IX. Das Unbewusste in der Mystik

[306] Das Wort »mystisch« ist in eines Jeden Munde, Jeder kennt die Namen berühmter Mystiker, Jeder kennt Beispiele des Mystischen. Und doch, wie Wenige verstehen das Wort, dessen Bedeutung selbst mystisch ist, und deshalb nur von Dem recht begriffen werden kann, der selbst eine mystische Ader in sich trägt, und sei sie noch so schwach. Wir wollen versuchen, dem Wesen der Sache näher zu kommen, indem wir die verschiedenen in der Mystik verschiedener Zeiten und Individuen vorkommenden hauptsächlichen Erscheinungen betrachten.

Wir finden bei dem grössten Theile der Mystiker eine Abwendung vom thätigen Leben und Zurückziehung auf quietistische Beschaulichkeit, sogar Streben nach geistigem und körperlichem Nihilismus; das kann aber das Wesen der Mystik nicht ausdrücken, denn der grösste Mystiker der Welt, Jacob Böhme, führte seinen Hausstand ordnungsmässig, arbeitete und erzog seine Kinder wacker; andere Mystiker haben sich so sehr in's Practische gestürzt, dass sie als Weltreformatoren auftraten, noch andere übten Theurgie und Magie, oder practische Medicin und naturwissenschaftliche Reisen. – Eine andere Reihe von Erscheinungen bei höheren Graden der Mystik sind körperliche Zufälle, wie Krämpfe, Epilepsien, Ekstasen, Einbildungen und fixe Ideen hysterischer Frauenzimmer und hypochondrischer Männer, Visionen ekstatischer oder spontan-somnambüler Personen. Diese alle tragen so sehr den Charakter der körperlichen Krankheit an sich, dass in ihnen das Wesen des Mysticismus gewiss nicht bestehen kann, wenn sie auch grossentheils durch freiwilliges Fasten, Askese und beständige Concentration der Phantasie auf Einen Punct absichtlich hervorgerufen sind. Sie sind es,[306] die in der Geschichte der Mystik jene widerlichen Erscheinungen hervorrufen, die wir beute noch in Irrenhäusern bemitleiden, die aber zu ihrer Zeit als Propheten vergöttert und als Märtyrer verfolgt und getödtet wurden, solche Unglückliche z.B., die sich für Christus hielten (Esaias Stiefel um 1600) oder für Gott Vater selbst. Gleichwohl, könnte man sagen, gehen die Visionen und Ekstasen stufenweise in jene reineren und höheren Formen über, denen die Geschichte so viel verdankt; gewiss zugegeben, – nur wird man dies Wandelbare nicht für das Wesen des Mysticismus ansprechen dürfen. – Als Drittes tritt uns die Askese entgegen; sie ist ein hirnloser Wahnsinn oder eine krankhafte Wollast, wenn sie nicht als ethisches System gefasst wird, was aber auch sowohl bei indischen als neupersischen, als christlichen Büssern stattfindet. Auch hierin liegt an sich keine Mystik, da uns einerseits Schopenhauer den Beweis geliefert hat, dass man ein ganz klarer Denker sein und doch die Askese für das einzig richtige System halten kann, und da andererseits die Mystik sich ebensowohl mit der zügellosesten Genusssucht und Ausschweifung, als mit der strengsten Askese verträgt. Eine vierte Reihe von Erscheinungen in der Geschichte der Mystik sind die sich durch alle Zeiten hinziehenden Wunder der Propheten, Heiligen und Magier. Das Einzige, was nach mässig strenger Kritik von diesen Sagen übrig bleibt, reducirt sich auf Heilwirkungen, die sich theils einfach medicinisch, theils durch bewusstes oder unbewusstes Magnetisiren, theils durch sympathetische Wirkung begreifen und in die Reihe der Naturgesetze einfügen lassen, wenn man eben die magisch-sympathetische Wirkung durch den blossen Willen als Naturgesetz gelten lässt. So lange man dies nicht thut, bleibt freilich letzteres an sich mystisch, sobald man sich aber dazu bequemt, ist es nicht mystischer als die Wirkung jedes anderen Naturgesetzes, von denen allen wir keines begreifen, und darum doch keines mystisch nennen.

Bisher sprachen wir davon, wie Mystiker gehandelt und gelebt haben, jetzt haben wir noch zu erwähnen, aufweiche Art sie gesprochen und geschrieben haben. Wir begegnen hier zunächst einer überwiegend bildlichen Ausdrucksweise, die theils schlicht und einfach, öfter aber schwülstig-bombastisch ist, und häufig einer phantastischen Ueberschwenglichkeit des Inhaltes wie der Form. Dies liegt theils an den Nationen und Zeiten, denen die betreffenden Mystiker angehören, theils finden wir dieselbe Erscheinung bei Dichtern und anderen Schriftstellern wieder, können also darin nicht den[307] Charakter des Mystischen finden. Ferner sehen wir in den mystischen Schriften einestheils eine Masse von allegorisirenden, willkürlich spielenden Deuteleien mit Worten (der Bibel, des Korans, anderer Schriften oder Sagen) oder Formalien (des jüdischen, muhamedanischen, christlichen Gottesdienstes), anderntheils einen phantastisch gebärenden und formalistisch parallelisirenden Schematismus einer unwissenschaftlichen Naturphilosophie (Albertus Magnus, Paracelsus u. A. im Mittelalter; Schelling, Oken, Steffens, Hegel in der neuesten Zeit). Auch in diesen beiden dem Wesen nach gleichen und nur im Gegenstande verschiedenen Erscheinungen können wir den Charakter des Mystischen nicht finden; wir sehen darin nur das dem Menschengeiste eigenthümliche Bestreben, zu systematisiren, durch Unkenntniss oder Ignorirung des Materials und der Principien der Naturwissenschaften irregeleitet, sich spielend Kartenhäuser bauen, die sich oft der andere Kartenhäuser bauende Nachfolger nicht einmal die Mühe giebt umzublasen, die vielmehr von selbst einfallen, obwohl nicht ohne vorher manchem anderen Kinde imponirt zu haben. Ein Merkmal, an das man oft geglaubt hat, sich halten zu dürfen, ist die Unverständlichkeit und Dunkelheit der Sprache, weil sie ziemlich allen mystischen Schriften gemein ist. Jedoch ist nicht zu vergessen, erstens, dass die allerwenigsten Mystiker geschrieben, viele auch nicht einmal gesprochen haben, oder doch nichts weiter als die Erzählung der gehabten Visionen, und zweitens, dass noch sehr viele andere Schriften unverständlich und dunkel sind, welchen weder ihre Verfasser, noch andere Leute das Prädicat mystisch geben möchten; denn Unklarheit des Ausdruckes kann von Unklarheit des Denkens, mangelhafter Beherrschung des Materials, Ungeschicklichkeit der Schreibweise und vielen anderen Gründen herrühren.

Mithin sind alle bisher betrachteten Erscheinungen nicht geeignet, das Wesen des Mystischen zu ergründen, sondern es kann wohl jede derselben zum Ausdrucke eines mystischen Hintergrundes werden, ist aber dann nur ein von der Mystik zufällig angezogenes Kleid, und kann ebensogut ein andermal mit Mystik gar nichts zu thun haben. Es handelt sich also nunmehr um den gemeinsamen Kern und Mittelpunct aller dieser Erscheinungen in den Fällen, wo wir sie als Gewand eines mystischen Hintergrundes betrachten. Man würde sehr irren, wenn man die Religion als diesen gemeinsamen Kern betrachtete; die Religion als unbefangener Glaube an die Offenbarung ist durchaus nicht mystisch, denn was mir durch eine von mir als vollgültig anerkannte Autorität offenbar geworden ist, was[308] sollte daran für mich noch mystisch sein, so lange ich mich schlechterdings mit dieser äusseren Offenbarung begnüge? Und mehr verlangt keine Religion. Ferner ist aber auch leicht zu sehen, dass es eine Mystik des irreligiösen Aberglaubens giebt (z.B. schwarze Magie), oder eine Mystik der Selbstvergötterung, welche allen guten und bösen Göttern Trotz bietet, oder eine Mystik der irreligiösen Philosophie, obwohl die Erfahrung zeigt, dass letztere dann wenigstens gern ein äusseres Bündniss mit einer positiven Religion schliesst (z.B. Neuplatonismus). Bei alledem wollen wir nicht verkennen, dass die Religion derjenige Grund und Boden ist, auf dem die Mystik am leichtesten und üppigsten emporwuchert, aber sie ist keinesweges deren einzige Pflanzstätte. Die Mystik ist vielmehr eine Schlingpflanze, die an jedem Stabe emporwuchert, und sich mit den extremsten Gegensätzen gleich gut abzufinden weiss: Hochmuth und Demuth, Herrschsucht und Duldung, Egoismus und Selbstverleugnung, Enthaltsamkeit und sinnliche Ausschweifung, Selbstkasteiung und Genusssucht, Einsamkeit und Geselligkeit, Weltverachtung und Eitelkeit, Quietismus und thätiges Leben, Nihilismus und Weltreformation, Frömmigkeit und Gottlosigkeit, Aufklärung und Aberglauben, Genialität und viehische Bornirtheit, Alles verträgt sich gleich gut mit der Mystik.

Somit sind wir dazu gelangt, in allen solchen Extremen, in allen den oben angeführten historisch an den Mystikern sich darbietenden Erscheinungen nicht das Wesen der Mystik, sondern Auswüchse zu sehen, die herbeigeführt waren theils durch den Zeitgeist und Nationalcharakter, theils durch individuell krankhafte Anlage, theils durch verkehrte religiöse, moralische und practische Grundsätze, theils durch das ansteckende Beispiel der geistigen Verirrung, theils durch die Unzufriedenheit mit dem Drucke rauher Zeiten, welche dem höher Strebenden im weltlichen Leben so gar nichts Verlockendes zu bieten hatten, sondern nur abschrecken konnten, theils durch eine später zu betrachtende, im letzten Ziele der Mystik selbst liegende Gefahr des Ueberfliegens, theils durch eine Verkettung von allerlei aus dem Angeführten und anderen Umständen sich ergebenden Ursachen.

Es schien mir diese negative Betrachtung unerlässlich, um die Vorstellungen über das Mystische zu läutern, welche sich bei den meisten Menschen nur aus einer Summe dieser krankhaften Auswüchse der Mystik zusammensetzen, und dadurch verhindern dürften, die Mystik in ihren reineren Erscheinungsformen wiederzuerkennen.[309] Kehren wir nun abermals zu dem Kerne aller jener Erscheinungen, zu der wahren Mystik zurück, so wird zunächst so viel einleuchten, dass sie tief im innersten Wesen des Menschen begründet sein muss (wenn sie auch, wie künstlerische Anlagen, sich nicht in jedem entwickelt, am wenigsten in jedem gleichmässig oder nach gleichen Richtungen hin); denn sie zieht sich ohne Unterbrechung nur mit mehr oder weniger grosser Verbreitung von den ältesten vorhistorischen Zeiten bis auf die Gegenwart durch die Culturgeschichte hindurch. Sie hat wohl mit dem Zeitgeiste ihren Charakter geändert, aber kein Culturfortschritt ist je im Stande gewesen, sie zu verdrängen, sie hat ebenso unbesiegbar gegen den Unglauben des Materialismus, wie gegen die Schrecken der Inquisition Stand gehalten. Die Mystik hat aber auch dem Menschengeschlechte unschätzbare culturhistorische Dienste geleistet. Ohne die Mystik des Neupythagoräismus wäre nie das Johanneische Christenthum entstanden, ohne die Mystik des Mittelalters wäre der Geist des Christenthumes in katholischem Götzendienste und scholastischem Formalismus untergegangen, ohne die Mystik der verfolgten Ketzergemeinden seit dem Anfange des 11. Jahrhunderts, die trotz aller Unterdrückungen immer wieder mit erhöhter Kraft unter anderem Namen neu erstanden, hätten nie die Segnungen der Reformation die finsteren Schatten des Mittelalters verjagt und der neuen Zeit die Thore geöffnet; ohne die Mystik in dem Gemüthe des deutschen Volkes und in den Heroen der neueren deutschen Dichtung und Philosophie wären wir von dem seichten Triebsande des französischen Materialismus schon im vorigen Jahrhunderte so vollständig überschwemmt worden, dass wir, wer weiss wie lange, noch die Köpfe nicht wieder frei bekommen hätten. Wie für das Menschengeschlecht im Ganzen, so ist auch für das Individuum, so lange es sich von krankhaften Auswüchsen und einer überwuchernden Einseitigkeit frei hält, die Mystik von unschätzbarem Werthe. Denn wir sehen ja in der That, dass alle Mystiker sich in der Ausübung ihrer mystischen Anlagen überaus glücklich gefühlt und freudig alle Entbehrungen und Opfer getragen haben, um ihrer Richtung getreu zu bleiben; man denke nur an Jacob Böhme und seine namenlose Freudigkeit, die ihn durch alle Prüfungen begleitete, die doch gewiss aus lauterer Quelle stammte, und ihn weder von seinen bürgerlichen Pflichten abzog, noch durch unkluge Selbstquälereien getrübt war; man denke an die mystischen Heiligen des Alterthumes, einen Pythagoras, Plotin, Porphyrius u.s.w., welche zwar hohe Mässigkeit[310] und Enthaltsamkeit, aber keine Selbstquälereien übten. Die wahre Mystik ist also etwas tief im innersten Wesen des Menschen Begründetes, an sich Gesundes, wenn auch leicht zu krankhaften Auswüchsen Hinneigendes, und sowohl für das Individuum, als für die Menschheit von hohem Werthe.

Was ist sie aber endlich? Wenn wir immer das Schlechte in der Erscheinung hinwegdenken, so wird uns Gefühl, Gedanke und Wille übrig bleiben, und zwar wird der Inhalt jedes der Drei auch aussermystisch vorkommen können, nämlich des Gedankens und Gefühles in Philosophie und Religion, des Willens als bewusste magische Willenswirkung (nur ein einziger Gefühlsinhalt macht eine Ausnahme, weil er immer nur mystisch erzeugt werden kann, wie wir sogleich sehen werden). Wenn nun aber in allen anderen Fällen nicht der Inhalt es ist, der das specifisch Mystische enthält, so muss es die Art und Weise sein, wie dieser Inhalt zum Bewusstsein kommt und im Bewusstsein ist, und hierüber wollen wir zunächst einige Mystiker hören, wo man sich nun aber nach obigen Erklärungen schon nicht mehr wundern möge, Namen zu finden, die man sonst nicht unter die Mystiker rechnet, weil diese gerade die Mystik am reinsten von störendem Beiwerke repräsentiren.

Alle Religionsstifter und Propheten erklärten, theils ihre Weisheit von Gott persönlich erhalten zu haben, theils bei Abfassung ihrer Werke, beim Halten ihrer Reden und Thun ihrer Wunder vom göttlichen Geiste inspirirt zu sein, woraus die meisten der höher stehen den Religionen Glaubensartikel gemacht haben. Auch von den späteren Heiligen, die irgend eine neue Lehre oder Lebens- und Bussweise einführten, glaubte man, dass nicht der Mensch, sondern der göttliche Geist aus ihnen rede, und sie glaubten es selbst. Näheren Aufschluss giebt uns Jacob Böhme: »Ich sage vor Gott – – dass ich selber nicht weiss, wie mir damit geschiehet, ohne dass ich den treibenden willen habe, weiss ich auch nichts was ich schreiben soll. Denn so ich schreibe, dictiret es mir der geist in grosser, wunderlicher erkäntniss, dass ich offte nicht weiss, ob ich nach meinem geist in dieser Welt bin, und mich des hoch erfreue, da mir denn die stäte und gewisse erkäntniss wird mitgegeben, und je mehr ich suche, je mehr finde ich, und immer tiefer, dass ich auch offte meine sündige Person zu wenig und unwürdig achte, solche geheimniss anzutasten, da mir denn der Geist mein Panier aufschlägt und sagt: Sihe, du solt ewig darinnen leben, und gekrönet werden, was entsetzest du dich?« Ebenso giebt er seinem Leser den Rath in[311] der Aurora: »dass er Gott um seinen Heiligen Geist bitten solte. Denn ohne erleuchtung desselben wirst du diese geheimnisse nicht verstehen, denn es ist des menschen geist ein fest schloss dafür, das muss von ehe aufgeschlossen werden. Und das kann kein mensch thun, denn der Heilige Geist ist allein der Schlüssel dazu.« Ebenso wenig, wie er es von einem anderen Leser für möglich hält, konnte er selbst seine Schriften verstehen, wenn der Geist ihn verlassen hatte. – Wir gehen weiter und finden, dass die Quäker den Grundsatz aufstellten. Schulsatzung, Menschenweisheit und geschriebenes Wort hintenan zu setzen, und allein dem eigenen inneren Lichte zu vertrauen. – Bernhard von Clairveaux sagt: »Der Glaube ist eine mit dem Willen ergriffene sichere Vorempfindung einer noch nicht ganz enthüllten Wahrheit, und gründet sich auf Autorität oder Offenbarung, dahingegen die (innere) Anschauung (contemplatio) die gewisse und zugleich offenbare Erkenntniss des Unsichtbaren ist.« Weiter ausgeführt wird dies in seiner Schule (Richard und Hugo von St. Victor), von welcher die innere Offenbarung bezeichnet wird als die tiefere mystische Erkenntniss, welche nur den Auserwählten zu Theil wird, als Vernunft-Erleuchtung durch den Geist, als übernatürliche Erkenntnisskraft, als innere unmittelbare Anschauung, welche über die Vernunft erhaben ist. –

Der Vorkämpfer des modernen Mysticismus gegen die rationalistische Aufklärerei ist Hamann; derselbe will den Inhalt der äusseren göttlichen Offenbarung lebendig aus dem Boden des eigenen Geistes wiedererzeugt wissen, und die Lösung aller Widersprüche in dem an sich selbst gewissen Glauben finden, der ihm aus dem Gefühle, aus der unmittelbaren Offenbarung der Wahrheit hervorgeht. Was er angedeutet, hat Jacobi ausgeführt. Er sagt (an verschiedenen Stellen): »Die Ueberzeugung durch Beweise ist eine Gewissheit aus der zweiten Hand, beruht auf Vergleichung und kann nie recht sicher und vollkommen sein. Wenn nun jedes Fürwahrhalten, welches nicht aus Vernunftgründen entspringt, Glaube ist, so muss die Ueberzeugung aus Vernunftgründen selbst aus dem Glauben kommen und ihre Kraft allein von ihm empfangen. – Wer weiss, muss sich am Ende auf Sinnesempfindung oder auf Geistesgefühl berufen. – Wie es eine sinnliche Anschauung giebt durch den Sinn, so giebt es auch eine rationale durch die Vernunft. Beide sind in ihrem Gebiete das Letzte unbedingt Geltende. – Die Vernunft, als das Vermögen der Gefühle, ist das unkörperliche Organ für die Wahrnehmungen des Uebersinnlichen. Die Vernunftanschauung, obgleich in[312] überschwenglichen Gefühlen gegeben, ist doch wahrhaft objectiv. – Ohne das positive Vernunftgefühl eines Höheren, als die Sinnenwelt, wäre der Verstand nie aus dem Kreise des Bedingten getreten.«

Fichte und Schelling haben diese Ansichten aufgenommen, während Kant in seinem kategorischen Imperativ nur einen hinter formellem Verstandeswissen versteckten Gebrauch davon machte. Fichte sagt in den Einleitungsvorlesungen zur Wissenschaftslehre: »Diese Lehre setzt voraus ein ganz neues inneres Sinnenwerkzeug, durch welches eine neue Welt gegeben wird, die für den gewöhnlichen Menschen gar nicht vorhanden ist. Sie ist nicht etwa Erdenken und Schaffen eines Neuen, nicht Gegebenen, sondern Zusammenstellung und Erfassung in Einheit eines durch einen neu zu entwickelnden Sinn Gegebenen.« Dieser »Vernunftglaube« Jacobi's erhält bei Schelling seinen treffendsten Namen: intellectuelle Anschauung, welche derselbe als das unentbehrliche Organ alles transcendentalen Philosophirens hinstellt, als das Princip aller Demonstration , und als den unbeweisbaren, in sich selbstevidenten Grund aller Evidenz, mit einem Wort als den absoluten Erkenntnissact, – als eine Art der Erkenntniss, welche für den bewussten empirischen Standpunct stets unbegreiflich bleiben muss, weil sie nicht wie dieser ein Object hat, weil sie gar nicht im Bewusstsein vorkommen kann, sondern ausserhalb desselben fällt (vgl. Schelling I. 1, S. 181-182). – So haben wir diese Art des in's Bewusstseingelangens eines Inhaltes von dem rohen bildlichen Ausdrucke einer persönlichen göttlichen Mittheilung bis zu Schellings intellectualer Anschauung verfolgt, und haben hierin Dasjenige gefunden, was ein Gefühl oder einen Gedanken der Form nach mystisch macht.

Fragen wir, wie wir uns dieses unmittelbare Wissen durch intellectuale Anschauung zu denken haben, so geben auch hierauf Fichte und Schelling uns Antwort. Fichte sagt in den »Thatsachen des Bewusstseins«: »Der Mensch hat überhaupt nichts denn die Erfahrung, und er kommt zu Allem, wozu er kommt, nur durch die Erfahrung, durch das Leben selbst. Auch in der Wissenschaftslehre als der absolut höchsten Potenz, über welche kein Bewusstsein sich erheben kann, kann durchaus nichts vorkommen, was nicht im wirklichen Bewusstsein oder in der Erfahrung, der höchsten Bedeutung des Wortes nach liegt.« Und Schelling bestätigt (Werke II. Bd. 1. S. 326): »Denn allerdings giebt es auch solche, die von dem Denken, wie einem Gegensatz aller Erfahrung reden, als ob das Denken selber nicht eben auch Erfahrung wäre!« Das[313] unmittelbare oder mystische Wissen wird hier sehr gut unter den Begriff Erfahrung gefasst, weil es sich »im wirklichen Bewusstsein« als Gegebenes vorfindet, ohne dass der Wille etwas daran ändern könnte. Gleichviel, ob dies Gegebene von Innen oder von Aussen gegeben ist, der bewusste Wille hat in beiden Fällen nichts damit zu schaffen, und das Bewusstsein, welchem sein unbewusster Hintergrund eben unbewusst ist, muss mithin dessen Eingebungen ebenso, wie etwas Fremdes aufnehmen, woher der Glaube an göttliche oder dämonische Eingebung der intellectualen Anschauung in früheren Zeiten und bei philosophisch Ungebildeten stammt. Da das Bewusstsein weiss, dass es aus Sinnenwahrnehmung direct oder indirect sein Wissen nicht geschöpft hat, weshalb es ihm eben als unmittelbares Wissen gegenübertritt, so kann es nur durch Eingebung aus dem Unbewussten entstanden sein, und wir haben somit das Wesen des Mystischen begriffen: als Erfüllung des Bewusstseins mit einem Inhalte (Gefühl, Gedanke, Begehrung) durch unwillkürliches Auftauchen desselben aus dem Unbewussten.

Wir müssen demnach das Hellsehen und Ahnen als etwas Mystisches ansprechen, – als Unterabtheilung der Mystik, insofern sie sich auf den Gedanken bezieht, – und werden nicht umhin können, auch in jedem Instincte etwas Mystisches zu finden, insoweit nämlich das unbewusste Hellsehen des Instinctes als Ahnung, Glaube oder Gewissheit in's Bewusstsein tritt. Man wird mir ferner nach diesen Betrachtungen und denen der früheren Capitel beistimmen, wenn ich auch bei den gewöhnlichsten psychologischen Processen alle diejenigen Gedanken und Gefühle als der Form nach mystisch bezeichne, welche einem unmittelbaren Eingreifen des Unbewussten ihre Entstehung verdanken, also vor allem das ästhetische Gefühl in der Betrachtung und Production, die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung und die unbewussten Vorgänge beim Denken, Fühlen und Wollen überhaupt. Gegen diese völlig gerechtfertigte Anwendung sträubt sich nur das gemeine Vorurtheil, welches das Wunder und das Mysterium nur im Ausserordentlichen sucht, am Tagtäglichen aber nichts Unklares oder Wunderbares findet – nur deshalb, weil eben nichts Seltenes und Ungewöhnliches daran ist. Freilich nennt man einen Menschen, der eben nur diese überall wiederkehrenden psychologischen Mysterien in sich trägt, noch keinen Mystiker; denn wenn dies Wort mehr als Mensch bedeuten soll, so muss es eben für die Menschen aufgespart werden, welchen die selteneren[314] Erscheinungen der Mystik zu Theil werden, nämlich solche Eingebungen des Unbewussten, welche über das gemeine Bedürfniss des Individuums oder der Gattung hinausgehen, z.B. Hellsehende aus spontanem Somnambulismus oder natürlicher Disposition, oder Personen mit dunklerem, aber häufig fungirendem Ahnungsvermögen (Socrates' Daimonion); auch würde ich nicht Anstand nehmen, alle eminenten Genies der Kunst, welche ihre Leistungen überwiegend den Eingebungen ihres Genius und nicht der Arbeit ihres Bewusstseins verdanken, sie mögen in allen anderen Richtungen des Lebens so klare Köpfe sein, wie sie wollen (z.B. Phidias, Aeschylos, Raphael, Beethoven), im Gebiete ihrer Kunst als Mystiker zu bezeichnen, – und nur derjenige möchte hieran Anstoss nehmen, der selbst so wenig mystische Ader in sich trägt, dass ihm die Incommensurabilität des wahrhaften Kunstwerks mit allem rationalistischem Maassstab, so wie die Unendlichkeit seines Inhalts allen Definitionsversuchen gegenüber noch gar nicht zum Bewusstsein gekommen ist.

In der Philosophie möchte ich den Begriff noch weiter ausdehnen, und jeden originellen Philosophen einen Mystiker nennen, in soweit er wahrhaft originell ist; denn eine neue Richtung in der Geschichte der Philosophie ist niemals durch mühsames bewusstes Probiren und Induciren erquält worden, sondern stets durch einen genialen Blick erfasst und dann mit dem Verstande weiter ausgeführt worden. Dazu kommt, dass die Philosophie wesentlich ein Thema behandelt, welches mit dem Einen nur mystisch zu erfassenden Gefühle auf's Engste zusammenhängt, nämlich das Verhältniss des Individuums zum Absoluten. Alles Bisherige betraf nur solchen Bewusstseinsinhalt, der auch auf andere Weise entstehen kann oder könnte, also hier nur deshalb mystisch heisst, weil die Form seiner Entstehung mystisch ist, jetzt aber kommen wir zu einem Bewusstseinsinhalte, der in seiner Innerlichkeit nur mystisch zu erfassen ist, der also auch als Inhalt mystisch genannt werden kann; und ein Mensch, der diesen mystischen Inhalt produciren kann, wird ganz vorzugsweise Mystiker genannt werden müssen.

Der bewusste Gedanke kann nämlich die Einheit des Individuums mit dem Absoluten mit rationeller Methode begreifen, wie auch wir uns in unserer Untersuchung auf dem Wege zu diesem Ziele befinden, aber das Ich und das Absolute und ihre Einheit stehen ihm als drei Abstractionen da, deren Verbindung zum Urtheil durch die vorangehenden Beweise zwar wahrscheinlich[315] gemacht wird, – jedoch ein unmittelbares Gefühl dieser Einheit erlangt er nicht. Der Autoritätsglaube an eine äussere Offenbarung kann den Lehrsatz einer solchen Einheit gläubig nachsprechen, – das lebendige Gefühl derselben kann nicht von Aussen eingepflanzt oder aufgepfropft, es kann nur aus dem eigenen Geiste selbst herausgeboren werden, mit einem Worte, es ist weder durch Philosophie noch durch Offenbarung von Aussen her, sondern nur mystisch dazu zu gelangen, wenn auch bei gleicher mystischer Anlage um so leichter, je vollkommenere und reinere philosophische Begriffe oder religiöse Vorstellungen man mitbringt. Darum ist dieses Gefühl der Inhalt der Mystik kat' exochên weil er nur in ihr seine Existenz findet und zugleich das höchste und letzte, wenn auch, wie wir früher gesehen haben, keineswegs das einzige Ziel aller derer, die ihr Leben der Mystik geweiht haben.A69 Ja wir können sogar so weit gehen, zu behaupten, dass die Erzeugung eines gewissen Grades von diesem mystischen Gefühl und des in demselben liegenden Genusses das einzige innere Ziel aller Religion ist, und dass es deshalb nicht unrichtig, wenn auch weniger bezeichnend ist, den Namen religiöses Gefühl für dasselbe anzuwenden.

Wenn ferner in diesem Gefühl für den, der es hat, die höchste Seligkeit liegt, wie die Erfahrung an allen Mystikern bestätigt, so liegt offenbar der Uebergang zu dem Bestreben nahe, dies Gefühl dem Grade nach zu steigern dadurch, dass man die Vereinigung zwischen dem Ich und dem Absoluten immer enger und inniger zu machen sucht. Es ist aber auch unschwer zu sehen, dass wir hier an den schon vorhin angedeuteten Punct gekommen sind, wo die Mystik von selbst in etwas Krankhaftes umschlägt, indem sie ihr Ziel überfliegt; freilich müssen wir uns dazu ein wenig über den in unseren Untersuchungen bis jetzt erreichten Standpunct erheben. Es ist nämlich die Einheit des Absoluten und des Individuums, dessen Individualität oder Ichheit durch das Bewusstsein gegeben ist, also mit anderen Worten die Einheit des Unbewussten und Bewussten ein für alle Mal gegeben, untrennbar und unzerstörbar, ausser durch Zerstörung des Individuums; darum ist aber auch jeder Versuch, diese Einheit inniger zu machen, als sie ist, so widersinnig und nutzlos. Der Weg, der historisch fast immer dazu eingeschlagen wird, ist der der Vernichtung des Bewusstseins, das Streben, das Individuum im Absoluten aufgehen zu lassen; derselbe enthält aber den grossen Irrthum, als ob, wenn das Ziel der Vernichtung des Bewusstseins erreicht wäre, das Individuum noch bestände; das Ich[316] will sich zugleich vernichten, und zugleich bestehen bleiben, um diese Vernichtung zu geniessen. Es wird mithin dies Ziel nach beiden Seiten hin immer nur unvollständig erreicht, obgleich uns die Berichte der Mystiker erkennen lassen, dass manche es auf diesem Wege bis zu einer bewunderungswürdigen Höbe oder vielmehr Tiefe gebracht haben, so dass ich Einiges davon anführen will (die wahre Selbstvernichtung ist natürlich nur der Selbstmord, aber hier liegt der Widersprach zu klar zu Tage, als dass er oft das Resultat der Mystik geworden wäre).

Michael Molinos, der Vater des Quietismus, sagt unter den achtundsechzig von Innocenz VI. verdammten Sätzen seines berühmten »geistlichen Wegweisers«: »Der Mensch muss seine Kräfte vernichten, und die Seele vernichtet sich, indem sie nichts wirkt. Und ist es mit der Seele bis zum mystischen Tode gekommen, so kann sie – indem sie nun zu ihrer Grundursache, zu Gott, zurückgekehrt ist, weiter nichts wollen, als was Gott will.« Die Mystiker des früheren Mittelalters unterschieden auf verschiedene Art eine grössere oder geringere Anzahl Stufen; die letzte ist immer die Absorption, derselbe Zustand, den wir schon bei den buddhistischen Gymnosophisten, bei den neupersischen Ssufi's und den Hesychasten oder Quietisten oder Nabelbeschauern auf dem Berge Athos beschrieben finden. Es wird gesagt, dass in der Absorption der Mensch nichts mehr von seinem Leibe fühlt, überhaupt nichts Aeusseres, ja nicht einmal mehr sein Inneres wahrnimmt. »An die Absorption nur denken, heisst schon aus der Absorption herausfallen.« Der Eigenheit absterben, die Persönlichkeit völlig vernichten und im göttlichen Wesen aufgehen lassen, wird ausdrücklich gefordert. Ja sogar die wesentlichen Formen des Bewusstseins, Raum und Zeit, müssen verschwinden, wie wir aus einem Gespräche des Propheten mit Ssaid entnehmen, wo Letzterer sagt: »Tag und Nacht sind mir wie ein Blitz verschwunden, ich umfasste zumal die Ewigkeit vor und nach der Welt, so dass in solchem Zustande hundert Jahre oder eine Stunde dasselbe sind.« Alles dies bestätigt uns das Streben nach Identificirung mit dem Absoluten durch Vernichtung des individuellen Bewusstseins.

Der andere ebenfalls denkbare Weg zur Steigerung der Einheit wäre das Bestreben, das Absolute im Ich aufgehen zu lassen; auch dieser Weg ist von hochfahrenden Gemüthern versucht worden, aber er ist so vermessen, und das Ziel und die dem Individuum zu Gebote stehende Macht und Mittel dazu so unverhältnissmässig, dass wir ihn nicht weiter zu berücksichtigen brauchen.A70[317]

Von Mystikern gingen die religiösen Offenbarungen aus, von Mystikern die Philosophie;A71 die Mystik ist die gemeinschaftliche Quelle beider. Es ist wahr, dass die Furcht zuerst auf Erden Götter geschaffen, insoweit die Furcht es war, welche zuerst die Phantasie der mystischen Köpfe in Bewegung setzte, aber was sie schufen war ihr eigen, und die Furcht hatte keinen Theil daran. Als aber die ersten Götter einmal da waren, da zeugten sie unter einander weiter, und die Furcht war ausser Dienst gesetzt. Darum ist die alte, von den Theologen so hoch gehaltene Behauptung von dem im Menschen wohnenden Gottesbewusstsein keine Fabel, wenn es auch völlig gottlose Individuen und Völker gäbe, in denen es nicht zum Durchbruch gekommen; die Mystik ist ein Erbtheil von Adam her und ihre Kinder sind die Vorstellungen der Götter und ihres Verhältnisses zum Menschen. Wie erhaben und rein diese Vorstellungen schon in ganz frühen Zeiten in den esoterischen Lehren mancher Völker gewesen seien, zeigen uns die Inder, die eigentlich die ganze Geschichte der Philosophie implicite besessen haben, aber in bildlicher und unentwickelter Form, was wir nur allzu abstract in allzu viel Schriftstellern und Bänden.

So erkenne ich in der ganzen Geschichte der Philosophie nichts Anderes als die Umsetzung eines mystisch erzeugten Inhaltes aus der Form des Bildes oder der unbewiesenen Behauptung in die des rationellen Systems, wozu allerdings häufig eine mystische Neuproduction einzelner Theile erfordert wird, die man dann später erst in den alten Schriften wieder erkennt. – Es ist natürlich kein Wunder, dass von dem Augenblicke an, wo Philosophie und Religion sich trennen, sie beide ihren menschlich-mystischen Ursprung verleugnen; erstere sucht ihre Resultate als rationell erworbene darzustellen, letztere als äussere göttliche Offenbarungen. Denn so lange der Mystiker bei seinen Resultaten stehen bleibt, ohne eine rationelle Begründung derselben zu versuchen, ist er noch nicht Philosoph, und wird dies erst dadurch, dass er die bewusste Vernunft in ihre Rechte einsetzt; dies wird er aber nicht eher thun, als bis er dieser vor der Mystik den Vorzug giebt, und dann wird er gern den mystischen Ursprung seiner Resultate verleugnen und vergessen, was ihm bei der Unklarheit ihrer Entstehungsweise nicht schwer wird. Wenn dagegen der Mystiker von der bewussten Vernunft gering denkt, oder von der Natur zur phantasievollen Darstellung hinneigt, so wird er einen bildlich-symbolischen Ausdruck für seine Resultate suchen, der natürlich immer nur ein zufälliger und unvollkommener[318] sein kann; sobald nun er selbst oder seine Nachfolger unfähig werden, die hinter den Symbolen steckende Idee zu erfassen, und jene selbst als das Wahre nehmen, so hören sie wiederum auf, Mystiker zu sein und werden religiös; da sie ihre Symbole weder mystisch selbst wieder erzeugen können, noch dieselben rationell begreiflich sind, so müssen sie sich auf die Autorität des Stifters für die Wahrheit derselben berufen, und da menschliche Autorität für so wichtige Sachen zu gering erscheint, auch wohl der Stifter selbst schon göttliche Mittheilungen behauptet hat, so wird ihre Wahrheit auf die göttliche Autorität selbst zurückgeführt. So entstehen die Gebilde, welche den dogmatischen Inhalt der Religion bilden. Je adäquater die Symbole der mystischen Idee sind, desto reiner und erhabener ist die Religion, desto abstracter und philosophischer müssen aber auch die Symbole sein, je inadäquater und sinnlicher sie sind, desto mehr versinkt die Religion in abergläubischen Götzendienst und priesterliches Formelwesen. Wer nun also die Symbole der Religion wieder bloss als Symbole versteht und die hinter ihnen wohnende Idee ergreifen will, der tritt aus der Religion als solcher heraus, welche Buchstabenglauben an die Symbole verlangt und verlangen muss, und wird wieder Mystiker; und dies ist der gewöhnliche Weg, auf welchem der Mysticismus sich bildet, indem hellere Köpfe an der historisch gegebenen Religion ein Ungenüge finden und die tieferen Ideen erfassen wollen, die hinter den Symbolen derselben wohnen. Man sieht jetzt, wie nahe verwandt Religion und Mysticismus sind und wie sie doch etwas principiell Verschiedenes sind; man sieht auch, warum eine fertige Kirche der Mystik immer feindlich sein muss.

Fragen wir nun, woher es kam, dass die Mystik, welche den Menschen die ersten Offenbarungen des Uebersinnlichen brachte, nicht bei sich stehen blieb, sondern in Philosophie und Religion umschlug, so zeigt sich der Grund hiervon in der Formlosigkeit des rein mystischen Resultates, welches nothwendig streben muss, eine Form zu gewinnen; so wenig das Mystische an sich mittheilbar an einen Anderen ist, so wenig ist es fassbar für das Bewusstsein des Denkers selbst; es ist eben wie alles Unbewusste erst dann dem Bewusstsein ein bestimmter Inhalt, wenn es in die Formen der Sinnlichkeit eingegangen, als Licht, Klarheit, Vision, Bild, Symbol oder abstracter Gedanke; vorher ist es nur absolut unbestimmtes Gefühl, d.h. das Bewusstsein erfährt nichts als Seligkeit oder Unseligkeit schlechthin. Wird nun das Gefühl erst durch Bilder oder[319] Gedanken der Art nach bestimmt, so ruht in diesem Bild oder Gedanken allein für das Bewusstsein der Inhalt des mystischen Resultates und es ist mithin kein Wunder, dass, wenn bei Abschwächung der mystischen Kraft neue Eingebungen ausbleiben, das Bewusstsein sich an diese sinnlichen Residuen hält, – am wenigsten, wenn Andere dies thun, denen nur jene Residuen und nicht die damit verknüpften Gefühle mitgetheilt werden können, nicht jenes unbestimmte Etwas, welches dem productiven Mystiker sagt, dass seine Bilder und Gedanken immer noch ein unvollkommener Ausdruck der übersinnlichen Idee sind. Die Mittheilung verlangt aber noch mehr, der Andere will nicht bloss das Was der mystischen Resultate haben, sondern auch das Warum, denn der productive Mystiker erhält zwar durch die Art, wie er dazu kommt, eine unmittelbare Gewissheit, aber woher soll ein Dritter die Ueberzeugung nehmen? Die Religion hilft sich hier eben mit dem das selbstständige Urtheil vernichtenden Surrogat des Autoritätsglaubens, die Philosophie aber versucht, das, was sie mystisch empfangen, rationell zu beweisen, und dadurch das Alleingut des Mystikers zum Gemeingut der denkenden Menschheit zu machen. Nur zu häufig sind, wie es bei der Schwierigkeit des Gegenstandes nicht anders sein konnte, diese rationellen Beweise verunglückt, indem sie, abgesehen von dem, was an ihnen wirklich unrichtig ist, selbst wieder auf Voraussetzungen beruhen, von deren Wahrheit nur mystisch die Ueberzeugung gewonnen werden kann, und so kommt es, dass die verschiedenen philosophischen Systeme, so Vielen sie auch imponiren, doch nur für den Verfasser und für einige Wenige volle Beweiskraft haben, welche im Stande sind, die zu Grunde liegenden Voraussetzungen (z.B. Spinoza's Substanz, Fichte's Ich, Schelling's Subject-Object, Schopenhauer's Wille) mystisch in sich zu reproduciren, und dass diejenigen philosophischen Systeme, welche sich der meisten Anhänger erfreuen, gerade die allerärmsten und unphilosophischsten sind (z.B. der Materialismus und der rationalistische Theismus).

Sollte ich nun den Mann nennen, den ich für die Blume des philosophischen Mysticismus halte, so sage ich Spinoza: als Ausgangspunct die mystische Substanz, als Endpunct die mystische17[320] Liebe Gottes, in der Gott sich selber liebt, und alles Uebrige sonnenklar – nach mathematischer Methode.

Gewiss hat Spinoza nicht geglaubt, Mystiker zu sein, sondern vielmehr vermeint, Alles so sicher bewiesen zu haben, dass Jeder es einsehen müsse, und doch hat sein System, so sehr es imponirt, gar nichts Ueberzeugendes und so Wenige überzeugt, weil man zunächst von der Substanz in Spinoza's Sinne überzeugt sein muss, was nur ein Mystiker kann, oder ein Philosoph, der zum Schlusse seines Systemes dieselbe auf andere Weise erreicht hat, und dann den Spinozismus nicht mehr braucht. Aehnlich ist es aber mit allen anderen Systemen, ausgenommen die wenigen, die von unten anfangen wie Leibniz und die Engländer, dann aber auch nicht weit kommen, und eigentlich nicht mehr Systeme zu nennen sind. Der vollständige rationelle Beweis für die mystischen Resultate kann erst am Schlüsse der Geschichte der Philosophie fertig sein, denn letztere besteht, wie gesagt, ganz und gar in dem Suchen dieses Beweises.

Endlich dürfen wir nicht unterlassen, auf die Gefahr des Irrthums aufmerksam zu machen, welche in der Mystik liegt, und welche in dieser darum so viel schlimmer ist, als im rationellen Denken, weil letzteres in sich selbst und in der Mitwirkung Anderer die Controle und Hoffnung der Verbesserung hat, der in mystischer Gestalt eingeschlichene Irrthum aber unaustilgbar fest eingewurzelt sitzt. Dabei darf man aber nicht daran denken, als ob das Unbewusste falsche Eingebungen ertheilte, sondern es ertheilt dann gar keine, und das Bewusstsein nimmt die Bilder seiner uninspirirten Phantasie dennoch für Inspirationen des Unbewussten, weil es sich nach diesen sehnt.

Es ist ebenso schwer, eine wahrhafte Eingebung des Unbewussten im wachen Zustande bei mystischer Stimmung von blossen Einfällen der Phantasie zu unterscheiden, als einen hellsehenden Traum von einem gemeinen; wie hier nur der Erfolg, so kann dort nur die Reinheit und der innere Werth des Resultates diese Frage entscheiden. Da aber die wahren Inspirationen immerhin seltene Zustände sind, so ist leicht einzusehen, dass bei Allen, die solche mystische Eingebungen herbeisehnen, sehr viele Selbsttäuschungen auf Eine wahre Eingebung kommen müssen, es ist also nicht zu verwundern, wie viel Unsinn die Mystik zu Tage gefördert hat, und dass sie deshalb jedem rationellen Kopfe zunächst heftig widerstehen muss.[321]

A69

S. 316 Z. 14. Es ist hier zu unterscheiden die in formeller Hinsicht mystische Beschaffenheit der Entstehung irgend welchen Bewusstseinsinhalts und das jenige inhaltlich Mystische, was nur auf formell mystische Weise und auf keine andere gewonnen oder reproducirt werden kann. Formell mystisch ist jeder unwillkürlich aus dem Unbewussten auftauchende Bewusstseinsinhalt; inhaltlich mystisch ist nur die formell-mystische Production des Einheitsgefühls mit dem All-Einen, die intuitive Zerreissung des Schleiers der Maya oder die gefühlsmässige Ueberspringung der Schranken der Individuation. Als zur inhaltlichen Mystik gehörig, wenn auch nur indirect oder in abgeleitetem Sinne, gelten die Bemühungen, welche zur Herbeiführung dieser unio mystica dienen, oder dieselbe erleichtern sollen, oder als eine unvollkommene Annäherung an dieselbe gelten wollen. Auch die Magie hat insofern einen inhaltlich mystischen Charakter, als sie aus einer Ueberspringung der Schranken der Individuation entspringt, nicht aber, sofern sie auf der Entfaltung und Verwerthung noch unerforschter Kräfte des Individuums als solchen beruht. Die Versuche, Beziehungen mit Verstorbenen oder Elementargeistern anzuknüpfen, gehören unmittelbar genommen wesentlich den nichtmystischen Bestrebungen der Magie an, und gewinnen nur insofern einen indirect mystischen Anstrich, als die Schranken der Individuation sich bei denselben zu lockern scheinen und Hindeutungen auf die wurzelhafte Einheit aller Wesen im Unbewussten dabei zu Tage treten. Ebenso hat die gefühlsmässige Beziehung des empirischen Ich zu einem hinter dessen Bewusstsein verborgenen »transcendentalen Subject« nur in dem Maasse einen mystischen Charakter, wie das »transcendentale Subject« dem absoluten Subject näher stehend und enger verbunden gedacht wird im Vergleich zu dem empirischen Ich des normalen Selbstbewusstseins, während ohne den Gedanken an eine solche Lockerung der Individuationsschranken in der fraglichen Sphäre auch von Mystik keine Rede sein kann.

A70

S. 317 letzte Z. Sowohl bei der Selbstvernichtung in's Absolute als auch bei der Selbstverabsolutirung bewegt sich die inhaltliche Mystik in einem Widerspruch, indem sie den Gegensatz zwischen dem Ich und dem Absoluten gleichzeitig aufheben und festhalten will. Die ontologische Wesenseinheit mit dem Absoluten besitzt das Ich immer, auch wenn es dieselbe verkennt oder leugnet, und die teleologische Willenseinheit mit dem Absoluten erreicht es nur durch seine religiös-sittliche Bethätigung im Sinne der objectiven Zwecke, also durch praktische Hingabe und thätige Bewährung seines Individualwillens im Dienste des absoluten Willens. Die ontologische Wesenseinheit kann das Ich jederzeit wissen, die teleologische Willenseinheit kann und soll es jederzeit vollbringen. Das Streben der inhaltlichen Mystik seht nun aber über diese beiden Ziele hinaus und ist auf eine gefühlsmässige unio mystica gerichtet. Sofern damit bloss eine vorübergehende gefühlsmässige, intuitive Vergewisserung des in abstracto Gewussten und Gewollten gemeint ist, kann eine solche Vervollständigung des Einheitsbewusstseins nur zum Heile gereichen, indem sie die religiös-sittliche Gesinnung stärkt und kräftigt. Aber die Mystik begnügt sich nicht mit dieser Ausdehnung des Einheitsbewusstseins auf den ganzen Menschen einschliesslich des gefühlsmässigen Innewerdens, sondern verlangt nach egoistischem Geniessen einer vollen und unbeschränkten Einheit. Hier tritt nun der Widerspruch zu Tage, dass mit Beseitigung der Individualitätsschranke und für die Dauer derselben eo ipso auch das Bewusstsein der Individualität und mit dieser die Möglichkeit des individuellen Geniessens ebensosehr aufgehoben ist wie die individuelle Leistungsfähigkeit. Der Widerspruch der Mystik führt bei längerer mystischer Uebung nothwendig zu Quietismus, Bewusstseinsabtödtung, Verdummung, Erschlaffung aller Geisteskräfte und schliesslich zum Selbstmord, wenn nicht abergläubische Dogmen (wie die buddhistische Karmalehre) das Ziehen dieser letzten Consequenz verhindern. Das Streben nach unbeschränkter Einheit ist das Gegentheil der teleologischen Willenseinheit, nämlich das Gegentheil dessen, was das All- Eine Unbewusste mit der Individuation gewollt und bezweckt hat; es entzieht die Kräfte des Individuums dem Dienste des Ganzen, dem sie gewidmet sein sollten, ohne ihm den Genuss verschaffen zu können, um dessen willen seine Selbstsucht seinen Pflichten untreu wurde. (Vgl. hierzu: »Das sittliche Bewusstsein«, 2. Aufl. Theil II C. II; »Das religiöse Moralprincip oder das Moralprincip der Wesensidentität mit dem Absoluten«, S. 633-659; »Die Religion des Geistes« S. 44-55, 227-233, 291-294; »Phil. Fragen der Gegenwart« S. 202-203, »Krit. Wanderungen« S. 173-181.)

A71

S. 318 Z. 2. Mit der Religion steht die inhaltliche Mystik in engster Verwandtschaft, weil das religiöse Verhältniss zwischen Menschen und Gott, Ich und Absolutem, der Mittelpunkt aller Religion ist, und proportional mit deren Vertiefung auf eine unio mystica in irgendwelcher Gestalt abzielt; mit der Philosophie hat sie die engste Berührung, weil alle Philosophie auf Metaphysik und alle Metaphysik auf Monismus hinausweist.

17

Als das naturgemässeste und leichteste Mittel hierzu erscheint das Zusammenführen zweier zur Hervorbringung der geforderten Individualität geeigneten Persönlichkeiten durch eine zu dem unbewussten Zweck der Erzeugung dieses hervorragenden Menschen in ihnen entflammte Liebe (vgl. Dr. Carl Freiherr du Prel: »Die Metaphysik der Geschlechtsliebe in ihrem Verhältniss zur Geschichte« in der »Oestr. Wochenschrift f. Wiss. u. Kunst« 1872 Nr. 34).

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 306-322.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3

Buchempfehlung

Lessing, Gotthold Ephraim

Philotas. Ein Trauerspiel

Philotas. Ein Trauerspiel

Der junge Königssohn Philotas gerät während seines ersten militärischen Einsatzes in Gefangenschaft und befürchtet, dass er als Geisel seinen Vater erpressbar machen wird und der Krieg damit verloren wäre. Als er erfährt, dass umgekehrt auch Polytimet, der Sohn des feindlichen Königs Aridäus, gefangen genommen wurde, nimmt Philotas sich das Leben, um einen Austausch zu verhindern und seinem Vater den Kriegsgewinn zu ermöglichen. Lessing veröffentlichte das Trauerspiel um den unreifen Helden 1759 anonym.

32 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon