VIII. Das Unbewusste in der Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung

[281] Kant behauptete in seiner transcendentalen Aesthetik, dass der Raum von der Seele nicht irgend wo anders her passiv empfangen, sondern von derselben selbstthätig erzeugt würde, und brachte mit diesem Satze einen totalen Umschwung in der Philosophie hervor. Weshalb hat nun aber von jeher dieser richtige Satz sowohl dem gemeinen Menschenverstande, als auch der naturwissenschaftlichen Denkweise mit wenigen Ausnahmen so völlig widerstrebt?

1) Weil Kant, und nach ihm Fichte und Schopenhauer, aus dem richtigen Satze falsche und dem Instincte der gesunden Vernunft widerstrebende, subjectiv-idealistische Consequenzen zogen;

2) weil Kant falsche Beweise für seine richtige Behauptung gegeben hatte, die in Wahrheit gar nichts bewiesen;

3) weil Kant, ohne sich selbst darüber Rechenschaft zu geben, von einem unbewussten Process in der Seele spricht, während die bisherige Anschauungsweise nur bewusste Processe der Seele kennt und für möglich hält, das Bewusstsein aber eine selbstthätige Erzeugung von Raum und Zeit leugnet, und mit vollem Recht ihr Gegebensein durch die sinnliche Wahrnehmung als fait accompli behauptet;

4) weil Kant mit dem Raume die Zeit gleichstellte, von welcher dieser Satz nicht gilt.

Diese vier Puncte haben wir der Reihe nach zu betrachten, da die unbewusste Erzeugung des Raumes die Grundlage für die Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung ist, mit welcher erst das Bewusstsein beginnt und welche wieder die Grundlage alles bewussten Denkens ist.

[281] Ad 1. Nehmen wir zunächst als bewiesen an, dass Raum und Zeit auf keine andere Weise in das Denken hinein gelangen können, als dass dieses sie selbstthätig aus sich producirt, so folgt daraus auf keine Weise, dass Raum und Zeit ausschliesslich im Denken reale Existenz haben können und nicht auch ausserhalb des Denkens im realen Dasein. Die Uebereiltheit dieses Schlusses, den Kant wirklich macht, und womit er zur Leugnung der transcendentalen Realität des Raumes und zur einseitigen Idealität seines Systemes kommt, ist schon von Schelling (Darstellung des Naturprocesses, Werke I. 10, 314-321) und Trendelenburg (»Ueber eine Lücke in Kant's Beweis von der ausschliessenden Subjectivität des Raumes und der Zeit« im III. Bd. der historischen Beiträge No. VII) aufgezeigt worden; Genaueres findet man darüber in meiner Schrift: »Das Ding an sich und seine Beschaffenheit« (Berlin, C. Duncker 1871), speciell in den beiden letzten Abschnitten: VII. »Raum und Zeit als Formen des Dinges an sich« und VIII. »Kritik der transcendentalen Aesthetik«.A66 Hier kann es sich nur darum handeln, in aller Kürze die Gründe zu betrachten, welche es wahrscheinlich machen, dass Raum und Zeit wirklich eben so gut Formen des Daseins, als des Denkens sind.

a) Wir haben uns zunächst die Gründe für die reale Existenz eines jenseit des Ich liegenden Nichtichs oder einer Aussenwelt klar zu machen. Zwei Hypothesen sind consequenterweise nur möglich; entweder spinnt das Ich sich selber unbewusst die scheinbare Aussenwelt aus sich heraus, dann hat nur das Ich Existenz, also muss jeder Leser die Existenz nicht nur der äusseren Dinge, sondern aller anderen Menschen leugnen; oder es existirt ein vom Ich unabhängiges Nichtich, und die Vorstellung der Aussenwelt im Ich ist das Product beider Factoren. Welche von beiden Hypothesen die wahrscheinlichere ist, muss dadurch entschieden werden, welche die Erscheinungen der Vorstellungswelt ungezwungener erklärt; möglich sind beide.

α) Die Sinneseindrücke haben einen Grad der Lebhaftigkeit, welchen blosse, durch eigene Geistesthätigkeit erzeugte Vorstellungen nur in krankhaften Zuständen zu erreichen pflegen. Ausserdem bringen sie (namentlich in den Kinderjahren) oft Neues, während letztere immer nur aus bekannten Erinnerungen und Theilen solcher zusammengesetzt sind. Dies erklärt sich leicht durch Einwirkung einer Aussenwelt, schwer aus dem Ich allein.

β) Zur Entstehung eines Sinneseindruckes ist das Gefühl des[282] geöffneten Sinnes erforderlich, dagegen bewirkt das Gefühl des geöffneten Sinnes nicht nothwendig einen Sinneseindruck, z.B. bei Dunkelheit, Geruchlosigkeit. Dies erklärt sich leicht aus Einwirkung einer Aussenwelt, schwer aus dem Ich allein.

γ) Die sinnlichen Vorstellungen entstehen nach dem Gesetz der Gedankenfolge aus der jedesmal vorhergehenden unter Einwirkung der Stimmung u.s.w. – Die Sinneseindrücke treten meist plötzlich und unerwartet ein, und stets ohne Zusammenhang mit der inneren Gedankenkette. Diese Erscheinung ist nur dann ohne Einwirkung einer Aussenwelt möglich, wenn das Gesetz der Gedankenfolge im Geiste bald gilt, bald nicht gilt, eigentlich erklärbar ist sie auch bei dieser Annahme aus dem Ich allein noch nicht.

δ) Den meisten Eindrücken kommt die Eigenthümlichkeit zu, dass auf das Ding, auf welches man sie bezieht, auch gleichzeitig durch einen anderen Eindruck eines anderen Sinnes geschlossen wird (z.B. eine Speise kann man gleichzeitig sehen, riechen, schmecken, fühlen). Dies erklärt sich leicht durch Einwirkung einer Aussenwelt, schwer durch blosse innere Geistesvorgänge; denn wollte man annehmen, dass die zusammengehörigen Sinneseindrücke sich gegenseitig hervorrufen, z.B. der Gesichtseindruck einer Speise den Geruchseindruck derselben bei geöffnetem Geruchssinn mit sich führt, so wird dies dadurch widerlegt, dass man Geruchs- und Gesichtssinn abwechselnd öffnen und schliessen kann, und doch jedesmal den betreffenden Sinneseindruck der Speise erhält. Wollte man hiergegen die weitere Annahme machen, dass nicht bloss der gleichzeitige, sondern auch der vorhergegangene Gesichtseindruck der Speise den Geruchseindruck derselben bewirken könne und umgekehrt, so steht dem wieder der Umstand entgegen, dass bei dem abwechselnden Oeffnen und Schliessen beider Sinne das eine Mal der Gesichtseindruck da sein kann, das andere Mal nicht, wenn nämlich die Speise entfernt ist, so dass also der Geruchseindruck unter sonst gleichen Umständen das eine Mal den Gesichtseindruck hervorrufen müsste, das andere Mal nicht, was dem Gesetze »gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen« widerspricht. (Näheres siehe bei Wiener, »Grundzüge der Weltordnung«, Buch 3, unter »Beweis für die Wirklichkeit der Aussenwelt«).

ε) Die Dinge, d.h. die Ursachen der Sinneseindrücke wirken auf einander nach ganz bestimmten Gesetzen; wollte man nun die Sinneseindrücke bloss aus dem Ich erklären, so müssten diese Gesetze auf die inneren Geistesvorgänge übertragbar sein. Dies sind sie aber nicht; denn[283] nur in den seltensten Fällen folgen die Sinneseindrücke von Ursache und Wirkung einander ebenso, wie Ursache und Wirkung draussen; häufig dagegen nimmt man zu einer Zeit die Wirkung wahr, und einer ganz anderen späteren Zeit die Ursache; es kann aber nicht ein späterer Sinneseindruck die Ursache eines früheren sein.

ζ) Jedes Ich erhält nächst der Vorstellung seines eigenen Leibes auch Vorstellungen von einer grossen Menge fremder, dem seinigen ähnlicher Leiber, welchen den seinigen ähnliche Geistesfähigkeiten einwohnen; es findet, dass alle diese Wesen über Ich und Nichtich dieselben Vorstellungen kundgeben, und dass ihre Aussagen über die Beschaffenheit der Aussenwelt in auffallender Weise theils mit einander übereinstimmen, theils sich gegenseitig berichtigen und von ihrer Irrthümern überführen. Jedes Ich sieht diese wie sich selbst geboren werden, erwachsen, sterben, es erhält von denselben Schutz, Hülfe und Unterweisung zur Zeit der Kindheit, wo die eigene Kraft und Kenntniss nicht ausreicht, und erhält zu jeder Zeit seines Lebens von anderen direct oder indirect (durch Bücher) Belehrungen, in welchen Gedanken vorkommen, die es selbst zu fassen sich als unfähig bekennen muss. Es lernt aus Ueberlieferungen die Reihe seiner Mitmenschen rückwärts verfolgen, und in der Geschichte einen Plan erkennen, in dem es sich als ein Glied betrachten muss. Dies Alles ist fast unmöglich aus der alleinigen Existenz des Ich, leicht aber bei Existenz Einer für alle Ich's gemeinsamen Aussenwelt zu erklären: welche die auf einander wirkenden Leiber dieser Ich's in sich schliesst. Da andere Ich's nur durch ihre Leiber auf mich wirken können, so ist jeder Schluss auf die transcendente Realität anderer Ich's falsch, wenn er nicht durch den Schluss auf die transcendente Realität meines und anderer Leiber vermittelt, und auf diesen gegründet ist.

η) Die inneren Vorstellungen können durch den bewussten Willen beliebig hervorgerufen, festgehalten und wiederholt werden, die Sinneseindrücke sind bei geöffnetem Sinnesorgane vom bewussten Willen völlig unabhängig. Dies ist leicht durch Einwirkung einer Aussenwelt zu erklären, schwer aus dem Ich allein; es müsste eben ein unbewusster Wille sie schaffen und dem in der weiten Weh mit sich einsamen Bewusstsein des Ich den Schein einer Aussenwelt vorspiegeln; ein Gaukelspiel, in dem gar kein Sinn und Vernunft wäre und, wie die vorigen Nummern darthun, die tollste Laune und Willkür mit der strengsten Gesetzmässigkeit sich auf unbegreifliche Weise vereinen müsste und die höchste Weisheit auf eine Seifenblase, einen wahnwitzigen Traum, verwendet wäre. –[284]

Man sieht nach dem Angeführten, dass die Wahrscheinlichkeit für die Existenz eines dem Ich gegenüber selbstständig existirenden und das Ich causal beeinflussenden Nichtich so gross ist, wie nur möglich, und dass auch hier wieder der natürliche Instinct von der wissenschaftlichen Betrachtung gerechtfertigt wird. Dieser Nothwendigkeit, zur Entstehung der Sinneseindrücke eine äussere transcendente Causalität zu haben, konnten sich auch Kant und Fichte nicht entziehen, obwohl sie dieselbe mit Worten leugnen, denn bei Kant ist der Inhalt der Anschauung schlechthin gegeben, und obwohl er dadurch seinen eigenen Lehren von der bloss immanenten Bedeutung der Causalität widerspricht, so sagt er doch wiederholentlich und ausdrücklich, dass dasjenige, wodurch dieser Inhalt gegeben sei, das Ding an sich sei (vgl. »das Ding an sich« Abschn. IV. »Die transcendente Ursache« und V. »Transcendente und immanente Causalität«). Fichte wiederum kommt nach allen missglückten Versuchen, das Nichtich ganz aus dem Ich herauszuspinnen, nicht darüber hinweg, eines äusseren Anstosses für diese Thätigkeit des Ich zu bedürfen, und dieser Anstoss repräsentirt bei Fichte erst das wahre Nichtich. Auch Berkeley supponirt für jede Wahrnehmung eine transcendente Ursache, nur dass er alle diese (mit Ueberspringung der Welt der Dinge an sich) unterschiedslos unmittelbar in das Absolute verlegt, d.h. auf jeden Erklärungsversuch der Wahrnehmungen und jeden Orientirungsversuch über die realen Zusammenhänge ihrer speciellen Entstehungsursachen verzichtet.

Wenn es nun feststeht, dass selbst die consequentesten Idealisten nicht den Muth gehabt haben, ihre Consequenz bis zur Leugnung eines selbstständigen Nichtich zu treiben, wenn das Gefühl nicht los zu werden ist, dass die Wahrnehmung im Ganzen etwas wider den eigenen Willen von Aussen Aufgezwungenes ist, das nur durch Annahme eines realen Nichtich verständlich wird, so geht aus dem Angeführten mit derselben Gewissheit hervor, dass auch die Unterschiede in den sinnlichen Wahrnehmungen nicht vom Ich erzeugt, sondern diesem vom Nichtich aufgezwungen sind. Denn die Einsicht wäre um gar nichts gefördert, wenn das Nichtich immer ein und dasselbe wäre und folglich immer auf ein und dieselbe Weise wirkte, indem es bloss einen äusseren Anstoss lieferte. Denn dann bliebe es dem Ich wiederum überlassen, dem ewig gleichen Impuls des Nichtich in sonderbarer Caprice bald diese, bald jene räumliche oder zeitliche Bestimmung oder Kategorie des Denkens wie einen gleichgültigen Mantel umzuhängen, und sich so das ganze [285] Wie und Was der Aussenwelt selber zu erbauen, während ihm der Impuls nur das Dass derselben garantirt. Hierbei würden sich alle angeführten Schwierigkeiten unverändert wiederholen. So lässt auch Schopenhauer die Unterschiede in den Anschauungen der Vorstellungswelt durchweg bedingt sein durch entsprechende Modificationen in dem Willenswesen der Dinge an sich, welche durch sie für die Vorstellung repräsentirt werden (Parerga § 103 b); hiermit räumt er aber thatsächlich doch wieder die mit Worten ausdrücklich perhorrescirte transcendente Causalität ein, denn wie sollen die Dinge an sich dieses Pferdes oder dieser Rose es anfangen, meine Vorstellungen beider den Modificationen ihrer Natur gemäss zu bestimmen, es sei denn durch eine transcendente Causalität, welche sich unmittelbar als bestimmte Afficirung meiner Sinnesorgane darstellt?A67

Es muss also jede einzelne Bestimmung in der Wahrnehmung als Wirkung des Nichtich aufgefasst werden, und da verschiedene Wirkungen verschiedene Ursachen voraussetzen, so erhalten wir ein System so vieler Verschiedenheiten im Nichtich, als Unterschiede in der Wahrnehmung bestehen. Nun könnten allerdings diese Verschiedenheiten im Nichtich unräumlicher und unzeitlicher Natur sein, und Raum und Zeit dem Denken allein angehörige Formen; dann müssten sich aber diese Verschiedenheiten in zwei anderen objectiven Formen bewegen, welche den subjectiven Formen von Raum und Zeit parallel laufen müssten, da ohne andere Seinsformen, welche im Nichtich Raum und Zeit ersetzten, in demselben überhaupt keine entsprechenden Unterschiede statt haben könnten. Diese Annahme anderer, aber correspondirender Formen im Nichtich welche schon Reinhold und später Herbart bei seinem intelligiblen Raum und Zeit vorgeschwebt zu haben scheint, würde, ganz abgesehen davon, dass sie die Möglichkeit jeder objectiven Erkenntniss der Dinge ausschliesst, ohne dafür irgend einen Nutzen zu gewähren, dem allgemein beobachteten Gesetze widersprechen, dass die Natur zu ihren Zwecken stets die einfachsten Mittel wählt: warum sollte sie vier Formen anwenden, wo sie mit zweien eben so gut und noch besser auskommt? Das Parallellaufen je zweier von diesen Formen in Dasein und Denken und ihre Wechselwirkung, welche factisch beim Wahrnehmen und beim Handeln besteht, erforderte eine prästabilirte Harmonie, die sich bei unserer Annahme in die Identität der Formen auflöst. Auch Hegel sagt (grosse Logik Einleit. S. VIII): »Wenn sie (die Formen des Verstandes) nicht Bestimmungen[286] des Dinges an sich sein können, so können sie noch weniger Bestimmungen des Verstandes sein, dem wenigstens die Würde eines Dinges an sich zugestanden werden sollte.«A68

b) Die Mathematik ist die Wissenschaft von den Raum- und Zeitvorstellungen, wie unser Denken sie bildet, und nicht anders bilden kann. Wenn wir nun ein nicht durch Denken, sondern durch successive Wahrnehmung gegebenes reales Dreieck, das für simultane Anschauung zu gross sein mag, ausmessen, und finden bei allen ähnlichen Messversuchen dasselbe Gesetz bestätigt, was uns das reine Denken gab, dass die Winkelsumme = 2 R. ist, wenn wir ferner berücksichtigen, dass die Bestimmungen der Wahrnehmung etwas durch das System der Verschiedenheiten im Nichtich der Seele mit Nothwendigkeit Aufgezwungenes sind, also in Verschiedenheiten des Nichtichs ihre Ursachen haben, so geht aus der ausnahmslosen empirischen Bestätigung der mathematischen Gesetze hervor, dass die Verschiedenheiten im Nichtich Gesetzen folgen, welche zwar den Formen jenes entsprechen müssen, aber so völlig mit den Denkgesetzen des Raumes und der Zeit parallel gehen, dass hier wiederum die Annahme einer prästabilirten Harmonie unvermeidlich ist, während eine mit der Identität der Formen zusammenhängende Identität der Gesetze keine solche gewaltsame Annahme erfordert.

c) Gesichtssinn und Tastsinn erhalten ihre Eindrücke aus ganz verschiedenen Eigenschaften der Körper, durch ganz verschiedene Medien und ganz verschiedene physiologische Processe; trotzdem erhalten wir aus ihnen räumliche Wahrnehmungen, welche eine möglichst grosse Uebereinstimmung zeigen und sich gegenseitig bestätigen. Wären nun die Objecte nicht selbst räumlich, sondern existirten in irgend einer anderen Form des Daseins, so wäre es höchst wunderbar, dass sie auf so verschiedenen Wegen so übereinstimmende räumliche Gestalten in der Seele erzeugen können, dass uns z.B. die gesehene Kugel niemals als gefühlter Würfel oder sonst Etwas erscheint, sondern als gefühlte Kugel. Bei der Annahme des Raumes als realer Form des Daseins verschwindet dies Räthsel.

d) Nur Gesicht und Tastsinn, aber keiner von den übrigen Sinnen, ist im Stande, die Seele zum räumlichen Wahrnehmen zu veranlassen. (Denn wenn wir hören, wo ein Ton herkommt, so giebt uns die Vergleichung der Stärke des Tones in beiden Ohren hierzu den hauptsächlichen Anhalt; vgl. S. 291). Dies hat Kant gar nicht bemerkt, sonst hätte er nicht seine Eintheilung des äusseren (Raumsinnes) und inneren (Zeit-) Sinnes aufstellen können. Für den subjectiven[287] Idealismus ist diese Caprice der Seele schlechterdings unbegreiflich, welche gleichwohl mit dem Scheine der äusseren Nothwendigkeit auftritt, aber eben so unbegreiflich, wenn man dem Sein andere correspondirende Formen unterlegt; nur die physiologische Betrachtung der räumlichen Construction der verschiedenen Sinnesorgane kann hier eine Erklärung an die Hand geben; aber wenn der Leib und die Sinne nicht räumlich existiren, so ist auch hier jede Möglichkeit des Verständnisses abgeschnitten.

Diese vier Gesichtspuncte zusammen lassen es höchst wahrscheinlich werden, dass der gemeine Menschenverstand Recht hat, dass Raum und Zeit ebensowohl objective Formen des Daseins, als subjective Formen des Denkens sind. Diese formelle Identität von Denken und Sein ist fast selbstverständlich für denjenigen, der ihre wesentliche Identität annimmt (vgl. Cap. C. XIV.).

Ad 2. Da wir die diesem Capitel vorangestellte Behauptung Kant's nicht bestreiten, sondern annehmen wollen, so liegt kein Grund vor, hier zu zeigen, weshalb die Kant'sche Begründung keine Begründung sei, und die Frage völlig offen lasse (vgl. »Das Ding an sich« VIII. »Kritik der transcendentalen Aesthetik«); wohl aber haben wir andere Gründe an deren Stelle zu setzen.

Eine kindlich unmittelbare Anschauungsweise betrachtete die Sinneseindrücke als Bilder der Dinge, die diesen völlig entsprächen, wie das Spiegelbild seinem Gegenstande. Als Locke und die moderne Naturwissenschaft die völlige Heterogenität der Empfindung und der Eigenschaft des Objectes zum wissenschaftlichen Gemeingute gemacht hatten, sollte das Retinabild, welches man an Augen fremder Wesen erblickte, die frühere Stelle des Dinges vertreten, und die Empfindung ihrem Inhalte nach jetzt so identisch mit dem Retinabilde als früher mit dem Dinge sein, eine Ansicht, die noch jetzt eine gewöhnliche ist. Man vergass aber dabei, dass es etwas ganz Anderes ist, ein objectives Bild in der Grösse eines Auges auf einem fremden Auge mit seinen eigenen Augen wahrzunehmen, oder selbst die nur nach Winkelgraden bestimmbare Gesichtsempfindung ohne absolute Flächengrösse zu haben; man vergass, dass die Seele nicht als ein zweites Auge hinter der Retina sitzt, und sich dieses Bild beguckt, man bemerkte nicht, dass man denselben Fehler wie bisher mit den Dingen, nur in versteckterer Weise beging; denn was einem fremden Auge auf der Retina als Bild erscheint, ist in diesem Auge selbst nichts als moleculare Schwingungszustände,[288] gerade so gut wie das, was an den Dingen dem Beschauer als Farbe, Helligkeit u.s.w. erscheint, in den Objecten nur moleculare Schwingungszustände sind. Man liess sich also von der Freude, im Auge eine Camera obscura entdeckt zu haben, dupiren, und hielt das frühere Problem für gelöst, indem man es um eine äusserliche Instanz verschob. Die Physiologie des Auges hat seitdem begriffen, dass das Auge nicht eine Camera ist, um der Seele Bilderchen auf dem Grunde der Retina zu zeigen, sondern ein photographischer Apparat, der die molecularen Schwingungszustände der Retina chemisch-dynamisch so verändert, dass Schwingungsarten, welche mit den Lichtschwingungen im Aether kaum noch eine Aehnlichkeit haben, dem Sehnerven zur Fortpflanzung übergeben werden, so dass z.B. diejenigen Modificationen des Lichts, welche als Farbe empfunden werden, im Nerven Combinationen verschieden starker Functionen dreierlei verschiedener Arten von Endorganen in der Netzhaut sind, während die entsprechenden Modificationen des physicalischen Lichtstrahls sich nur durch die Wellenlänge der Schwingungen unterscheiden. Ferner hat das Licht eine Geschwindigkeit von etwa vierzig tausend Meilen in der Secunde, der Process im Sehnerven nur eine von etwa hundert Fuss.

So viel steht fest, dass die qualitative Umwandlung der Lichtschwingungen beim Eingehen in die Retina von der grössten Bedeutung ist, und der Ansicht, welche dem von anderen Augen zufällig zu beobachtenden Bilde auf der Retina eine Bedeutung beimisst, den letzten Todesstoss giebt, wenn nicht die Vorstellung an sich schon zu absurd wäre, dass der Sehnerv wie ein zweites Auge dieses Bild besieht, – und dann? Doch vermuthlich das Centralorgan des Gesichtssinnes (die Vierhügel) als ein drittes Auge das Bild des Sehnerven, und dann das Centralorgan des Denkens (die Grosshirnhemisphären) als viertes Auge das Bild der Vierbügel, und dann etwa gar eine bestimmte Centralzelle als Centralissimum des Bewusstseins als fünftes Auge das Bild des Grosshirns, um nicht gleich die Sache bis zu dem sechsten Auge einer punctuellen an irgend einer Gehirnstelle ihren Sitz habenden Centralmonade zu treiben! Denn soviel ist als physiologisch feststehend zu betrachten, dass frühestens in dem Centraltheil, in den der Sehnerv mündet, in den Vierhügeln, die Empfindung des Sehens zu Stande kommen kann, aber nicht im Laufe des Sehnerven selbst. Beim Eintritt des Nerven in den Centraltheil aber müssen wir eine abermalige Umwandlung der Schwingungsweisen annehmen, schon wegen des veränderten[289] Baues der Nervenmasse, und weil die Bedeutung der Centraltheile für die Wahrnehmung aufhörte, wenn die Schwingungsform unverändert bliebe, weil dann die Seele schon auf die Schwingungen des Sehnerven mit der Empfindung reagiren müsste. In den Vierhügeln können aber wiederum nicht jene ausgedehnten Denkprocesse vor sich gehen, in welchen die Raumanschauung sich stets als integrirender Bestandtheil befindet. Da solche in den Grosshirnhemisphären ihren Sitz haben, so müssen auch die Gesichts-Empfindungen, welche der Raumanschauung zu Grunde liegen, ebenso wie die wiederum an anderer Stelle des Gehirns sich entwickelnden Tastempfindungen, erst zum Grosshirn geleitet werden, um dort mit Hülfe des Denkens sich zur Raumanschauung zu extendiren.

Wenn man nun auch noch das Objectbild auf der Netzhaut mit einem Mosaikbilde vergleichen kann, das dem Dinge selbst in seinen Proportionen ähnelt, so sind doch die isolirten Nervenprimitivfasern schon viel zu sehr verschlungen, als dass ein idealer Durchschnitt des Sehnerven bei seinem Eintritt in die Vierhügel noch eine dem Netzhautbilde entsprechende Anordnung und Lage der Fasern zeigen könnte, und noch viel weniger Boden würde die Annahme haben, dass im Centralorgan selbst eine räumlich so vertheilte Affection der Zellen stattfände, dass zwischen ihr und Retinabild eine ähnliche Proportionalität der extensiven Verhältnisse wie zwischen Retinaaffection und Ding stattfände. Da aber diese afficirten Zellen im Centralorgan selbst dann noch relativ selbstständig wären, und nur durch Leitung mit einander communicirten, so wäre selbst bei solcher unmotivirten Annahme immer noch nicht ersichtlich, wie das als Summationsphänomen aus den Zellenbewusstseinen resultirende Bewusstsein zu einer extensiven Anordnung der Empfindungen kommen sollte, welche den Lagenverhältnissen der afficirten Zellen entspräche. Es giebt keine Brücke zwischen realräumlicher Lage der empfindungserzeugenden materiellen Theile und idealräumlicher Lage der in extensive Anschauung geordneten bewussten Empfindungen, denn der Raum als reale Daseinsform und der Raum als bewusstidea le Anschauungsform sind so incommensurabel wie der reelle und der imaginäre Theil einer complexen Zahl, wenngleich beide in sich denselben formellen Gesetzen unterworfen sind. Dies ist auch der Grund, warum selbst die physiologisch ganz unhaltbaren Theorien von einer einzigen letzten Centralzelle (wie schnell müsste dieselbe ermüden!) oder gar einer punctuellen Centralmonade durchaus unfähig sind, diese Brücke zu schlagen. Sind reale und bewusstideale[290] Räumlichkeit heterogene Gebiete, von denen keins am andern Theil haben kann, so können realräumliche Verhältnisse der empfindungserzeugenden materiellen Theile auf die Empfindung überhaupt nicht von Einfluss sein, so ist die Lage der empfindenden Hirntheile gleichgültig, und nur die theils von der Beschaffenheit, der Centraltheile, theils von der Intensität und Qualität der zugeleiteten Bewegung abhängige Art der Schwingungen von Einfluss für die Beschaffenheit der entstehenden Anschauung.

Dieses Gesetz, das für jeden Philosophen a priori selbstevident sein muss, ist übrigens von physiologischer Seite schon früher formulirt und wohl kaum ernstlich angefochten worden. Lotze drückt dasselbe so aus: identische Schwingungen verschiedener Centralmolecüle bringen ununterscheidbare Empfindungen hervor, so dass mehrere gleichzeitig schwingende Molecüle von identischer Schwingungsform eine Empfindung hervorbringen, welche jeder durch ein Einzelnes dieser Molecüle erregten Empfindung qualitativ gleich ist, quantitativ aber den Stärkegrad der Summe aller einzelnen Empfindungen besitzt. Wenn man mit Einem Nasenloch riecht, so hat man dieselbe Empfindung, nur schwächer, als wenn man mit beiden riecht, und wenn nicht die Tastnerven der Nase den durchziehenden Luftstrom fühlten, würde der Riechnerv allein im normalen Zustande den Geruch des linken und rechten Nasenloches nicht als verschieden wahrnehmen. Dasselbe gilt für den Geschmack, wenn er einen kleineren oder grösseren Theil der Zunge und des Gaumens afficirt; nur die gleichzeitigen Tastgefühle der Berührung, des Zusammenziehens der Haut u.s.w. unterscheiden die Berührungsstelle, der Geschmack selbst wird nur stärker oder schwächer. Ob ein Ton das linke oder rechte Ohr trifft, wird nur durch die gleichzeitig im Ohre theils direct, theils reflectorisch erregten Spannungsgefühle erkannt; es ist auch hier gar nicht der Hörnerv, sondern Tastnerven vorzugsweise in dein reich durchsetzten Trommelfelle, welche das Localisationsgefühl bedingen, wie deutlich daraus hervorgeht, dass man nach Ed. Weber's Versuchen dieses Localgefühl beim Untertauchen unter Wasser nur behält, so lange die Gehörgänge mit Luft gefüllt bleiben, aber verliert, wenn durch Anfüllung der Gehörgänge mit Wasser die Trommelfelle ausser Wirksamkeit gesetzt sind. Beim Sehen hat man von demselben Lichtpuncte zwar verschiedene Eindrücke, wenn sein Bild verschieden gelegene Stellen eines oder beider Augen trifft, aber nicht zu unterscheiden sind die Eindrücke, wenn sie auf correspondirende[291] Stellen beider Augen fallen. Man weiss bei einem geschickt hergerichteten Arrangement des Versuches schlechterdings nicht, ob man ein Licht mit dem rechten, oder mit dem linken, oder mit beiden Augen zugleich sieht, wenn man sich nicht durch anderweitige Hülfsmittel darüber orientiren kann. Die Gesichtseindrücke correspondirender Stellen beider Augen combiniren sich zu einem einfachen verstärkten Eindrucke.

Nach Lotze's Ansicht würden wir geradezu nicht zu unterscheiden im Stande sein, ob ein Schmerz, Gefühl, Berührung u.s.w. unsere rechte oder linke Körperhälfte trifft, wenn nicht durch die bis in's Kleinste gebenden Asymmetrien beider Körperhälften mit der nämlichen Empfindung in der rechten Körperhälfte andere begleitende Empfindungen der Spannung, Dehnung, des Druckes u.s.w. vorhanden wären, als in der linken, so dass wir durch diese qualitative Incongruenz der Empfindungen mit Hülfe der Uebung in Stand gesetzt werden, rechts und links an unserem eigenen Leibe zu unterscheiden. Auch bei Gehör, Geschmack und Geruch sind, wie erwähnt, solche begleitende Umstände vorhanden, welche eine gewisse Unterscheidung congruenter Empfindungen, je nach dem Orte der Einwirkung möglich machen, doch ist es wichtig, dass hier die Nervenstämme, welche die eigentliche Sinnesempfindung, und die, welche die begleitenden Differenzen vermitteln, verschieden sind, woraus sich die Folgerung ergiebt, dass, wenn man durch Zerschneiden der letzteren oder anderweitige geschickte Elimination der begleitenden Differenzen aus dem Versuche die reinen Sinneswahrnehmungen ausscheidet, diese nicht mehr im Stande sind, Unterschiede des Ortes zum Bewusstsein zubringen, also überhaupt unfähig, räumliche Anschauungen zu erzeugen.– Anders ist dies beim Tast- und Gesichtssinne. Jede gleiche Tastempfindung an verschiedenen Hautstellen ist mit ganz verschiedenen begleitenden Unterschieden verbunden, welche in der beim Drucke auf die Haut je nach der Weichheit oder Härte, je nach der Gestalt des Gliedes, der Beschaffenheit der darunter liegenden Theile, der Dichtigkeit der empfindenden Tastwärzchen u.s.w. ganz verschieden ausfallenden Verschiebung, Spannung, Dehnung und Mitbetheiligung neben- und unterliegender empfindender Theile begründet sind, und welche fast alle durch dieselben Nervenstämme dem Gehirne zugeleitet werden. Ebenso erhält eine gleiche Farben- oder Helligkeitsempfindung ganz verschiedene begleitende Unterschiede, je nach dem Puncte der Netzhaut, von dem sie ausgeht, welche begründet sind: 1) in der vom Centrum[292] nach der Peripherie abnehmenden Deutlichkeit der Perception gleicher Eindrücke, 2) in den in den benachbarten Fasern inducirten Strömen, welche wieder, je nach der Lage der letzteren zum Puncte des deutlichsten Sehens, verschieden ausfallen, 3) in dem reflectorischen Bewegungsimpulse der Augapfeldrehung, welcher bei jeder Affection einer Netzhautstelle in dem Sinne eintritt, dass der Punct des deutlichsten Sehens die Stelle des afficirten Netzhautpunctes zu ersetzen strebt.

Diese drei Momente in Verbindung geben der gleichen Empfindung jeder Netzhautfaser ein verschiedenes Gepräge, welchem Lotze, der Erfinder dieser Theorie, den Namen Localzeichen giebt. Auch diese Unterschiede werden theils durch den Sehnerv dem Gehirne zugeleitet, theils im Gehirne selbst durch den Widerstand empfunden, welchen der Wille dem reflectorischen Bestreben der Drehung des Auges entgegensetzen muss, um diese zu verhindern. Es ist jetzt im Gegensatze zu den Geruchs-, Geschmacks- und Gehörsempfindungen verständlich, wie gerade die Gesichts- und Tastempfindungen die Seele zur räumlichen Anschauung anregen können, weil nämlich bei diesen der von jeder einzelnen Nervenprimitivfaser zugeleitete Reiz seine qualitative Bestimmtheit durch ein wohlorganisirtes System begleitender Unterschiede hat, so dass die von gleichen äusseren Reizen in verschiedenen Nervenfasern erregten Schwingungszustände in soweit verschieden ausfallen, dass sie in der Seele nicht in eine einzige verstärkte Empfindung zusammenfallen können, aber doch noch so ähnlich sind, dass das qualitativ gleiche Stück in den durch sie hervorgerufenen Empfindungen von der Seele mit Leichtigkeit erkannt werden kann. – Hiernach können wir auch durch die scheinbaren Ausnahmen das allgemeine Gesetz nur bestätigt finden, dass identische Schwingungen verschiedener Hirntheile zu Einer nur dem Grade nach verstärkten Empfindung zusammenfliessen; ein Gesetz, welches sowohl apriorisch höchst plausibel erscheint, als auch empirisch nicht nur keine Thatsache gegen sich hat, sondern ohne welches die erwähnten Erscheinungen der niederen Sinne geradezu unerklärlich wären. Im Sinne dieses Gesetzes ist das schwingende Molecüle der Seele völlig gleichgültig, nur seine Schwingungsart hat einen Einfluss auf die Seele, und wenn wir gewisse Theile des Leibes (die Nerven), gewisse Theile des Nervensystems (die graue Substanz), gewisse Theile des Gehirnes besonders zu höheren Einwirkungen bestimmter Art befähigt sehen, so können wir dies nur[293] dem Umstande zuschreiben, dass diese Theile sich wegen ihrer molecularen Beschaffenheit gerade ausschliesslich oder vorzugsweise zur Hervorbringung der Art von Schwingungen eignen, welche allein oder vorzugsweise dieser Einwirkungen auf die Seele fähig sind.

Betrachten wir nun dies Gesetz als feststehend und Lotze's Theorie der Localzeichen (abgesehen davon, ob die von ihm hauptsächlich benutzten gerade die richtigen sind) für gesichert, so sind wir immer erst zu dem Resultate gelangt, dass beim Sehen oder Tasten die Seele durch Vermittelung des Gehirns von jeder Nervenprimitivfaser eine besondere Empfindung erhält, welche durch ihr individuelles Gepräge verhindert wird, mit anderen zusammenzufliessen aber doch den anderen so ähnlich ist, dass es der Seele ein Leichtes ist, die in allen enthaltene gleiche Grundlage als solche zu erkennen. Auf keine Weise aber kommen wir von dieser Summe gleichzeitiger qualitativ ähnlicher und doch verschiedener Empfindungen zu einer räumlichen Ausbreitung derselben, wie sie im Sehfelde und im Tastfelde der Haut vorliegt, wir bleiben immer bei qualitativen und intensiv quantitativen oder graduellen Unterschieden der einzelnen Empfindungen stehen und können auf keine Weise die Möglichkeit absehen, wie das extensiv Quantitative oder räumlich Ausgedehnte aus den Schwingungen der Gehirnmolecüle in die Empfindung hineingetragen werden soll, da nicht die Lage des einzelnen Molecüls im Gehirn, sondern nur die Dauer, Gestalt u.s.w. seiner Schwingungen auf die Empfindung von Einfluss ist, und diese Momente nichts extensiv Quantitatives enthalten, was mit dem extensiv Quantitativen des Retinabildes noch irgend in Beziehung stände. Dagegen ist vermöge des Systemes der Localzeichen die extensive Nähe und Entfernung der Puncte des Retinabildes von einander, resp. ihre Berührung, in grössere oder kleinere qualitative Unterschiede der entsprechenden Empfindungen, resp. Minimaldifferenz derselben, umgewandelt, und ist somit der Seele ein Material geliefert, welches, wenn sie einmal selbstthätig dieses System qualitativer Unterschiede in ein System räumlicher Lagenverhältnisse zurückverwandelt, nunmehr die Seele mit Nothwendigkeit zwingt, jeder Empfindung im räumlichen Bilde einen solchen Platz anzuweisen, welcher ihrer qualitativen Bestimmtheit entspricht, so dass der Seele in Betreff der räumlichen Bestimmungen einer durch eine Summe qualitativ verschiedener Empfindungselemente gegebenen Gestellt keine Willkür bleibt, sondern sie dieselbe nothwendig in den[294] Verhältnissen reconstruiren muss, wie sich das Retinabild einem fremden Auge darstellt, wie es der Erfahrung entspricht.

Wundt drückt die hier dargelegten Gedanken folgendermassen aus: »Die durch die Colligation«(Aggregation, Zusammenfassung) »gelieferte Verbindung ist eine rein äusserliche, bei der die verknüpften Empfindungen als Einzelempfindungen erhalten bleiben. Aber indem die Synthese diese durch den Vorbereitungsprocess der Colligation innig verknüpften Empfindungen zur Verschmelzung bringt, erzeugt sie ein Drittes, was In den Einzelempfindungen als solchen noch nicht enthalten war. Die Synthese ist daher das eigentlich Constructive bei der Wahrnehmung; sie bringt erst aus den beziehungslos dastehenden Empfindungen etwas Neues hervor, das zwar die Empfindungen« (aber nun nicht mehr wie die blosse Colligation als verbundene Einzelempfindungen) »in sich enthält, aber doch etwas ganz von den Empfindungen Verschiedenes ist« (Beitr. z. Theorie d. Sinneswahrn. S. 443). Diese ganz allgemein gültigen Sätze präcisirt er auf der folgenden Seite genauer in Bezug auf die in der Entstehung der räumlichen Gesichtswahrnehmung Platz greifende Synthese: »So ist die Synthese in der Wahrnehmung eine schöpferische Thätigkeit, indem sie den Raum construirt; aber diese schöpferische Thätigkeit ist keineswegs eine freie, sondern die Empfindungseindrücke und die bei der Synthese mitwirkenden äussern Anstösse zwingen mit Nothwendigkeit, dass der Raum in voller Treue reconstruirt werde

Diejenige Richtung der empiristischen Physiologie, welche eine zu den gegebenen Empfindungseindrücken neuhinzutretende Construction (oder in Bezug auf das Retinabild: Reconstruction) des Raumes durch eine schöpferische synthetische Function der Seele als entbehrlich darzustellen bemüht ist, braucht zunächst den Kunstgriff, die Räumlichkeit der Gesichtswahrnehmung mit Hülfe des Tastsinnes, und umgekehrt, entstehen zu lassen. Nun ist es zwar richtig, dass beide Sinne in der feineren Ausbildung ihrer räumlichen Wahrnehmungen sich wesentlich unterstützen; indessen wäre es unmöglich, dass beide zusammen den Raum zu Stande bringen sollten, wenn er nicht schon in jeder einzelnen drinsteckte. So zeigt denn auch die Erfahrung, dass Blindgeborene die räumlichen Wahrnehmungen des Tastsinns ohne Hülfe des Gesichts gewinnen und sogar feiner als Sehende ausbilden können, und dass andrerseits operirte Blindgeborene vor jeder Orientirung zwischen den neuen Gesichtswahrnehmungen[295] im Verhältniss zu den ihnen bekannten Tastwahrnehmungen doch die ersteren sofort räumlich extendirt (wenigstens nach zwei Dimensionen) im Bewusstsein haben. – In zweiter Reihe suchen die Gegner der schöpferischen Raumproduction dasselbe Sophisma innerhalb jedes der beiden Sinne in den Beziehungen zwischen dem ruhenden Sehfeld (resp. Tastfeld) einerseits und den Bewegungsgefühlen des Augapfels (resp. der tastenden Glieder) andrerseits zur Geltung zu bringen. Nun ist aber auch hier sofort klar, dass, wenn sowohl das ruhende Sehfeld oder Tastfeld als auch das Muskelbewegungsgefühl jedes für sich die Räumlichkeit noch nicht besitzt, auch keine noch so künstliche Combination dieser beiderseits unräumlichen Empfindungen ohne das Hinzutreten einer schöpferischen constructiven Synthese die räumliche Extension aus sich hervorspringen lassen kann. Selbst hier haben diese »Empiriker« die Empirie gegen sich, denn wenn auch in Bezug auf den Tastsinn die experimentelle Trennung von Tastempfindung und Bewegungsgefühl bisher nicht zu erreichen war, so steht doch die Thatsache fest, dass bei operirten Blindgeborenen die flächenhafte Extension der Gesichtseindrücke vom ersten Moment des Sehens an gegeben ist, und keineswegs erst allmählich durch zahlreiche Versuchsreihen von Combinationen der Empfindung des Sehnervs mit den Bewegungsgefühlen des Augapfels erworben wird. Aber gesetzt selbst den Fall, jene hätten darin Recht, dass erst die Verbindung von ruhender Empfindung und Bewegungsgefühl der Seele hinreichendes Material (an Localzeichen) darböte, um die Raumconstruction vorzunehmen, so wäre auch dann noch immer eine schöpferische Synthese dazu erforderlich, weil eben Empfindungen von bloss qualitativen und extensiven Unterschieden niemals ohne diese zur extensiven Ausbreitung in eine einheitliche Wahrnehmung gelangen können. Da die von den schwingenden Hirnmolecülen angeregten Empfindungen aber nur qualitativ und intensiv unterschieden sein können (vgl. S. 293) und keinenfalls irgend welche Beziehungen zwischen der Räumlichkeit ihrer Lage und Bewegung mit der Räumlichkeit des Wahrnehmungsbildes bestehen können (vgl. 289-290), so muss die schöpferische synthetische Function eine rein-geistige Function des Unbewussten sein.

Ganz im Gegensatz zu Schopenhauer kann man daher sagen der einzige Grund für die Annahme der Apriorität der Raumanschauung ist die Unmöglichkeit, dieselbe durch blosse Hirnfunction entstanden zu denken. Hätte Schopenhauer Recht, dass die Räumlichkeit[296] als Anschauungsform bloss eine in der Organisation des Gehirns gelegene Prädisposition wäre, welche auf den Reiz der Gesichts- oder Tastempfindungen hin in der ihr eigenthümlichen Weise functionirt, so könnte diese Hirnprädisposition nach der biologischen Descendenztheorie durch eine von Generation zu Generation sich befestigende und vervollkommnende Vererbung erklärt werden, bei welcher nur das erste Entstehen der Raumanschauung in den niedrigsten Thieren und Pflanzenthieren (welche überhaupt ein noch weit grösseres Wunder als die im menschlichen Bewusstsein ist) und die allmähliche Steigerung dieses ersten Keims dem Unbewussten als directe Aufgabe vorbehalten bliebe. Eine durch Vererbung gesteigerte Prädisposition für die vielseitigere und verfeinertere Durchbildung der raumerzeugenden Empfindung nehme auch ich im Gehirn an; aber diese betrifft eben nur das Material, welches die unbewusste Seele zur Raumsetzung anregt, und das Wie der Raumanschauung im Einzelnen bestimmt, – keinesfalls kann dieselbe der Seele den spontanen Act der räumlichen Extension des qualitativ geordneten Materials, d.h. die selbstthätige Reconstruction der Räumlichkeit ersparen, sondern nur erleichtern und deren Inhalt bereichern. Wir haben wohl begreifen können, wie es kommt, dass nur Gesichts- und Tastsinn, aber nicht die übrigen Sinne Raumanschauung in der Seele hervorrufen, wir haben auch den Causalzusammenhang begriffen, warum die Seele gerade diejenigen räumlichen Verhältnisse zu reconstruiren gezwungen ist, welche den objectiven Raumverhältnissen auf der Retina, resp. Tastnervenhaut entsprechen, aber warum die Seele überhaupt die Summe qualitativ verschiedener Empfindungen in ein extensiv räumliches Bild verwandelt, dazu können wir in dem physiologischen Processe nicht nur keinen Grund sehen, wir müssen sogar bestreiten, dass einer da ist, und können nur einen teleologischen Grund erkennen, weil eben erst durch diesen wunderbaren Process die Seele sich die Grundlage zur Erkenntniss einer Aussenwelt schafft, während sie ohne Raumanschauung nie aus sich heraus könnte.

Ad 3. Wenn wir diesen Zweck als einzigen Grund erkennen so müssen wir den fraglichen Process selbst als eine Instincthandlung, als eine Zweckthätigkeit ohne Zweckbewusstsein ansprechen. Wir sind hiermit wiederum auf dem Gebiete des Unbewussten angelangt und müssen das Raumsetzen in der Anschauung des Individualbewusstseins (ganz ebenso wie die Raumsetzung bei Erschaffung der realen Welt), als eine Thätigkeit des Unbewussten anerkennen,[297] da dieser Process so sehr der Möglichkeit jedes Bewusstseins vorhergeht, dass er nimmermehr als etwas Bewusstes betrachtet werden kann. Dies hat aber Kant nirgends ausgesprochen, und bei der sonstigen Klarheit und Furchtlosigkeit dieses grossen Denkers muss daraus geschlossen werden, dass er sich die völlige Unbewusstheit dieses Processes selbst niemals zum Bewusstsein gebracht habe. Aus diesem Mangel seiner Darstellung entstand aber die Opposition des gesunden natürlichen Verstandes gegen seine Lehre, der den Raum als eine von seinem Bewusstsein unabhängige Thatsache demselben gegeben wusste, und zwar in den räumlichen Beziehungen, aus denen erst eine lange fortgesetzte Abstraction den Begriff des Raumes ausschied, welchen ganz zuletzt die Negation der Grenze als ein Unendliches bestimmte, während nach Kant der einige unendliche Raum das ursprüngliche Product des Denkens sein soll, vermöge dessen erst die räumlichen Beziehungen möglich würden. In allem Diesem hatte der natürliche Verstand Recht und Kant Unrecht, aber in dem Einen, und das war die Hauptsache, hatte Kant Recht, dass die Form des Raumes nicht durch physiologische Processe in die Seele von aussen hineinspaziert, sondern durch dieselbe selbst thätig erzeugt wird. Während aber Kant die Räumlichkeit noch als eine gleichsam zufällige durch die Organisation unsrer Natur in uns gelegte Form der Sinnlichkeit ansieht, welche auch ganz anders sein könnte, und zu der jedes jenseits der Subjectivität gelegene Vorbild fehlt, ist uns nunmehr dieses Vorbild in der Räumlichkeit als realer Daseinsform gegeben, so dass das Unbewusste formell ein und die selbe Function vollzieht, indem es dort die Vielheit der zu schaffenden Individuen in der unbewussten Vorstellung in räumlich unterschiedenen Verhältnissen concipirt, um an ihnen dem Willen einen zu räumlichem Dasein zu realisirenden Inhalt zu geben, oder indem es hier die in qualitativ geordneten Reihen (mathematischen Dimensionen) gegebenen Empfindungen zur räumlichen Anschauung extendirt. Die Zufälligkeit und Laune wäre nun bloss noch in einer etwaigen Abweichung von der einmal eingeschlagenen Bahn zu suchen, nicht in der beiderseits gleichmässigen Durchführung der für diese Welt einmal (gleichviel ob aus logischer Nothwendigkeit oder aus Wahl) adoptirten Individuationsform der Räumlichkeit.

Ad 4. Die Zeit hat mit dem Raume als Form des Denkens und Seins so viel Analoges, dass man von jeher beide zusammen behandelt und Ein Denker über beide stets gleichmässige Ansichten gehabt hat. Dies hat auch Kant verleitet, bei der transcendentalen[298] Aesthetik beide in einen Topf zu werfen. Dennoch sind die jedem Menschen geläufigen Unterschiede zwischen Raum und Zeit bedeutend genug, um auch hierin einen Unterschied herbeizuführen. Wäre die Zeit nicht aus dem physiologischen Processe unmittelbar in die Wahrnehmung übertragbar, so würde sie ohne Zweifel von der Seele ebenso selbstständig, wie der Raum erzeugt werden, dies hat sie aber beim Wahrnehmen nicht nöthig. Denn wenn wir angenommen haben, dass auf Gehirnschwingungen von bestimmter Form die Seele mit einer bestimmten Empfindung reagirt, so liegt hierin schon ausgesprochen, dass, wenn der Reiz sich wiederholt, auch die Reaction sich wiederholt, gleichviel ob die Reize sich in stetiger, ununterbrochener Reihe, oder intermittirend folgen; hieraus folgt weiter, dass die Empfindung so lange dauern muss, als diese Formen der Schwingungen dauern, und erst mit Aenderung der Schwingungsweise eine andere Empfindung folgt, die abermals nach einer bestimmten Dauer durch eine andere abgelöst wird. Damit ist aber die Zeitfolge ungleicher oder verschiedener Empfindungen unmittelbar gegeben, ohne dass man, wie beim Raume, zu einem selbstthätigen instinctiven Schaffen der Seele seine Zuflucht zu nehmen braucht, gleichviel, ob man die Sache materialistisch oder spiritualistisch auffasst, denn beidesfalls ist die objective Zeitfolge von Schwingungszuständen in eine subjective Zeitfolge von Empfindungen übertragen.

Man könnte hiergegen die Behauptung, dass die Zeit nicht unmittelbar aus den Hirnschwingungen in die Wahrnehmung hineingetragen werde, dadurch aufrecht erhalten zu dürfen glauben, dass man jede einzelne Empfindung als eine momentane, also zeitlose Seelenreaction betrachtet; dann würde allerdings aus einer Reihe solcher momentaner zeitloser Seelenacte unmittelbar keine zeitliche Wahrnehmung entstehen können, da die Distancen zwischen diesen Momenten absolut leer wären und folglich auch nicht beurtheilt werden könnten. Bei näherer Betrachtung zeigt sich sogleich die Unmöglichkeit. Denn zwei Fälle sind nur möglich, wenn die Empfindung etwas Momentanes sein soll: entweder sie entspringt dem momentanen Zustande des Gehirnes, oder sie tritt erst am Abschlusse einer gewissen Zeit der Hirnbewegung ein. Ersteres ist an sich unmöglich, denn der Moment enthält keine Bewegung also Nichts, was auf die Seele wirken kann; Letzteres aber ist ebenfalls leicht ad absurdum zu führen, weil nicht abzusehen ist, wo der Grund liegen sollte, dass gerade nach einer bestimmten Zeitdauer die Seele mit Empfindung reagirt, und nicht vorher und nicht nachher,[299] wo doch die Bewegung ruhig in derselben Weise fortgeht. Wollte man eine vollständige Oscillations-Dauer als diese Zeit willkürlich annehmen, so ist nicht einzusehen, wo die Oscillation anfängt und aufhört, da der Anfangspunct etwas von uns willkürlich Gewähltes ist; oder es ist nicht einzusehen, warum nicht eine halbe Oscillation Dasselbe leisten sollte, oder eine Viertel-, oder ein noch kleineres Stück, da ja in dem kleinsten Stücke der Schwingung das Gesetz der ganzen Schwingung vollständig enthalten ist. Dies führt uns auf den rechten Weg zurück. Da das denkbar kleinste Stück schon das Gesetz der ganzen Schwingung enthält, muss es auch zu dieser seinen Beitrag liefern, und so kommen wir wieder zur Stetigkeit der Empfindung. Dass diese, so zu sagen, Differenziale der Empfindungen nicht bewusst werden, dass vielmehr ein nicht unbeträchtlicher Bruchtheil einer Secunde erforderlich ist, ehe eine Empfindung einzeln für sich als bestimmtes Integral dieser Differentialwirkungen vom Bewusstsein percipirt werden kann, möchte wohl darin liegen, erstens, dass eine die Aenderung der Empfindung herbeiführende Aenderung der Schwingungsform nicht nach dem Bruchtheile einer Schwingung, auch noch nicht nach einer einzigen ganzen Schwingung, sondern nach mehreren Schwingungen durch allmählichen Uebergang einer Schwingungsform in die andere physikalisch zu begreifen ist, und zweitens, dass, wie bei einer durch einen klingenden Ton in Mitbewegung versetzten Saite, jede einzelne Schwingung allein zu wenig ausrichtet, und dass erst die sich nach und nach addirenden Wirkungen vieler gleichen Schwingungen einen merklichen Einfluss gewinnen können, welcher die Reizschwelle übersteigt (s. Einleitendes I. c. S. 29 ff.). Diese zeitliche Addition in Verbindung mit der räumlichen Addition der Wirkungen vieler auf dieselbe Art gleichzeitig schwingender Molecüle ist erst im Stande, uns begreiflich zu machen, wie so minutiöse Bewegungen, wie die im Gehirn sind, in der Seele so mächtige Eindrücke wie z.B. einen Kanonenschuss oder Donnerschlag, hervorrufen. –

Wir haben nunmehr die vier oben bezeichneten Puncte durchgesprochen und hoffe ich, hiermit zu einer Verständigung zwischen Philosophie und Naturwissenschaft, zwischen welchen sich seit Kant eine weite Kluft aufgethan, nicht unwesentlich beigetragen zu haben. Unser Resultat ist dies: Raum und Zeit sind sowohl Formen des Seins, als des (bewussten) Denkens. Die Zeit wird aus dem Sein aus den Hirn schwingungen unmittelbar in die Empfindung übertragen, weil sie in der Form der einzelnen Hirnmolecularschwingungen[300] auf dieselbe Weise wie im äusseren Reize enthalten ist; der Kaum muss als Form der Wahrnehmung erst durch einen Act des Unbewussten geschaffen werden, weil weder die Raumverhältnisse der einzelnen Hirnmolecularschwingung, noch die räumlichen Lagenverhältnisse der verschiedenen schwingenden Hirntheile irgend welche Aehnlichkeit oder directe Beziehung zu der räumlichen Gestalt und den räumlichen Lagenverhältnissen weder der realen Dinge, noch der Vorstellungsobjecte haben; wohl aber sind die räumlichen Bestimmungen der Wahrnehmungen durch das System der Localzeichen im Gesichts- und Tastsinn geregelt. Sowohl räumliche, als zeitliche Bestimmungen treten mithin dem Bewusstsein als etwas Fertiges, Gegebenes entgegen, werden also auch, da das Bewusstsein von den erzeugenden Processen derselben keine Ahnung hat, mit Recht als empirische Facta aufgenommen. Aus diesen gegebenen concreten Raum- und Zeitbestimmungen werden später allgemeinere abstrahirt, und als letzte Abstraction die Begriffe Raum und Zeit gewonnen, welchen als subjectiven Vorstellungen mit Recht die Unendlichkeit als negatives Prädicat zugesprochen wird, weil im Subjecte keine Bedingungen liegen, welche der beliebigen Ausdehnung dieser Vorstellungen eine Grenze setzten.

Haben wir uns auf diese Weise den Ursprung der räumlichen und zeitlichen Bestimmungen als Fundament aller Wahrnehmungen gesichert, so müssen wir auf die Frage nach dem Zusammenhange von Gehirnschwingung und Empfindung zurückkommen, auf die Frage, warum die Seele auf diese Form der Schwingung gerade mit dieser Empfindung reagirt. Dass hierin eine völlige Constanz herrscht, dürfen wir bei der allgemeinen Gesetzmässigkeit der Natur nicht bezweifeln. Wir sehen bei demselben Individuum auf dieselben äusseren Reize stets dieselben Empfindungen erfolgen, wenn nicht eine nachweisbare Veränderung der körperlichen Disposition stattfindet, welche sich natürlich in modificirten Gehirnschwingungen kund geben muss. Dass auch bei verschiedenen Individuen, soweit körperliche Uebereinstimmung stattfindet, dieselben Reize gleiche Empfindungen hervorrufen, können wir zwar niemals direct constatiren; da aber alle nachweisbaren Abweichungen sicher auf abweichendem Bau der Sinnesorgane und Nerven beruhen, so haben wir keinen Grund, in diesem Puncte von der allgemeinen Gesetzmässigkeit der Natur eine Ausnahme zu supponiren, und nehmen demzufolge an, dass gleiche Gehirnschwingungen bei allen Individuen gleiche Empfindungen hervorrufen. Da diese gesetzmässige Causalverbindung[301] zwischen dieser Schwingungsform und dieser Empfindung an sich nicht wunderbarer ist, wie jede andere uns unverständliche gesetzmässige Causalverbindung im Reiche der Materie unter sich, z.B. von Electricität und Wärme, liegt wohl auf der Hand. Andererseits aber werden wir unbedenklich zu der Ansicht hinneigen, dass hier wie dort causale Zwischenglieder vorhanden seien, welche die bis jetzt vorhandene Complication dieser Vorgänge auf einfache Gesetze zurückführen, deren mannigfaltiges Ineinanderwirken die Vielheit der beobachteten Erscheinungen zu Stande bringt. Wenn wir uns mithin nicht entschliessen können, bei dem gewonnenen Resultate als einem letzten stehen zu bleiben, sondern in diesen Processen verschiedene, sich an einander schliessende Glieder vermuthen müssen, so ist doch so viel klar, dass dieselben, insoweit sie auf psychisches Gebiet fallen, ausschliesslich dem Bereiche des Unbewussten angehören müssen. Es ist also ein unbewusster Process, dass uns die Säure sauer, der Zuckersüss, dieses Licht roth, jenes blau, diese Luftschwingungen als der Ton A, jene als c erscheinen. Dies ist, was sich über die Entstehung der Qualität der Empfindung nach dem jetzigen Stande unserer Kenntnisse sagen liesse.

Mit allen diesen qualitativen, intensiv und extensiv quantitativen Bestimmungen der Empfindung kommen wir aber nie über die Sphäre des Subjectes hin aus. Denn der Gesichtssinn stellt räumlich ausgedehnte Bilder in Flächengestalt, aber ohne irgend eine Bestimmung über die dritte Dimension dar, so dass der Flächenraum bis jetzt rein innerhalb der Seele liegt, rein subjectiv ist, so dass die Seele das Auge als Organ des Sehens gar nicht kennt, also das Gesichtsbild weder vor dem Auge, noch in dein Auge weiss, sondern bloss in sich selber hat, gerade wie eine matte Erinnerungsvorstellung nur in dem subjectiven Raum der Seele und ohne Beziehung zum äusseren Raume gedacht werden kann. Aehnlich ist es mit den Wahrnehmungen des Tastsinnes. Auch hier ist nur Flächenausdehnung, die der Körperoberfläche entspricht, nur viel unbestimmter, als beim Gesicht. Erst durch die Gleichzeitigkeit derselben Wahrnehmung an mehreren Stellen, verbunden mit gewissen Muskelbewegungsgefühlen, treten hier Erfahrungen ein, mit deren Hülfe die Seele durch anderweitige Processe die Fixirung der Tastwahrnehmungen auf die Oberhaut bewerkstelligen kann, so dass diese nun gleichsam in Hinsicht der dritten Dimension fixirt sind. Manche Physiologen behaupten zwar, dass dies nach dem Gesetz der excentrischen Erscheinung sofort der Fall sei, und will ich hierum nicht[302] streiten; soviel steht fest, dass, wenn dieser Punct erreicht ist, wo die inneren Empfindungen in Hinsicht der dritten Dimension so fixirt sind, dass sie objectiv mit der Oberhaut des Körpers und meinetwegen beim Auge mit der Retina zusammenfallen, dass dann immer noch nicht abzusehen ist, wie der Schritt aus dem Subjectiven heraus vermöge der Wahrnehmung oder des bewussten Denkens gemacht werden solle. Denn die Wahrnehmung weist besten Falles nie über die Grenze des eigenen Körpers hinaus, meiner Ansicht nach bleibt sie sogar rein innerhalb der Seele, ohne irgend auf den eigenen Körper hinzudeuten. Auch kein an den bisherigen Erfahrungen sich entwickelnder bewusster Denkprocess leitet auf die Vermuthung eines äusseren Objectes, es muss hier wiederum der Instinct oder das Unbewusste helfend eingreifen, um den Zweck der Wahrnehmung, die Erkenntniss der Aussenwelt zu erfüllen Darum projicirt das Thier und das Kind instinctiv seine Sinneswahrnehmungen als Objecte nach Aussen, und darum glaubt noch heute jeder unbefangene Mensch die Dinge selbst wahrzunehmen, weil ihm seine Wahrnehmungen mit der Bestimmung, draussen zu sein, instinctiv zu Objecten werden. So nur ist es möglich, dass die Welt der Objecte für ein Wesen fertig dasteht, ohne dass ihm die Ahnung des Subjectes aufgegangen ist, während im bewussten Denken Subject und Object nothwendig gleichzeitig aus dem Vorstellungsprocesse herausspringen müssen. Deshalb ist es falsch, den Causalitätsbegriff als Vermittler für eine bewusste Ausscheidung des Objectes zu setzen, denn die Objecte sind lange vorher da, ehe der Causalitätsbegriff aufgegangen ist; und wäre dies auch nicht der Fall, so müsste auch dann das Subject gleichzeitig mit dem Objecte gewonnen werden. Allerdings ist für den philosophischen Standpunct die Causalität das einzige Mittel, um über den blossen Vorstellungsprocess hinaus zum Subjecte und Objecte zu gelangen; allerdings ist für das Bewusstsein des gebildeten Verstandes das Object in der Wahrnehmung nur als deren äussere Ursache enthalten; allerdings mag der unbewusste Process, welcher dem ersten Bewusstwerden des Objectes zu Grunde liegt, diesem philosophischen bewussten Processe analog sein, – so viel ist gewiss dass der Process, als dessen Resultat das äussere Object dem Bewusstsein fertig entgegentritt, ein durchaus unbewusster ist, und mithin, wenn die Causalität in ihm eine Rolle spielt, was wir übrigens nie direct constatiren können, darum doch keinesfalls gesagt werden kann, wie Schopenhauer thut, dass der apriorisch gegebene[303] Causalitätsbegriff das äussere Object schaffe, weil man in dieser Ausdrucksweise den Begriff als einen bewussten auffassen müsste, was er entschieden nicht sein kann, weil er viel, viel später gebildet wird, und zwar zuerst aus Beziehungen der bereits fertigen Objecte untereinander.

Sind wir nun auf diese Weise dazu gelangt, in den Wahrnehmungen äussere Objecte zu sehen, so handelt es sich um die Ausbildung der Wahrnehmungen, z.B. beim Sehen um das Sehen von Entfernungen vom Auge ab gerechnet, um das einfache Sehen mit zwei Augen, um das Sehen der dritten Dimension an Körpern u.s.w., und dem entsprechend bei anderen Sinnen, wie es in so vielen Lehrbüchern der Physiologie, Psychologie u.s.w. weitläufig ausgeführt ist. Die Processe, welche dieses nähere Verständniss herbeiführen, gehören zwar theilweise dem Bewusstsein an, zum grösseren Theile aber fallen sie in's Bereich des Unbewussten (vgl. Wundt »Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung«, so wie die oben S. 33 daraus citirten Stellen). »Wie schon die Bildung der Wahrnehmung des einzelnen Auges auf einer Reihe psychischer Processe unbewusster Art beruhte, so ist auch die Bildung der binocularen Wahrnehmung nichts anderes als ein unbewusstes Schlussverfahren.... So ist es nicht bloss die eigenthümliche Tiefenwahrnehmung, zu der mit Nothwendigkeit der binoculare Sehact hinführt, sondern es ist ausserdem die Vorstellung der Spiegelung und des Glanzes, die in ganz entsprechender gesetzmässiger Weise aus demselben hervorgeht« (Wundt 373-374). »Sie« (die unbewussten Seelenprocesse) »sind es nicht bloss, die aus den beziehungslosen Empfindungen Wahrnehmungen heranbilden, sondern die auch die unmittelbareren und einfacheren Wahrnehmungen selber wieder zu zusammengesetzteren verknüpfen, und so Ordnung und System in das Besitzthum unsrer Seele hineinbringen, noch ehe mit dem Bewusstsein in dieses Besitzthum jenes Licht gebracht ist, das es uns selber erst kennen lehrt« (ebd. 375).

Man kann sich leichter über dieses Verhältniss täuschen, wenn man allein auf die Langsamkeit reflectirt, mit welcher das menschliche Kind zur vollen Beherrschung der sinnlichen Wahrnehmung gelangt. Wenn aber die genauere Betrachtung schon hier ohne Mühe erkennen lässt, wie gering die Ausbildung des bewussten Denkens bei Kindern zu der Zeit ist, wo sie dieses Verständniss der Wahrnehmung schon in vollem Maasse besitzen, so leuchtet die Unbewusstheit aller hierzu nöthigen Processe bei den Thieren auf den ersten[304] Blick ein. Die Sicherheit, mit welcher diese sich schon bald nach ihrer Geburt bewegen, die Angemessenheit, mit der sie sich der Aussenwelt gegenüber benehmen, wäre unmöglich, wenn sie nicht instinctiv dieses Verständniss der Sinneswahrnehmungen besässen. Wenn man, wie man wohl füglich thun muss, unter sinnlicher Wahrnehmung im weiteren Sinne dieses volle Verständniss der Sinneseindrücke mit begreift, so haben wir gesehen, dass das Zustandekommen der sinnlichen Wahrnehmung, welches die Grundlage aller bewussten Geistesthätigkeit bildet, von einer ganzen Reihe unbewusster Processe abhängig ist, ohne welche Hülfen des Instinctes Mensch wie Thier hülflos auf der Erde verkümmern müssten, weil ihnen jedes Mittel fehlen würde, die Aussenwelt zu erkennen und zu benutzen.[305]

A66

S. 282 Z. 17. »Kritische Grundlegung des transcendentalen Realismus« 3. Aufl. S. 107-138; »Das Grundproblem der Erkenntnisstheorie« S. 103-110; »Lotze's Philosophie« Abschn. II Cap. 5 u. 6: »Die Räumlichkeit« und »Die Zeitlichkeit«. In den beiden letzteren wird die Frage ausführlich behandelt, oh in der objectiv-realen Welt anders beschaffene, aber analoge und parallele Formen des Daseins und der Veränderung an Stelle der subjectiv-idealen Anschauungsformen der Räumlichkeit und Zeitlichkeit anzunehmen seien.

A67

S. 286. Z. 14. Allerdings bequemt sich Schopenhauer zu diesen realistischen Concessionen erst in seiner späteren Zeit; in der früheren Periode seines Schaffens, wo er einem consequenteren Idealismus huldigt, leugnet er auf das Entschiedenste jeden causalen Einfluss der Dinge an sich auf unser Vorstellen (W. a. W. u. V. 3. Aufl. I. 516, 581), und gelangt dadurch folgerichtig zu einer Auffassung der subjectiven Erscheinungswelt des wachen Lebens, die sich von derjenigen des Traumes durch kein wesentliches Merkmal mehr unterscheidet, sondern nur noch durch das zufällige, dass zwischen den Tagesabschnitten des wachen Lebens eine Continuität verknüpfender Erinnerung besteht, die zwischen den nächtlichen Abschnitten des Traumlebens gewöhnlich fehlt (ebd. I 21, und Volkelt's »Traum-Phantasie« S. 194-203). In der That, wenn die transcendente Causalität der Dinge an sich auf unser Vorstellen geleugnet wird, hört jeder angehbare Unterschied zwischen den Objecten des Traumes und denen des wachen Wahrnehmens auf; denn nur darin besteht der Unterschied beider Arten der subjectiven Erscheinung, dass die instinctive Nöthigung zur transcendentalen Beziehung des Bewusstseinsinhalts auf ein unabhängig vom Bewusstsein Seiendes im Traume eine trügerische Illusion, im Wachen aber eine instinctiv ergriffene Wahrheit ist, welche an der transcendenten Causalität des an sich Seienden auf die Wahrnehmung ihr reales Correlat hat, insofern die Qualität der Wahrnehmungsobjecte durch die Beschaffenheit des an sich Seienden bedingt ist (vgl. »Das Grundproblem der Erkenntnisstheorie« S. 58-69).

A68

S. 287 Z. 3. Die moderne Naturwissenschaft bekennt sich mit voller Entschiedenheit zu einer Weltanschauung, in welcher die Formen des Daseins und der Bewegung, Raum und Zeit, transcendente Gültigkeit haben. Sie nimmt (ganz wie Kant und Schopenhauer in seiner späteren Zeit) an, dass unsre Sinneswahrnehmung zwar im Allgemeinen subjectiv bedingt sei, im besonderen concreten Falle aber deren Eintreten und Beschaffenheit durch die causale Einwirkung von Dingen bestimmt werde, deren Existenz als von unserem Vorstellen derselben unabhängig vorausgesetzt wird, d.h. von Dingen an sich im Kant'schen Sinne. Die Naturwissenschaft weiss, dass alle unsre Sinnesqualitäten (Licht, Farbe, Ton, Wärme, Duft, Süssigkeit u.s.w.) erst durch das Zusammenwirken dieser auf uns einwirkenden Dinge und unsrer Subjectivität zu Stande kommen, dass dieselben also der Welt der an sich seienden Dinge nicht zukommen können; gleichwohl behauptet sie, dass die Art und Weise unsrer concreten Sinnesempfindung abhängig sei von der Art und Weise der Anordnung der constituirenden Elemente der Dinge an sich und den Formen ihrer Bewegung. Diese Hypothese, die der Naturwissenschaft gar nicht als Hypothese, sondern als Gewissheit gilt, involvirt aber die Annahme, dass Raum und Zeit die Daseinsformen dieser bewusstseins-transcendenten Welt der Dinge an sich seien; denn eine bestimmte Anordnung oder Gruppirung der Atome setzt die Daseinsform des Raums: causale Einwirkung auf das Sinnesorgan in einem bestimmten Zeitpunkt des subjectiven Vorstellungsablaufs die Form der Zeit als transcendente reale Form des Wirkens der Dinge an sich voraus, und die Formen der (mechanischen und molecularen) Bewegung, aus der die Gruppirung der Atome in jedem Zeitpunkt entspringt, und von welchen die Art und Weise der Einwirkung der Atomcomplexe auf unsre Sinnesorgane abhängt, können offenbar nur dann als bewusstseins-transcendente reale Processe gedacht werden, wenn die Formen, aus denen sie sich zusammensetzen, d.h. Raum und Zeit transcendente Gültigkeit haben. So ist in der That die naturwissenschaftliche Welt der sich bewegenden Atome einerseits eine Welt der Dinge an sich im Kant'chen Sinne, und andererseits eine Welt in den Formen des Raumes und der Zeit. Sie ist nicht eine subjective Erscheinungswelt, denn noch niemals sind einem Naturforscher Atome erschienen; sie ist intelligibel im Kant'schen Sinne, insofern sie jenseits der Möglichkeit aller Erfahrung liegt, und ist eine an und für sich bestehende Welt, deren Dasein und innerer Bewegungsprocess als durchaus unabhängig von jeder Vorstellung eines Bewusstseins angenommen wird. Sie ist also in jeder Hinsicht nur als eine Welt von Dingen an sich zu bezeichnen, und sie kann ja auch nur als eine solche supponirt werden, wenn der Zweck ihrer Supposition in der Aufgabe liegt, die transcendentale Objectivität unsrer Erscheinungsobjecte und die transcendente Bedingtheit unsrer Wahrnehmung zu erklären. Trotzdem aber ist sie eine raumzeitliche Welt, und kann nur eine solche sein, wenn überhaupt durch ihre Annahme noch irgend etwas erklärt werden soll. Mag immerhin das Atom der Stofflichkeit entkleidet und der Ausdehnung beraubt, also zur immateriellen Monade vergeistigt wer den, so behält es doch immer seinen punctuellen Ort im Verhältniss zu den andern Atomen, seine Entfernung von ihnen, seine Richtung und Geschwindigkeit bei der Annäherung und Entfernung von ihnen, also lauter räumliche und zeitliche Bestimmungen; wollte die Naturwissenschaft den Versuch machen, die Atome auch dieser Bestimmungen zu entkleiden, so würde damit jede Möglichkeit einer Erklärung der subjectiven Erscheinungen abgeschnitten, also der Hypothese einer realen Welt von Atomen aller wissenschaftliche Boden unter den Füssen weggezogen sein. Eine raum- und zeitlose Welt geistiger Monaden würde die Möglichkeit jeder Naturwissenschaft im Keim vernichten, und alle auf die entgegengesetzte Annahme gebauten naturwissenschaftlichen Erklärungen wären dann nicht nur werthlos, sondern sogar principiell verkehrt. In der That ist auch eine Welt geistiger Monaden ohne Raum und Zeit (oder stellvertretende Formen des Daseins und der Bewegung) metaphysisch unmöglich, da der absolute Geist vor seinem raumzeitlichen sich Auswirken weder wirklich noch zur Vielheit entfaltet ist; Raum und Zeit sind die Formen, in welchen sich der Allgeist aus seinem einheitlichen Wesen und seiner Idealität zum vielheitlichen Dasein realisirt, es sind die Formen seiner sich individualisirenden Manifestation, in welchen sein Wesen sich offenbart oder erscheint.

Es ist hiernach kein Wunder, dass die Naturforscher selber bei ihrer mangelnden Klarheit über die erkenntnisstheoretischen Probleme die naturwissenschaftliche Weltanschauung bald mehr im realistischen, bald mehr im idealistischen Sinne betrachten. Geht man davon aus, dass die transcendent reale Welt lichtlos, farblos, tonlos u.s.w., ja sogar stofflos ist, und bloss in einem magischen Spiel imaginärer Punkte gegeneinander besteht, so kann man wohl mit Kant geneigt sein, die Realität in der empirischen Wahrnehmung als subjectiver Erscheinung zu suchen, und die Dinge an sich als ein transcendentes Gebiet intelligibler Gedankendinge für eigentlich unnahbar zu halten. Geht man umgekehrt davon aus, dass das Prädicat der Realität nur einem an und für sich, d.h. unabhängig von jedem es vorstellenden Bewusstsein existirenden Dinge ertheilt werden kann, so unterliegt es keinem Zweifel, dass nicht die im Bewusstsein schillernde subjective Erscheinungswelt, sondern die Welt der an sich seienden Atomcomplexe oder die Welt der objectiven Erscheinung des Weltwesens als die reale zu bezeichnen ist, um so mehr als sie (ebenso wie die subjective Erscheinungswelt) sich in den Formen von Raum und Zeit bewegt, und die Erscheinungsobjecte des Bewusstseins nur dadurch eine wirkliche Objectivität erhalten, dass sie auf die unmittelbar realen Dinge an sich transcendental bezogen werden und lediglich als Repräsentanten dieser letzteren für das Bewusstsein eine praktische und erkenntnisstheoretische Bedeutung haben. So stellt sich die naturwissenschaftliche Weltanschauung genauer betrachtet doch als ein transcendentaler Realismus heraus, welcher ebenso gut den subjectiven Idealismus (der strenggenommen das Ding an sich für einen blossen negativen Grenzbegriff, für eine unzerstörbare Illusion unseres wachen wie unseres träumenden Bewusstseins erklärt) wie den naiven Realismus (der die Objecte der subjectiven Erscheinungswelt unkritisch zu Dingen an sich hypostasirt) überwunden hat. Dasselbe Resultat eines transcendentalen Realismus ergiebt sich aus einer kritischen Fortbildung der philosophischen Erkenntnisstheorie, wie ich in meinen Schriften: »Das Grundproblem der Erkenntnisstheorie«, »Krit. Grundlegung des transcend. Realismus«, »Kirchmann's erkenntnisstheoret. Realismus« und »Lotze's Philosophie« gezeigt habe, so dass auch auf diesem Gebiete die volle Uebereinstimmung und Vereinigung der auch hierin längere Zeit divergirenden Philosophie und Naturwissenschaft nunmehr wiederhergestellt ist.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 281-306.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3

Buchempfehlung

Neukirch, Benjamin

Gedichte und Satiren

Gedichte und Satiren

»Es giebet viel Leute/ welche die deutsche poesie so hoch erheben/ als ob sie nach allen stücken vollkommen wäre; Hingegen hat es auch andere/ welche sie gantz erniedrigen/ und nichts geschmacktes daran finden/ als die reimen. Beyde sind von ihren vorurtheilen sehr eingenommen. Denn wie sich die ersten um nichts bekümmern/ als was auff ihrem eignen miste gewachsen: Also verachten die andern alles/ was nicht seinen ursprung aus Franckreich hat. Summa: es gehet ihnen/ wie den kleidernarren/ deren etliche alles alte/die andern alles neue für zierlich halten; ungeachtet sie selbst nicht wissen/ was in einem oder dem andern gutes stecket.« B.N.

162 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon