Zweites Kapitel.

Übergangsperiode Das Verkommen des Denkens bis zur Kantischen Philosophie

[267] Gegen diese Metaphysik hat sich denn jetzt erhoben, was allgemeine Populärphilosophie, reflektierende Philosophie, Empirismus, der reflektiert, genannt werden kann, der selbst mehr oder weniger Metaphysik wird, wie umgekehrt jene Metaphysik, insofern sie sich zu besonderen Wissenschaften ausbreitet, Empirismus wird. Gegen jene Widersprüche sind behauptet worden ein festes Prinzip, feste Grundsätze, die immanent sind dem Geist, der Brust des Menschen; und dagegen, daß wir nur jenseits in Gott die Auflösung finden, sind diese festen Prinzipien eine diesseitige Versöhnung, diesseitige Selbständigkeit. Diese Grundsätze sind gerichtet gewesen gegen die jenseitige Metaphysik, gegen die Künstlichkeiten der metaphysischen Zusammenstellung, gegen Gottes Assistenz, die prästabilierte Harmonie,[267] die beste Welt usf., – diesen nur künstlichen Verstand; sie sind ein diesseitiger verständiger Halt, gefunden aus dem, was man im allgemeinen gesunden Menschenverstand, gesunde Vernunft genannt hat. Diese diesseitigen konkreten Prinzipien sind Prinzipien festen Inhalts, die sich in der gebildeten Menschenbrust vorfinden, was darin gefühlt, angeschaut, verehrt wird. Dergleichen Bestimmungen können wohl gut sein und geltend gemacht werden, wenn das Gefühl, die Anschauung, das Herz des Menschen, sein Verstand gebildet ist. Wenn dies der Fall ist, daß sein Herz sittlich gebildet ist, sein Geist zum Denken, Reflektieren intellektuell gebildet, so können bessere, schöne Gefühle, Empfindungen, Neigungen im Menschen herrschen; so kann ein allgemeinerer Inhalt es sein, den diese Grundsätze ausdrücken. Wenn man aber das, was wir gesunden Verstand, Vernunft nennen, das, was dem natürlichen Menschen ins Herz gepflanzt ist, zum Inhalt und Prinzip macht, so findet sich der gesunde Menschenverstand als ein natürliches Empfinden und Wissen. Die Inder, die eine Kuh verehren, die neugeborenen Kinder aussetzen oder umbringen und alle möglichen Grausamkeiten verüben, die Ägypter, die einen Vogel, Apis usf. anbeten, und die Türken haben auch solch einen gesunden Menschenverstand. Der gesunde Menschenverstand und das natürliche Gefühl roher Türken zum Maßstab genommen, gibt abscheuliche Grundsätze. Wenn wir aber von gesundem Menschenverstand sprechen, von natürlichem Gefühl, so hat man dabei immer im Sinn einen gebildeten Geist. Und die, die gesunde Menschenvernunft, natürliches Wissen, die unmittelbaren Gefühle, unmittelbare Offenbarung in ihnen zur Regel und Maßstab machen, wissen nicht, daß, wenn Religion, das Sittliche, Rechtliche sich als Inhalt in der Menschenbrust findet, dies der Bildung und Erziehung verdankt werde, die nur erst solche Grundsätze zu natürlichen Gefühlen gemacht haben. Hier sind nun also natürliche Gefühle, gesunder Menschenverstand zum Prinzip gemacht; und darunter finden sich viele anerkennbare.[268]

Dies ist denn die Gestalt der Philosophie im achtzehnten Jahrhundert; und es gehören unter diese Gestaltung der Philosophie teils französische, teils schottische, teils deutsche Philosophie. Die letztere, besonders insofern sie nicht Wolffische Metaphysik ist, bezeichnet man auch mit dem Ausdruck Aufklärung. – Hier haben wir drei Seiten im allgemeinen zu betrachten: 1. Hume für sich; 2. schottische Philosophie; 3. französische Philosophie. Hume ist Skeptiker. Die schottische Philosophie macht einen Gegensatz zum Humeschen Skeptizismus. Die französische Philosophie ist das dritte; ein Anhängsel, eine mattere Form ist die deutsche Aufklärung. Aus dem metaphysischen Gott kann nicht weitergegangen werden, d. i. konkret. Locke gründet seinen Inhalt auf Erfahrung, der empirische Standpunkt führt das Denken zu keinem festen Standpunkt; Hume negiert alles Allgemeine; die Schotten stellen allgemeine Sätze und Wahrheiten auf, aber nicht durchs Denken, – in dem empirischen ist der feste Standpunkt anzunehmen; die Franzosen finden in der Wirklichkeit (réalité) Allgemeines, aber nicht seinen Gehalt in und aus dem Denken, sondern lebendige Substanz, Natur, Materie. Alles dies ist Fortbildung des reflektierenden Empirismus. Es sind nun einige nähere Bestimmungen anzugeben.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 20, Frankfurt am Main 1979, S. 267-269.
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