α). Das Erkennen
§ 226

[379] Die allgemeine Endlichkeit des Erkennens, die in dem einen Urteil, der Voraussetzung des Gegensatzes (§ 224) liegt, gegen welche sein Tun selbst der eingelegte Widerspruch ist, bestimmt sich näher an seiner eigenen Idee dazu, daß deren Momente die Form der Verschiedenheit voneinander erhalten und, indem sie zwar vollständig sind, in das Verhältnis der Reflexion, nicht des Begriffs zueinander zu stehen kommen. Die Assimilation des Stoffes als eines Gegebenen erscheint daher als die Aufnahme desselben in die ihm zugleich äußerlich bleibenden Begriffsbestimmungen, welche ebenso in der Verschiedenheit gegeneinander auftreten. Es ist die als Verstand tätige Vernunft. Die Wahrheit, zu der dies Erkennen kommt, ist daher gleichfalls nur die endliche, die unendliche des Begriffs ist als ein nur an sich seiendes Ziel, ein Jenseits für dasselbe fixiert. Es steht aber in seinem äußerlichen Tun unter der Leitung des Begriffs, und dessen Bestimmungen machen den inneren Faden des Fortgangs aus.


§ 227

Das endliche Erkennen hat, indem es das Unterschiedene als ein vorgefundenes, ihm gegenüberstehendes Seiendes – die mannigfaltigen Tatsachen der äußeren Natur oder des Bewußtseins – voraussetzt, 1. zunächst für die Form seiner Tätigkeit die formelle Identität oder die Abstraktion der Allgemeinheit. Diese Tätigkeit besteht daher darin, das gegebene Konkrete aufzulösen, dessen Unterschiede zu vereinzeln[379] und ihnen die Form abstrakter Allgemeinheit zu geben; oder das Konkrete als Grund zu lassen und durch Abstraktion von den unwesentlich scheinenden Besonderheiten ein konkretes Allgemeines, die Gattung oder die Kraft und das Gesetz, herauszuheben; – analytische Methode.


§ 228

Diese Allgemeinheit ist 2. auch eine bestimmte; die Tätigkeit geht hier an den Momenten des Begriffes fort, der im endlichen Erkennen nicht in seiner Unendlichkeit, der verständige bestimmte Begriff ist. Die Aufnahme des Gegenstandes in die Formen desselben ist die synthetische Methode.[380]


§ 229

aa) Der Gegenstand, von dem Erkennen zunächst in die Form des bestimmten Begriffes überhaupt gebracht, so daß hiermit dessen Gattung und dessen allgemeine Bestimmtheit gesetzt wird, ist die Definition. Ihr Material und Begründung wird durch die analytische Methode (§ 227) herbeigeschafft. Die Bestimmtheit soll jedoch nur ein Merkmal, d. i. zum Behufe des dem Gegenstande äußerlichen, nur subjektiven Erkennens sein.


§ 230

[381] bb) Die Angabe des zweiten Begriffsmoments, der Bestimmtheit des Allgemeinen als Besonderung, ist die Einteilung, nach irgendeiner äußerlichen Rücksicht.


§ 231

cc) In der konkreten Einzelheit, so daß die in der Definition einfädle Bestimmtheit als ein Verhältnis aufgefaßt ist, ist der Gegenstand eine synthetische Beziehung unterschiedener Bestimmungen; – ein Theorem. Die Identität derselben, weil sie verschiedene sind, ist eine vermittelte. Das Herbeibringen des Materials, welches die Mittelglieder ausmacht, ist die[382] Konstruktion, und die Vermittlung selbst, woraus die Notwendigkeit jener Beziehung für das Erkennen hervorgeht, der Beweis.

Nach gewöhnlichen Angaben von dem Unterschiede der synthetischen und analytischen Methode erscheint es im ganzen als beliebig, welche man gebrauchen wolle. Wenn das Konkrete, das nach der synthetischen Methode als Resultat dargestellt ist, vorausgesetzt wird, so lassen sich aus demselben die abstrakten Bestimmungen als Folgen herausanalysieren, welche die Voraussetzungen und das Material für den Beweis ausmachten. Die algebraischen Definitionen der krummen Linien sind Theoreme in dem geometrischen Gange; so würde etwa auch der pythagoreische Lehrsatz, als Definition des rechtwinkligen Dreiecks angenommen, die in der Geometrie zu seinem Behuf früher erwiesenen Lehrsätze durch Analyse ergeben. Die Beliebigkeit der Wahl beruht darauf, daß die eine wie die andere Methode von einem äußerlich Vorausgesetzten ausgeht. Der Natur des Begriffes nach ist das Analysieren das erste, indem es den gegebenen empirisch-konkreten Stoff vorerst in die Form allgemeiner Abstraktionen zu erheben hat, welche dann erst als Definitionen in der synthetischen Methode vorangestellt werden können.

Daß diese Methoden, so wesentlich und von so glänzendem Erfolge in ihrem eigentümlichen Felde, für das philosophische Erkennen unbrauchbar sind, erhellt von selbst, da sie Voraussetzungen haben und das Erkennen sich darin als Verstand und als Fortgehen an formeller Identität verhält. Bei Spinoza, der die geometrische Methode vornehmlich, und zwar für spekulative Begriffe gebrauchte, macht sich der Formalismus derselben sogleich auffallend. Die Wolffische Philosophie, welche sie zum weitesten Pedantismus ausgebildet, ist auch ihrem Inhalte nach Verstandesmetaphysik. – An die Stelle des Mißbrauchs, der mit dem Formalismus dieser Methoden in der Philosophie und in den Wissenschaften getrieben worden,[383] ist in neueren Zeiten der Mißbrauch mit der sogenannten Konstruktion getreten. Durch Kant war die Vorstellung in Umlauf gebracht worden, daß die Mathematik ihre Begriffe konstruiere; dies sagte nichts anderes, als daß sie es mit keinen Begriffen, sondern mit abstrakten Bestimmungen sinnlicher Anschauungen zu tun hat. So ist denn die Angabe sinnlicher, aus der Wahrnehmung aufgegriffener Bestimmungen mit Umgehung des Begriffs und der fernere Formalismus, philosophische und wissenschaftliche Gegenstände nach einem vorausgesetzten Schema tabellarisch, übrigens nach Willkür und Gutdünken, zu klassifizieren, eine Konstruktion der Begriffe genannt worden. Es liegt dabei wohl eine dunkle Vorstellung der Idee, der Einheit des Begriffes und der Objektivität, sowie daß die Idee konkret sei, im Hintergrunde. Aber jenes Spiel des sogenannten Konstruierens ist weit entfernt, diese Einheit darzustellen, die nur der Begriff als solcher ist, und ebensowenig ist das Sinnlich-Konkrete der Anschauung ein Konkretes der Vernunft und der Idee.

Weil es übrigens die Geometrie mit der sinnlichen, aber abstrakten Anschauung des Raums zu tun hat, so kann sie ungehindert einfache Verstandesbestimmungen in ihm fixieren; sie hat deswegen allein die synthetische Methode des endlichen Erkennens in ihrer Vollkommenheit. Sie stößt jedoch in ihrem Gange, was sehr bemerkenswert ist, zuletzt auf Inkommensurabilitäten und Irrationalitäten, wo sie, wenn sie im Bestimmen weitergehen will, über das verständige Prinzip hinausgetrieben wird. Auch hier tritt, wie sonst häufig, an der Terminologie die Verkehrung ein, daß, was rational genannt wird, das Verständige, was aber irrational, vielmehr ein Beginn und Spur der Vernünftigkeit ist. Andere Wissenschaften, wenn sie, was ihnen notwendig und oft, da sie sich nicht in dem Einfachen des Raumes oder der Zahl befinden, geschieht, an die Grenze ihres verständigen Fortgehens kommen, helfen sich auf leichte Weise. Sie brechen die Konsequenz desselben[384] ab und nehmen, was sie brauchen, oft das Gegenteil des Vorhergehenden, von außen, aus der Vorstellung, Meinung, Wahrnehmung oder woher es sonst sei, auf. Die Bewußtlosigkeit dieses endlichen Erkennens über die Natur seiner Methode und deren Verhältnis zum Inhalt läßt es weder erkennen, daß es in seinem Fortgehen durch Definitionen, Einteilungen usf. von der Notwendigkeit der Begriffsbestimmungen fortgeleitet wird, noch wo es an seiner Grenze ist, noch, wenn es dieselbe überschritten hat, daß es sich in einem Felde befindet, wo die Verstandesbestimmungen nicht mehr gelten, die es jedoch roherweise noch darin gebraucht.


§ 232

Die Notwendigkeit, welche das endliche Erkennen im Beweise hervorbringt, ist zunächst eine äußerliche, nur für die subjektive Einsicht bestimmte. Aber in der Notwendigkeit als solcher hat es selbst seine Voraussetzung und den Ausgangspunkt, das Vorfinden und Gegebensein seines Inhalts, verlassen. Die Notwendigkeit als solche ist an sich der sich auf sich beziehende Begriff. Die subjektive Idee ist so an sich zu dem an und für sich Bestimmten, Nichtgegebenen, und daher demselben als dem Subjekte Immanenten gekommen und geht in die Idee des Wollens über.[385]

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 8, Frankfurt a. M. 1979, S. 379-386.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse
Werke in 20 Bänden mit Registerband: 8: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik. ... Zusätzen (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Werke in 20 Bänden mit Registerband: 9: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Zweiter Teil. Die Naturphilosophie. Mit ... Zusätzen (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Werke in 20 Bänden mit Registerband: 10: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Dritter Teil. Die Philosophie des ... Zusätzen (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Gesammelte Werke, Bd.13, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817).
Philosophische Bibliothek, Bd.33, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830).

Buchempfehlung

Anonym

Die Geheimlehre des Veda. Ausgewählte Texte der Upanishaden. Indische Philosophie Band 5

Die Geheimlehre des Veda. Ausgewählte Texte der Upanishaden. Indische Philosophie Band 5

Die ältesten Texte der indischen Literatur aus dem zweiten bis siebten vorchristlichen Jahrhundert erregten großes Aufsehen als sie 1879 von Paul Deussen ins Deutsche übersetzt erschienen.

158 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon