Jungen dressirter Thiere zu der gleichen Dressur geeigneter sind als wildeingefangene Junge, so sind auch die Kinder einer menschlichen Generation um so geschickter zur Erlernung bestimmter Könnens- und Wissensgebiete, je weiter jene es darin bereits gebracht hatte. Ich bezweifle[330] z.B., dass ein Hellenenknabe jemals ein tüchtiger productiver Musiker im modernen Sinne geworden wäre, weil sein Gehirn derjenigen ererbten Prädispositionen für das weite Gebiet der musikalischen Harmonie entbehrte, welche erst die moderne westeuropäische Menschheit sich durch eine historische Entwickelungsreihe von mehr als fünfzehn Generationen erworben hat. Ein Archimedes oder Euklid möchte trotz seines relativen mathematischen Genies sich recht unbeholfen als Schüler eines Unterrichts in der höheren Mathematik erwiesen haben.

So erzeugt jeder geistige Fortschritt eine Steigerung der Leistungsfähigkeit des materiellen Organs des Intellects, und diese wird durch Vererbung (im Durchschnitt) dauernder Besitz der Menschheit, – eine erklommene Stufe, welche das Weiteraufsteigen zur nächsten erleichtert. D.h. die Fortschritte des geistigen Besitzes der Menschheit gehen Hand in Hand mit der anthropologischen Entwickelung der Race, und stehen in Wechselwirkung mit derselben; jeder Fortschritt der einen Seite kommt der andern zu Gute; es muss also auch eine anthropologische Veredelung der Race, die aus andern Ursachen als aus geistigen Fortschritten entspringt, die intellectuelle Entwickelung fördern. Von letzterer Art ist z.B. die Veredelung der Race durch geschlechtliche Auswahl (Cap. B. II.), welche unaufhörlich ihre unbeachteten aber mächtigen Wirkungen übt, oder die Concurrenz der Racen und Nationen im Kampf um's Dasein, welcher sich unter den Menschen nach ebenso unerbittlichen Naturgesetzen vollzieht wie unter Thieren und Pflanzen. Keine Macht der Erde ist im Stande, die Ausrottung der inferioren Menschenracen, welche als stehen gebliebene Reste früherer, dereinst auch von uns durchgemachter Entwickelungsstufen bis heut fortvegetirt haben, aufzuhalten. So wenig dem Hunde, dem der Schwanz abgeschnitten werden soll, ein Gefallen damit geschieht, wenn man ihn allmählich Zoll für Zoll abschneidet, so wenig Menschlichkeit liegt darin, den Todeskampf der aussterbenden Wilden künstlich zu verlängern. Der wahre Philanthrop kann, wenn er das Naturgesetz der anthropologischen Entwickelung erst einmal begriffen hat, nicht umhin, eine Beschleunigung dieser letzten Zuckungen zu wünschen und auf dieselbe hinzuwirken. Eins der besten Mittel hierzu ist Unterstützung der Missionen, die (nach einer wahrhaft göttlichen Ironie des Unbewussten) mehr für diesen Naturzweck gethan haben, als alle directen Vernichtungsarbeiten der weissen Race gegen die Wilden. Je schneller diese Ausrottung der zu jeder Concurrenz mit[331] der weissen Race unfähigen Naturvölker betrieben, und je rascher die ganze Erde ausschliesslich von den bis jetzt am höchsten entwickelten Racen occupirt wird, um so schneller wird der Kampf der verschiedenen Stämme innerhalb der hochstehendsten Race in grossartigen Dimensionen entbrennen, desto früher wird das Schauspiel der Absorption der niederen Race durch die höhere sich unter den Stämmen und Völkern wiederholen. Aber der Unterschied ist, dass diese Völker weit ebenbürtiger, also weit concurrenzfähiger sind, als sich die niederen Racen (mit Ausnahme der mongolischen) bisher der kaukasischen Race gegenüber erwiesen haben. Hieraus folgt, dass der Kampf um's Dasein zwischen Völkern, weil er mit ebenbürtigeren Kräften geführt wird, viel furchtbarer, erbitterter, anhaltender, und opferreicher sein muss, als der zwischen Racen, wie wir denn später (Cap. C. X.) sehen werden, dass der Kampf um's Dasein überhaupt um so erbitterter und unbarmherziger, zugleich aber auch für die fortschreitende Entwickelung der Gattung um so förderlicher ist, je näher sich die mit einander concurrirenden Arten oder Varietäten stehen.

Es ist relativ gleichgültig, ob dieser Kampf um's Dasein zwischen Völkern und Racen die Form des physischen Kampfes mit Waffen annimmt, oder ob er sich in anderen scheinbar friedlicheren Formen der Concurrenz bewegt; man würde sich sehr irren, wenn man glaubte, dass der Krieg die grausamste oder auch nur die wirksamste Form der Vernichtung eines Concurrenten sei; es ist nur die am nächsten liegende, weil roheste, – zugleich aber auch eben deshalb die ultima ratio für ein Volk, das sich von seinem Concurrenten im sogenannten friedlichen Wettstreit der Interessen überholt sieht. Die Opfer auch des grössten Krieges sind unbedeutend gegen die Vernichtung von Millionen und abermals Millionen Menschen, die zu Grunde gehen, wenn z.B. ein Volk von einem industriell höher entwickelten vermittelst des Handels ausgesaugt und eines Theils seiner bisherigen Erwerbsquellen beraubt wird (vgl. Carey's Lehrbuch der Volkswirthschaft über die Wirkungen des englischen Aussaugungssystems in Indien, Portugal und anderwärts). Indem durch diesen Kampf um's Dasein die Erde immer zur ausschliesslichen Beute der höchstentwickelten Völker wird, wird nicht nur die gesammte Erdbevölkerung immer cultivirter, sondern es werden auch durch die von Bodengestaltung und Klima bedingten Differenzirungen innerhalb des zur Herrschaft gelangten Volkes immer neue Entwickelungskeime geschaffen, welche freilich immer wieder nur vermittelst des[332] grausamen Kampfes um's Dasein zur Entfaltung gelangen können.

So schauderhaft die Perspective dieses perpetuirlichen Kampfes vom eudämonologischen Standpunct ist, so grossartig erscheint sie vom teleologischen im Hinblick auf das Endziel einer möglichst hohen intellectuellen Entwickelung, Man muss sich nur an den Gedanken gewöhnen, dass das Unbewusste durch den Jammer von Milliarden menschlicher Individuen nicht mehr und nicht weniger als von dem ebensovieler thierischer Individuen sich beirren lässt, sobald diese Qualen nur der Entwickelung und damit seinem Endzweck zu Gute kommen.

Ich sagte oben, dass man die Thatsache einer Entwickelung der Menschheit allenfalls anzweifeln könne, wenn man zu engbegrenzte Abschnitte der Geschichte betrachtet; wir werden jetzt sagen können, dass man nur dann an der Entwickelung zweifeln kann, nicht aber wenn man die gesammte Lebensdauer der Menschheit von ihrem ersten Auftreten auf der Erde bis in die so eben angedeutete Zukunftsperspective mit einem Blicke umfasst. Die Zeit ist vorüber, wo Creuzer und Schelling ein mit aller Weisheit begabtes Urvolk annahmen, aus dessen Verfall erst die Menschenracen sich entwickelt hätten; beute weisen uns vergleichende Sprachforschung und vergleichende Mythologie, Ethnologie, Anthropologie und Archäologie übereinstimmend darauf hin, dass die Culturzustände unserer Vorfahren um so roher und primitiver waren, je weiter wir in die Jahrtausende zurücksteigen. Als vor 3-4000 Jahren die Arier in einzelnen Absätzen jene Völkerwanderung begannen, deren gegenwärtiges Resultat die Herrschaft der indogermanischen Stämme vom indischen Ocean bis zum stillen Meer ist, da besassen sie bereits eine bedeutende Cultur, welche nur das Resultat der vorhergehenden Zehntausende von Jahren gewesen sein kann. Mit dem bereits bis zur Flexion ausgebildeten Sprachsystem, mit fruchtbaren und tiefsinnigen naturphilosophischen Mythen, mit technischen Instrumenten für Ackerbau, Wohnungs- und Kleidungsverfertigung versehen, traten sie in die Geschichte ein; wie viel wir auch seitdem an Cultur hinzuerworben haben, so gilt doch hier noch mehr wie überall, dass aller Anfang schwer ist, und unzweifelhaft war es eine weit grössere und daher auch zeitraubendere Aufgabe, sich von den primitiven Zuständen sprachloser Menschenthiere zu dieser Höhe emporzuarbeiten, als, einmal in den Besitz solcher Culturmittel, namentlich einer so unvergleichlichen Sprache, gelangt, die Natur immer weiter zu unterwerfen[333] und die zurückgebliebenen Racen in immer steigender Progression zu überholen.

Wenn Sprache, Mythologie und Technologie den geistigen Inhalt jener vorgeschichtlichen Culturperiode ausmachen, so bildet die zum Stamme erweiterte Familie die Form, in welche dieser Inhalt gefasst ist. Indem der geschlechtliche Instinct Mann und Weib zur Gründung der Familie zusammenführte, war es einerseits der instinctive Geselligkeitstrieb (Grotius), was das atomistische Auseinanderfallen der Blutsverwandten ersten und zweiten Grades verhinderte und andrerseits der Kampf um's Dasein, der Krieg aller gegen alle (Hobbes), die Feindseligkeit fremder Nachbarn gegen einander, was die Steigerung der Angriffs und Widerstandskraft durch engste Solidarität der Familie und des Geschlechts nothwendig erscheinen liess. So erhöht sich das Familienhaupt zum Geschlechts-Aeltesten oder Patriarchen, und – bei fortschreitender Erweiterung des Geschlechts zum Stamme – zum Stammeshäuptling oder patriarchalischen König. In dieser Verfassung befanden sich die Arier, als sie Hindostan eroberten, die Griechen noch im trojanischen Krieg, die Germanen in der Völkerwanderung. Die Thiere gründen zwar auch Familien, auch sie führen Kämpfe unter einander, aber sie fallen sofort in die unorganische Masse der Heerde zurück, so wie mehr als die Familie im engeren Sinne beisammen bleibt, während das Geschlecht organisch nach Familien gegliedert ist, und deshalb wirklich die höhere Einheit derselben darstellt. Darum ist die Verbindung der drei Instincte (Geschlechtstrieb, Geselligkeitstrieb und Feindschaftstrieb aller gegen alle) beim Menschen in der That etwas Neues und Höheres als beim Thiere, und macht ihn zum zôon politikon des Aristoteles.

Am deutlichsten zeigt sich der höhere unbewusste Inhalt jener Instincte beim Menschen darin, dass ihre nächsten Producte, die Familie, das Geschlecht und der Stamm, als Keimbläschen und Embryo für alle späteren politischen, kirchlichen und socialen Formen angesehen werden müssen. Das Familienhaupt ist erstens König (Führer im Kampf, ausschliesslicher Repräsentant der Familie nach aussen, und Richter mit Gewalt über Leben und Tod), zweitens Priester (bei dem noch ausschliesslichen Familiengottesdienst) und drittens Lehrer und Arbeitsherr der Seinen. Diese drei Gebiete sind hier noch in ungetrennter Einheit verbunden, oder richtiger: sie haben sich noch gar nicht aus ihrem Indifferenzpunct hervorgearbeitet. Dieses Hervortreten geschieht nicht plötzlich, sondern[334] nach und nach; jedes der drei Gebiete hat die Tendenz, sich zu einem formalen Organismus zu entwickeln, welcher nach Möglichkeit über die anderen Lebenssphären dominirt. Dasjenige der drei Gebiete nun, auf dessen Ausbildung in einer Geschichtsperiode die meiste Volkskraft verwendet wird, dominirt in der That innerhalb dieser Periode. Da aber die Gebiete erst eines nach dem andern bearbeitet werden können, so liegt es in der Natur der Sache, dass die zuerst hervortretenden Seiten die noch nicht explicirten implicite mit in sich enthalten müssen, so weit letztere nicht dem primitiven Schoosse der Familie noch verblieben sind.

Die Entwickelung des Staats ist überall das erste und dringendste Erforderniss, er muss aber die kirchlichen und socialen Functionen, so weit sie aus dem Kreise der Familie herausgetreten sind, mit versehen (so z.B. in der griechisch-römischen Staatenbildung, wo die Könige Oberpriester, und auch in der republikanischen Phase die kirchlichen Institutionen integrirende Theile des Staats waren). In Hindostan vollzog sich wenige Jahrhunderte nach der Eroberung durch die Arier die gewaltige Revolution, durch welche der Kriegsadel fast ausgerottet und die Herrschaft des Priesterthums bis auf die Gegenwart dauernd befestigt wurde. Im Occident trat diese (in Indien alle Fortschrittskeime erstickende) Umwälzung glücklicherweise erst nach vollständigem Ablauf der politischen Entwickelung des Alterthums ein, ein Umstand, der nach Verfluss der mittelalterlich-kirchlichen Entwickelungsphase die Wiedergeburt des germanischen Lebens auch in politischer und geistiger Beziehung durch die Renaissance der Antike ermöglichte.

Da die Kirche erst als das zweite Element auftrat, konnte sie den bereits vorgefundenen Staat nicht mehr in der Weise resorbiren, wie im antiken Leben der Staat die noch unentwickelte Kirche, sondern sie konnte ihn nur in die zweite Reibe zurückdrängen und für sich selbst die erste Stelle occupiren. Während im letzten Jahrhundert das weltliche Leben wieder über das geistliche die Oberhand gewann, war es nur scheinbar der Staat als solcher, der den Sieg über die Kirche gewann; in Wahrheit sind es die socialen Interessen, welche die kirchlichen zurückgedrängt haben, und nur weil die Gesellschaft als solche erst im Begriff ist, sich einen eigenen Organismus zu schaffen, ist es vorläufig der Staat gewesen, der die Kirche in Wahrnehmung und Vertretung gewisser socialer und namentlich wirthschaftlicher Interessen überholte und ihr so überhaupt den Vorrang ablief, während andrerseits auch die bisherige Kirche[335] ihre beste Beharrungskraft aus gewissen noch jetzt von ihr vicarirend vertretenen socialen Functionen schöpft. Diese Phase ist deshalb so besonders interessant, weil sie wahrhaft etwas Neues unter der Sonne bietet.

Die beginnende Entwickelung der Gesellschaft als solche zu einem selbstständigen Organismus neben Staat und Kirche ist eben etwas so Neues, dass es nur erst Wenige giebt, welche überhaupt etwas davon merken. Die Meisten glauben, weil der Staatsorganismus gegenwärtig vicarirend sociale Functionen vollziehen muss (z.B. Jugendunterricht, Armenpflege, Zinsgarantien für industrielle Unternehmungen), diese Dinge seien wirklich Staatsaufgaben, und ziehen dann wohl gar wie Lassalle die Consequenz, ihm die Errichtung von Productivassociationen zuzumuthen, anstatt vielmehr an der Organisation der Gesellschaft und der Uebertragung der bisher vom Staate versehenen socialen Functionen auf letztere mitzuwirken. Wo aber ausnahmsweise die begriffliche Getrenntheit von Staat und Gesellschaft und die Nothwendigkeit, allmählich eine reale Trennung zu vollziehen, erkannt wird, da wird wohl gar statt der Harmonie der politischen und socialen Interessen, von einem nothwendigen und unversöhnlichen Widerstreit beider gefabelt (Gneist). Die Gesellschaft umfasst, negativ ausgedrückt, das weite Gebiet der Lebensbeziehungen und Verkehrsformen, die nicht mit den Begriffen Staat und Kirche gegeben sind, sie ist positiv ausgedrückt, die Organisation der Arbeit im weitesten Sinne. Die Organisation der Arbeit bedeutet zunächst die Ordnung und Regelung der Arbeitstheilung unter Geschlechtern und Individuen, ausserdem aber auch die Vorbereitung der Jugend zur Arbeitsfähigkeit und die Sorge für die arbeitsunfähig Gewordenen. Der Begriff der Vertheilung der Arbeit schliesst natürlich das Höchste wie das Niedrigste, die unqualificirte Körperarbeit wie die Geistesarbeit des Forschers und Künstlers, und nicht minder die Arbeit der Erziehung und der socialen Selbstverwaltung in sich. Man sieht, dass die »Gesellschaft« in diesem Sinne in der That alle Formen des Culturlebens ausser Staat und Kirche in sich befasst, eine Bedeutung, in welcher sie bisher wohl nur von Lorenz Stein aufgefasst worden ist. Die Tendenz dieser Herausarbeitung eines socialen Organismus (Socialismus) geht dahin, die Freiheit der Concurrenz, welche es den überlebten Schränken gegenüber soeben noch erst völlig zu entfesseln galt, zu Gunsten einer systematischen Arbeitstheilung zu beschränken, und zu verhindern, dass der Gewinn des Einen (wie bei der freien Concurrenz) nur zu[336] oft durch unverhältnissmässige Verluste des Andern erkauft werde. Aber diese Phase liegt, wie gesagt, noch so sehr in den allerersten Anfängen, dass das Wie solcher künftig unfehlbar Platz greifenden Organisationen bisher noch in keiner Weise zu bestimmen ist.

Wir wollen nunmehr noch einen flüchtigen Blick auf die Entwickelung der Formen des Staates, der Kirche, und der (wenn auch bisher nur implicite gegebenen) Gesellschaft werfen.

Ich will zunächst versuchen, mit wenig Strichen das Skelett der Entwickelung der Staatsidee zu zeichnen, wie ich sie mir denke. Die Geschichte zeigt drei Hauptgegensätze im Staatsleben, Grossstaat und Kleinstaat, Republik und Monarchie, indirecte und directe Verwaltung. Die Aufgabe ist, Grossstaat und Republik als die vorzüglicheren Formen mit einander zu verbinden, das Mittel dazu die indirecte Verwaltung. – Die patriarchalischen Stammhäuptlingschaften und Königthümer zeigen uns die Verbindung von Kleinstaat und Monarchie, die asiatischen Despotien die von Grossstaat und Monarchie. Hier hat nur Einer bürgerliche Freiheit, alle Anderen sind unfreie Sclaven oder Leibeigene des Herrschers. Die griechischen Städte- und Landschaftsrepubliken sind das erste Beispiel der Republik; von ihrem zerrissenen Ländchen begünstigt, konnten die Griechen selbst in ihren kleinen Kleinstaaten die Republik erst als Aristokratie der freien Bürger darstellen, welche über die doppelte Anzahl Sclaven herrschen. Das römische Weltreich verbindet die griechische Stadtrepublik mit dem asiatischen Grossstaatsdespotismus; an die Stelle des Despoten tritt die römische Bürgerschaft, und alle unterworfenen Länder enthalten nur Sclaven. Als daher die republikanische Kraft der römischen Bürger erschlaffte, fiel es ebenfalls in die Grossstaatsmonarchie zurück. – Das Germanenthum bringt durch das Lehenswesen ein neues Princip in die Staatsidee, das der indirecten Verwaltung oder des pyramidalen Stufenbaues der Herrschaft, während das Alterthum nur directe Verwaltung gekannt hatte. Die Alten hatten nur Freie und Sclaven, jetzt tritt aber vom Könige bis zum leibeigenen Bauer herunter eine Abstufung der Freiheit ein, indem Jeder der Herr seiner Lehnsmannen ist. Ich möchte deshalb den Staat des Mittelalters die Monarchienpyramide nennen. – Die Neuzeit endlich spricht mit dem Postulat der allgemeinen Menschenfreiheit das entscheidende Wort, sie strebt nach Grossstaaten, die an den Nationalitäten ihre natürlichen Grenzen haben, sie führt die griechische Städterepublik in der Selbstverwaltung der Städte und Gemeinden zurück, und findet in dem[337] Princip der Vertretung durch gewählte Abgeordnete das Mittel zum Aufbau einer Republikenpyramide, von der bis jetzt das beste, keineswegs vollkommene Beispiel in Nordamerika besteht, welche aber dereinst nach allgemeiner Verbreitung der Cultur alle Länder der Erde in sich fassen muss und wird, da die Souveränetät der Nationalstaaten ebensosehr aufzuhebendes Moment ist wie die der Territorialstaaten. – Die Constitution als Mittelding von Monarchie und Republik ist nichts als eine ungeheuere offene Lüge, und hat eine historische Berechtigung eben nur als Uebergangsformation und politische Schule der Völker.A72 – In der Staatenrepublik, welche freilich erst zu Stande kommen wird, wenn die einzelnen Staaten Republiken geworden sind, wird der Naturzustand der Staaten unter einander in den Rechtszustand, und der Selbstschutz durch den Krieg in den Rechtsschutz durch die Staatenrepublik übergeben, wie der Naturzustand und Selbstschutz des Einzelnen in den Rechtszustand und Rechtsschutz bei Entstehung des Staates übergeht. (Hier eröffnet sich die Möglichkeit einer Beendigung des auf S. 343 angedeuteten Kampfes um's Dasein, wenn nämlich die ziemlich gleichmässigen Klimate je von demselben, universalstaatlich organisirten, Volke besetzt sind, und die Concurrenz zwischen den verschiedene Klimate bewohnenden Völkern durch die Grenzen ihrer klimatischen Accommodationsfähigkeit ausgeschlossen ist, welche sie auf verschiedene geographische Verbreitungsbezirke anweist.)

Die zweite der zu betrachtenden Formen, die Kirche, hat eine beschränktere und einseitigere Aufgabe, als Staat und Gesellschaft; denn während letztere vielen Interessen zugleich dienen, und vielerlei Bedürfnisse befriedigen, dient die Kirche ausschliesslich dem Bedürfniss der Religiosität, und zwar nicht einmal jeder Religiosität, sondern nur derjenigen, welche entweder einen gemeinsam ausgeübten Cultus zu ihrer vollen Befriedigung verlangt, oder gar sich zu schwach fühlt, um im Bewusstsein und Gefühl des eignen Ich eine genügende Grundlage für sich zu erkennen, und nun an dem äusserlichen Institut der sichtbaren Kirche einen greifbaren äusserlichen Halt als Ersatz des innerlichen sucht. Es liegt schon hierin dass mit dem Wachsthum der Solidität der inneren geistigen Substanz des Menschen die sichtbare Kirche an Wichtigkeit verlieren muss. Gleichwohl ist bei dem gegenwärtigen Standpuncte der Culturvölker die Kirche noch ein Moment von höchster Wichtigkeit, und wird es, wenn auch erst die dritte Stelle (hinter Gesellschaft und Staat) einnehmend, noch lange bleiben. Wie schon erwähnt, ist der Staat die[338] erste der drei Formen, welche sich explicirt, und die Kirche zunächst in ihm befangen. Selbst da, wo ausnahmsweise (wie im Judenthum) der Staat von Anfang an ein Kirchenstaat oder Theokratie ist, kommt er doch nicht über die nationalstaatliche Beschränkung der Theokratie hinaus. Die Idee einer kosmopolitischen Kirche oder Theokratie kann immer nur das Resultat einer religiösen Revolution sein; so zerbrach in Indien der Buddhismus, am Mittelmeer das Christenthum die frühere nationale Beschränktheit der kirchlichen Institutionen, und inaugurirte dadurch ein orientalisches und ein occidentalisches Mittelalter. Dieser Kosmopolitismus der mittelalterlichen Kirche ist von der grossartigsten und folgenreichsten politischen und socialen Bedeutung, denn es giebt zum ersten Male den Angehörigen verschiedener Völker und Staaten ein solidarisches Bewusstsein, erweitert dadurch extensiv und intensiv den friedlichen Verkehr verschiedener Völker unter einander, und bereitet das kosmopolitische Bewusstsein der modernen Zeit vor, welches sich auf dem socialen Humanitätsprincip erhebt, und ebenso die Schranken kirchlicher Gegensätze überwindet, wie der Kosmopolitismus der mittelalterlichen Kirche die Schranken der von ihr umfassten staatlichen Gegensätze überwunden hatte. So führt uns die Kirche ungesucht zu der dritten Form, der Gesellschaft, hinüber.

Die sociale Entwickelung zeigt vier Hauptphasen, deren erste drei als Vorbereitungsstufen für die vierte zu betrachten sind, in welcher erst die Gesellschaft als selbstständige, coordinirte Form sich explicirt.

Die erste Phase ist der freie Naturzustand, wo Jedermann nur für sich und seine Familie arbeitet, wie z.B. bei den indianischen Jägerstämmen. Aus diesem Zustande ist ein Aufschwung zu grösserer Wohlhabenheit, und dadurch zu grösserer Cultur unmöglich, weil es bei der atomistischen Freiheit der Einzelnen kein Motiv giebt, welches sie zur Arbeitstheilung bringen könnte, durch welche allein diejenige Arbeitsersparniss möglich wird, welche zu einer Mehrproduction über die augenblicklichen Lebensbedürfnisse hinaus d.h. zu einer Erhöhung des Nationalwohlstandes durch Capitalansammlung, unentbehrlich ist.

Die zweite Phase ist die der persönlichen Herrschaft wo der Herr der Eigenthümer der Personen oder doch der Arbeitskräfte seiner Sclaven, resp. Leibeigenen ist. Hier findet der Herr es sehr bald in seinem Interesse, eine Arbeitstheilung unter seinen Sclaven einzuführen, deren Arbeit nun einen Ueberschuss über ihre[339] und seine Lebensbedürfnisse abwirft, welcher zur Herstellung productiver Anlagen (Capital) verwerthet wird. So wächst der Nationalreichthum durch Capitalaufhäufung, kommt aber freilich nur den Herren, nicht den Knechten zu Gute. Ein Beispiel dieser Stufe giebt das römische Reich und das Mittelalter.

Die dritte Phase, welche erst durch längere Wirksamkeit der zweiten möglich gemacht wird, ist die der Capitalsherrschaft. In dieser Periode wird das, bisher allein wichtige immobile Capital durch das mobile überholt, und gezwungen, sich selbst mehr und mehr zu mobilisiren, wenn es nicht unverhältnissmässig an Werth verlieren will. Dieser Process vollzieht sich gleichzeitig und in Wechselwirkung mit der allmählichen Milderung und Aufhebung der Leibeigenschaft, durch welche die Arbeitskraft zur freien Waare wird, und den allgemeinen Gesetzen des Preises (der sich durch Nachfrage und Angebot bestimmt) verfällt. Da das Capital die Arbeitstheilung in weit grossartigerem Maassstabe organisiren kann, so wird nun auch eine weit grössere Quote der Gesammtarbeit für die Gegenwart entbehrlich und für die Zukunft, d.h. zu productiven Anlagen, verwendbar, also muss auch die Capitalvermehrung und das Wachsen der nationalen Wohlhabenheit in weit schnellerer Progression als in der vorigen Phase vor sich gehen. Aber auch hier kommt diese Vermehrung des Nationalreichthums wesentlich nur den Capitalbesitzern zu Gute, da derjenige Theil davon, welcher auf den Arbeiterstand entfällt, sofort eine Vermehrung der Kopfzahl des Arbeiterstandes zur Folge hat, welche den bei der Repartirung auf den Einzelnen entfallenden Antheil stets auf der Höhe des gewohnheitsmässig erforderlichen Minimums des Lebensunterhaltes erhält. Dies bestätigt die Erfahrung wenigstens für die dem Weltmarkt zugänglichen industriellen Arbeitskräfte. – Aber auch das mobile Capital ist eine Idee, die sich entwickelt und zur Blüthe gelangt, um nach erfüllter Aufgabe abzusterben und anderen Gebilden Platz zu machen; auch seine historische Aufgabe ist eine vorübergehende und besteht nur darin, der folgenden Stufe die Stätte zu bereiten, sowie die Aufgabe der Sclaverei nur darin bestand, die Capitalsherrschaft vorzubereiten und möglich zu machen.

Diese vierte und letzte Phase ist die der freien Association. Wenn nämlich der Werth der Sclaverei und Capitalsherrschaft nur danach zu bemessen war, in wieweit sie eine Arbeitstheilung, und dadurch Arbeitsersparniss, ermöglichten und herbeiführten, so müssen diese immerhin noch höchst unvollkommenen Zwangsmittel[340] der Geschichte, die nebenher unsägliches Elend im Geleite führen, überflüssig werden, sobald Charakter und Verstand des Arbeiters bis zu dem Grade der Bildung entwickelt sind, um durch freies, bewusstes Uebereinkommen einen ihm angemessenen Theil der Arbeit in der allgemeinen Arbeitstheilung zu übernehmen. Wie es vorher die Schwierigkeit war, den freigelassenen Sclaven zur freiwilligen Arbeit überhaupt zu erziehen, so ist jetzt die Schwierigkeit die, den Arbeiter zu der Reife zu erziehen, um aus dem Joche der Capitalsherrschaft freigelassen, in der Association den ihm zukommenden Platzangemessen auszufüllen. Diese Erziehung zu üben (durch Schultze-Delitzsch'sche Vereine, bessere Schulbildung, Arbeiterbildungsvereine u.s.w.), das ist die wichtigste sociale Aufgabe der Gegenwart. Die freie Association wird die Zukunft von selbst hervorbringen, wenn man auch noch nicht genau sagen kann, mit welchen Mitteln und Wegen, ob durch irgend eine Art der friedlichen Entwickelung, oder durch Katastrophen, die an Furchtbarkeit alles bisher in der Geschichte Dagewesene übertreffen werden. – In dieser letzten Phase wird die wirkliche Auszahlung von Geld (mit Ausnahme von Scheidemünze) durch die allgemeine Einführung der Buchwirthschaft ebenso überflüssig gemacht werden, als in den vorhergehenden der Naturalientausch durch die Geldwirthschaft überflüssig gemacht wurde.

Wenn schon die Capitalherrschaft in der Arbeitstheilung viel mehr leistete, als die Sclaverei, so wird die freie Association die erstere noch in ungleich höherem Grade übertreffen (man denke an eine einheitliche Organisation von Production und Absatz auf der ganzen Erde, analog der einheitlichen politischen Organisation auf der ganzen Erde); dem entsprechend wird aber auch das Wachsthum des Erdenreichthums in so viel schnellerer Progression stattfinden, als gegenwärtig, vorausgesetzt, dass derselbe nicht auch hier durch Vermehrung der Bevölkerungszahl paralysirt oder gar überboten wird, welcher freilich durch das Maximum der von der gesammten Erde hervorzubringenden Nähr- und Futterpflanzen und der vom Wasser zu liefernden Fische, oder, wenn man unorganische Darstellung der Nahrungsmittel mit berücksichtigt, durch den beschränkten Wohnraum der Erdoberfläche, ihr Maximum gesetzt wird.

Das Endziel dieser socialen Entwickelung würde das sein, dass Jeder bei einer Arbeitszeit, die ihm für seine intellectuelle Ausbildung genügende Musse lässt, ein comfortables, oder wie man mit einem volltönenderen Ausdrucke zu sagen beliebt, ein menschenwürdiges[341] Dasein führe. So würde, wie der politische Endzustand die äussere, formelle, der sociale Endzustand dem Menschen die materielle Möglichkeit gewähren, nunmehr endlich seine positive, eigentliche Aufgabe zu erfüllen, zu deren Erfüllung die inneren Bedingungen nothwendig in der zuvor betrachteten geistigen oder intellectuellen Entwickelung gesucht werden müssen. –

Wenn wir in diesem Ganzen der Entwickelung einen einheitlichen Plan ein klar vorgeschriebenes Ziel, welchem alle Entwickelungsstufen anstreben, nicht verkennen können, wenn wir andererseits zugeben müssen, dass die einzelnen Handlungen, welche diese Stufen vorbereiteten oder herbeiführten, keineswegs dieses Ziel im Bewusstsein hatten, sondern dass die Menschen fast immer ein Anderes erstrebten, ein Anderes bewirkten, so müssen wir auch anerkennen, dass noch etwas Anderes als die bewusste Absicht der Einzelnen, oder die zufällige Combination der einzelnen Handlungen in der Geschichte verborgen wirkt, jener »weitreichende Blick, der schon von ferne entdeckt, wo diese regellos schweifende Freiheit am Bande der Nothwendigkeit geleitet wird, und die selbstsüchtigen Zwecke des Einzelnen bewusstlos zur Vollführung des Ganzen ausschlagen« (Schiller, Bd. VII. S. 29-30.) Schelling drückt dies im System des transcendentalen Idealismus (Werke I. 3. S. 594) so aus: »In der Freiheit soll wieder Nothwendigkeit sein, heisst also ebensoviel als: durch die Freiheit selbst, und indem ich frei zu handeln glaube, soll bewusstlos, d.h. ohne mein Zuthun, entstehen, was ich nicht beabsichtigte; oder anders ausgedrückt: der bewussten, also jener freibestimmenden Thätigkeit, die wir früher abgeleitet haben, soll eine bewusstlose entgegenstehen, durch welche der uneingeschränktesten Aeusserung der Freiheit unerachtet Etwas ganz unwillkürlich, und vielleicht selbst wider den Willen des Handelnden, entsteht, was er selbst durch sein Wollen nie hätte realisiren können. Dieser Satz, so paradox er auch scheinen möchte, ist doch nichts Anderes als der transcendentale Ausdruck des allgemein angenommenen und vorausgesetzten Verhältnisses der Freiheit zu einer verborgenen Nothwendigkeit, die bald Schicksal, bald Vorsehung genannt wird, ohne dass bei dem einen oder dem anderen etwas Deutliches gedacht würde, jenes Verhältnisses, kraft dessen Menschen durch ihr freies Handeln selbst, und doch wider ihren Willen, Ursache von Etwas werden müssen, was sie nie gewollt, oder kraft dessen umgekehrt Etwas misslingen und zu Schanden werden muss, was sie durch Freiheit und mit Anstrengung aller ihrer Kräfte gewollt[342] haben.« (Ebd. S. 598): »Diese Notwendigkeit selbst aber kann nur gedacht werden durch eine absolute Synthesis aller Handlungen, aus welcher Alles, was geschieht, also auch die ganze Geschichte, sich entwickelt, und in welcher, weil sie absolut ist, Alles zum Voraas so abgewogen und berechnet ist, dass Alles, was auch geschehen mag, so widersprechend und disharmonisch es scheinen mag, doch in ihr seinen Vereinigungspunct habe und finde. Diese absolute Synthesis selbst aber muss in das Absolute gesetzt werden, was das Anschauende und ewig und allgemein Objective in allem freien Handeln ist.« Wer diese Stelle, von der man wohl sagen kann, dass sie die Ansicht aller Philosophen seit Kant repräsentirt, und deren Inhalt von Hegel in der Einleitung zu seinen »Vorlesungen über Philosophie der Geschichte« ausführlich reproducirt worden ist, recht verstanden hat, für den habe ich nichts hinzuzufügen. – Wer bei den Begriffen Schicksal oder Vorsehung stehen bleiben will, dem kann man eben nur entgegenhalten, dass er sich dabei nichts Deutliches zu denken vermag, wie meine That, sie sei nun das Werk meiner Freiheit, oder das Product meines Charakters und der wirkenden Motive, wie diese meine That einen anderen als meinen Willen zur Verwirklichung bringen solle, etwa den eines im Himmel thronenden Gottes. Nur einen Weg giebt es, auf dem diese Forderung erfüllbar ist, wenn dieser Gott in meinen Busen hinabsteigt, und mein Wille mir unbewusster Weise zugleich Gottes Wille ist, d.h. wenn ich unbewusst noch ganz etwas Anderes will, als was mein Bewusstsein ausschliesslich zu wollen glaubt, wenn ferner das Bewusstsein sich in der Wahl der Mittel zu seinem Zwecke irrt, der unbewusste Wille aber dieses selbe Mittel für seinen Zweck angemessen erwählt. Anders als so ist dieser psychische Process schlechterdings nicht denkbar, und dasselbe ist auch in der ersten Hälfte der Schelling'schen Stelle gesagt. – Wenn wir nun aber ohne einen unbewussten Willen neben dem bewussten Willen nicht auskommen, wenn wir andererseits das uns längst bekannte Hellsehen der unbewussten Vorstellung hinzunehmen, wozu dann noch einen transcendenten Gott in's Spiel bringen, wo das Individuum mit den uns bekannten Fähigkeiten allein fertig werden kann? Was ist dies Schicksal oder Vorsehung denn weiter, als das Walten des Unbewussten, des historischen Instinctes bei den Handlungen der Menschen, so lange eben ihr bewusster Verstand noch nicht reif genug ist, die Ziele der Geschichte zu den seinigen zu machen? Was ist der Staatenbildungstrieb sonst als ein Masseninstinct wie der[343] Sprachbildungstrieb, oder der Staatenbildungstrieb der Insecten, nur mit mehr Eingriffen des bewussten Verstandes gemischt?

Wenn beim Thiere, wie wir gesehen haben, der Instinct immer gerade dann eintritt, wenn ein auf andere Weise nicht zu befriedigendes Bedürfniss vorhanden ist, was Wunder, wenn auch in allen Zweigen der geschichtlichen Entwickelung der rechten Zeit stets der rechte Mann geboren wird, dessen inspirirter Genius die unbewussten Bedürfnisse seiner Zeit erkennt und befriedigt? Hier ist das Sprüchwort Wahrheit: wenn die Noth am höchsten, ist die Hülfe am nächsten.

Warum sollen wir beim historischen Instincte des Menschen einen draussen stehenden und von aussen schiebenden und lenkenden Gott bemühen, wenn wir ihn bei den anderen Instincten allen nicht für nöthig befunden haben? Nur dann, wenn sich im Fortgange der Untersuchung zeigen sollte, dass das Unbewusste des Individuums ausser der Beziehung dieser seiner Thätigkeit auf dieses bestimmte Individuum nichts Individuelles mehr an sich hat, dann wird Schelling auch im zweiten Theil der angeführten Stelle Recht behalten, dass das Absolute das Anschauende (Hellsehende) in allem solchen Handeln und dessen absolute Synthesis (Ineinfassung) ist, oder wie Kant es einmal ausdrückt (Werke VII. 367), dass »der Instinct die Stimme Gottes ist,« aber nunmehr des Gottes in der eignen Brust des imanenten Gottes.

Wenn wir das Stehenbleiben bei der Vorstellung eines Fatums oder einer Vorsehung für unzulässig befunden hatten, so ist damit nicht gesagt, dass diese Anschauungsweisen, ebenso wie die der ausschliesslichen Selbstthätigkeit der Individuen in der Geschichte, an sich unberechtigt, sondern nur, dass sie einseitig seien. Die Griechen, Römer und Muhamedaner haben mit der Vorstellung der heimarmenê oder des Fatums ganz recht, insofern dies die absolute Nothwendigkeit alles Geschehenden am Faden der Causalität bedeutet, so dass jedes Glied der Reihe durch das vorhergehende, also die ganze Reihe durch das Anfangsglied bestimmt und vorausbestimmt ist. Das Christenthum hat mit der Vorstellung der Vorsehung Recht, denn Alles, was geschieht, geschieht mit absoluter Weisheit absolut zweckmässig, d.h. als Mittel zu dem vorgesehenen Zweck, von dem nie irrenden Unbewussten, welches das absolut Logische selbst ist. In jedem Moment kann nur Eines logisch sein, und darum kann immer nur das Eine und muss dies Eine logisch Geforderte geschehen, ebenso zweckmässig als nothwendig[344] (vgl. später Cap. C. XV 3). Die moderne rationalistisch empirische Auffassung endlich hat Recht, dass die Geschichte das ausschliessliche Resultat der Selbstthätigkeit der nach psychologischen Gesetzen sich selbst bestimmenden Individuen ohne jedes Wunder eines Eingriffes höherer Mächte ist. Aber die Anhänger der beiden ersten Ansichten haben Unrecht, die Selbstthätigkeit, die der letzten Unrecht, Fatum und Vorsehung zu negiren, denn die Vereinigung aller drei Standpuncte ist erst die Wahrheit. Gerade diese Vereinigung war aber sich selbst widersprechend, so lange man bloss bewusste Seelenthätigkeit des Individuums annahm; erst die Erkenntniss des Unbewussten macht dieselbe möglich und erhebt sie zugleich zur Evidenz, indem sie die bisher nur mystisch postulirte Einheit des Individuums mit dem Absoluten zur wissenschaftlichen Klarheit bringt, ohne doch ihren Unterschied zu verwischen, der kein geringerer ist als der des metaphysischen Wesens und des phänomenalen Daseins (vgl. Cap. C. VI-VIII und XI).A73[345]

18

Durch seine dritte Erkenntnissgattung (der intellectuellen Anschauung, vgl. oben S. 19 Anm.), durch welche allein jene Grundideen seines Systems in adäquater Weise und mit voller Ueberzeugung der Gewissheit erfasst werden können (vgl. Ethik Theil V Satz 25, Satz 36 Anmerkg., Satz 42 Beweis), gesteht Spinoza selbst die mystische Natur dieser Conceptionen zu.

A72

S. 338 Z. 10. Unter »Constitution« ist hier nicht jede beliebige »Verfassung«, sondern diejenige des pseudomonarchischen Constitutionalismus mit parlamentarischer Regierungsform zu verstehen.

A73

S. 345 Z. 16. Gegen die in diesem Capitel aufgestellte und in dem ganzen Werke verfochtene Entwickelungslehre (vgl. Abschn. C Cap. X, XII und XIV) hat Julius Bahnsen in einer besonderen Schrift eine Reihe von Einwendungen erhoben, gegen welche ich den teleologischen Evolutionismus vertheidigt habe in meiner Schrift »Neukantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus.« 2. Auflage S. 211-257.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 322-346.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Das Leiden eines Knaben

Das Leiden eines Knaben

Julian, ein schöner Knabe ohne Geist, wird nach dem Tod seiner Mutter von seinem Vater in eine Jesuitenschule geschickt, wo er den Demütigungen des Pater Le Tellier hilflos ausgeliefert ist und schließlich an den Folgen unmäßiger Körperstrafen zugrunde geht.

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon