a. Verhältnis der Philosophie zur wissenschaftlichen Bildung

[76] Was die besonderen Wissenschaften betrifft, so ist zwar die Erkenntnis und das Denken ihr Element, wie das Element der Philosophie. Aber ihre Gegenstände sind zunächst die endlichen Gegenstände und die Erscheinung. Eine Sammlung von Kenntnissen über diesen Inhalt ist von selbst von der Philosophie ausgeschlossen; weder dieser Inhalt noch solche Form geht diese an. Wenn sie aber systematische Wissenschaften sind und allgemeine Grundsätze und Gesetze enthalten und davon ausgehen, so beziehen sich solche auf einen beschränkten Kreis von Gegenständen. Die letzten Gründe sind wie die Gegenstände selbst vor ausgesetzt, es sei daß die äußere Erfahrung oder die Empfindung des Herzens, der natürliche oder gebildete Sinn von Recht und Pflicht die Quelle ausmacht, aus der sie geschöpft werden. In ihrer Methode setzen sie die Logik, die Bestimmungen und Grundsätze des Denkens überhaupt voraus.

Die Denkformen, ferner die Gesichtspunkte und Grundsätze, welche in den Wissenschaften gelten und den letzten Halt ihres übrigen Stoffes ausmachen, sind ihnen jedoch nicht eigentümlich, sondern mit der Bildung einer Zeit und eines[76] Volkes überhaupt gemeinschaftlich. Die Bildung besteht überhaupt in den allgemeinen Vorstellungen und Zwecken, in dem Umfang der bestimmten geistigen Mächte, welche das Bewußtsein und das Leben regieren. Unser Bewußtsein hat diese Vorstellungen, läßt sie als letzte Bestimmungen gelten, läuft an ihnen als seinen leitenden Verknüpfungen fort; aber es weiß sie nicht, es macht sie selbst nicht zu Gegenständen und Interessen seiner Betrachtung. Um ein abstraktes Beispiel zu geben, hat und gebraucht jedes Bewußtsein die ganz abstrakte Denkbestimmung: Sein. »Die Sonne ist am Himmel, die Traube ist reif« usf. ins Unendliche; oder in höherer Bildung geht es an dem Verhältnisse von Ursache und Wirkung, von Kraß und ihrer Äußerung usw. fort. All sein Wissen und Vorstellen ist von solcher Metaphysik durchwebt und regiert; sie ist das Netz, in welches all der konkrete Stoff gefaßt ist, der den Menschen in seinem Tun und Treiben beschäftigt. Aber dieses Gewebe und dessen Knoten sind in unserem gewöhnlichen Bewußtsein in den vielschichtigen Stoff versenkt; dieser enthält unsere gewußten Interessen und Gegenstände, die wir vor uns haben; jene allgemeinen Fäden werden nicht herausgehoben und für sich zu den Gegenständen unserer Reflexion gemacht.

Die allgemeine wissenschaftliche Bildung rechnen wir Deutsche nur selten zur Philosophie. Doch finden sich auch davon Spuren, wie z.B. die philosophische Fakultät alle Wissenschaften enthält, die nicht unmittelbar für den Zweck des Staates und der Kirche sind. Zusammenhängend damit ist die Bedeutung des Namens Philosophie, die noch jetzt bei den Engländern vornehmlich vorkommt. Die Naturwissenschaften werden in England Philosophie genannt. Ein philosophisches Journal in England (von Thomson) schreibt über Chemie, Ackerbau (den Mist), Wirtschaftskunde, Gewerbekunde (wie Hermbstädts Journal) und teilt Erfindungen[77] hierüber mit. Die Engländer nennen physikalische Instrumente, wie Barometer und Thermometer, philosophische Instrumente. Auch Theorien, besonders über Moral und moralische Wissenschaften, die aus den Gefühlen des menschlichen Herzens genommen sind oder aus der Erfahrung, werden Philosophie genannt; endlich auch Theorien, Grundsätze über die Nationalökonomie. Und so wird wenigstens in England der Name der Philosophie geehrt. In Liverpool war vor einiger Zeit ein Gastmahl zu Ehren des Ministers Canning; in seiner Danksagung kommt vor, daß er England Glück wünsche, weil dort philosophische Grundsätze auf die Staatsverwaltung in Anwendung gebracht würden. So ist dort wenigstens die Philosophie kein Spitzname.

In der Anfangszeit der Bildung begegnet uns aber diese Vermischung von Philosophie und allgemeiner Bildung öfter. Es tritt eine Zeit im Volke ein, wo der Geist sich auf allgemeine Gegenstände wirft, die natürlichen Dinge unter allgemeine Verstandesbestimmungen zu bringen, z.B. die Ursachen der Dinge zu erkennen sucht. Da sagt man, das Volk fange an zu philosophieren; denn dieser Inhalt hat mit der Philosophie das Denken gemein. Oder in Ansehung des Geistigen, wenn allgemeine Grundsätze über die Sittlichkeit, den Willen (Pflichten, wesentliche Verhältnisse) ausgesprochen werden, so haben die, welche sie ausgesprochen, Weise oder Philosophen geheißen. So begegnen uns sogleich im Anfange der griechischen Philosophie die Sieben Weisen und die ionischen Philosophen. Von ihnen werden uns eine Menge Vorstellungen, Entdeckungen angeführt, die neben die philosophischen Sätze treten. So soll Thales (nach anderen ein anderer) Sonnen- und Mondfinsternisse durch das Dazwischentreten des Mondes oder der Erde erklärt haben. Solches nannte man auch ein Philosophem. Pythagoras hat das Prinzip der Harmonie der Töne gefunden. Andere[78] haben sich Vorstellungen von den Gestirnen gemacht: das Himmelsgewölbe sei durchlöchertes Metall, durch welches hindurch wir das Empyreum, das ewige Feuer sehen, das die Welt umgibt. Solche Sätze gehören, als Produkte des Verstandes, nicht in die Geschichte der Philosophie, wenn auch darin schon liegt, daß über das bloß sinnliche Anstieren hinausgegangen wird sowie darüber, solche Gegenstände nur durch die Phantasie vorzustellen. Erde und Himmel wird auf diese Weise von Göttern entvölkert, indem der Verstand die Dinge in ihrer äußerlichen, natürlichen Bestimmtheit dem Geiste gegenüberstellt. Wir finden in solcher Zeit auch Sittensprüche, moralische Sentenzen einen allgemeinen sittlichen Inhalt habend: so die der Sieben Weisen; auch Sprüche über das allgemeine Geschehen der Natur.

In späterer Zeit ist die Epoche des Wiederauflebens der Wissenschaften ebenso merkwürdig in dieser Hinsicht. Allgemeine Grundsätze über den Staat usw. wurden ausgesprochen; es ist eine philosophische Seite darin, so die Philosophie von Hobbes und Descartes. Die Schriften des letzteren enthalten philosophische Prinzipien, seine Naturphilosophie und seine Ethik sind aber empirisch, wogegen Spinozas Ethik auch allgemeine Ideen, Erkenntnis Gottes, der Natur in sich schließt. Wenn früher die Medizin eine Sammlung von Einzelheiten und dabei ein theosophisches Gebräu war, mit Astrologie usw. vermischt (auch durch Heiligtümer wurde geheilt, was nicht so fern lag), so trat dagegen nun eine Betrachtung der Natur auf, wo man darauf ausging, Gesetze und Kräfte der Natur zu erkennen. Man hat das apriorische Räsonieren über die natürlichen Dinge nach der Metaphysik der scholastischen Philosophie oder von der Religion aus aufgegeben. Die Newtonsche Philosophie enthält nichts anderes als die Naturwissenschaft, d.h. die Kenntnis von den Gesetzen, Kräften, allgemeinen Beschaffenheiten der Natur, geschöpft aus der Wahrnehmung, aus der Erfahrung. Sosehr dies auch dem Prinzipe der Philosophie entgegengesetzt zu sein scheint, so hat es doch dies mit der Philosophie gemein,[79] daß die Grundsätze allgemein [sind,] und näher, daß ich dies erfahren habe, daß es in meinem Sinne liegt und mir dadurch ist.

Diese Form ist im allgemeinen dem Positiven entgegengesetzt und ist besonders aufgetreten im Gegensatz gegen die Religion und gegen das Positive derselben. Wenn in der Zeit des Mittelalters die Kirche Dogmen als allgemeine Wahrheiten festgesetzt hatte, so hat der Mensch jetzt aus dem Zeugnis seines eigenen Denkens8, Gefühls, Vorstellens ein Mißtrauen dagegen bekommen. Ebenso hat sich dies Prinzip gegen die geltenden Staatsverfassungen gewendet und dafür andere Prinzipien gesucht, um sie danach zu berichtigen; so allgemeine Grundsätze des Staats. In eben der Rücksicht, wie die Religion positiv war, so galten auch die Gründe des Gehorsams der Untertanen gegen den Fürsten, die Obrigkeit. Die Könige hatten, als die Gestalten des Herrn im Sinne der jüdischen Könige, ihre Gewalt von Gott, ihm Rechenschaft zu geben; die Obrigkeit sei von Gott eingesetzt. Insofern waren Theologie und Jurisprudenz überhaupt feste, positive Wissenschaften; dies Positive komme nun, woher es wolle. Gegen diese äußere Autorität hat sich das Nachdenken gewendet. So war (besonders in England) die Quelle des Staats- und Zivilrechts nicht mehr bloß göttliche Autorität, wie das mosaische Recht; sondern Hugo Grotins z.B. schrieb ein Völkerrecht: was geschichtlich bei den Völkern als Recht galt, der consensus gentium war dabei Hauptmoment. Für die Autorität der Könige wurden andere Berechtigungen gesucht, z.B. der immanente Zweck des Staats, das Wohl der Völker. Das ist eine ganz andere Quelle der Wahrheit, welche sich der geoffenbarten, gegebenen und positiven Wahrheit entgegenstellte. Dies Unterschieben eines anderen[80] Grundes, als den der Autorität, hat man Philosophieren genannt. Dieses Wissen war so Wissen von Endlichem, die Welt der Inhalt des Wissens. Indem dieser Inhalt aus der menschlichen Vernunft durch Selbstsehen kam, so sind die Menschen so selbsttätig gewesen. Dieses Selbstdenken ist geehrt und menschliche Weisheit, Weltweisheit genannt worden, da sie Irdisches zum Gegenstande hatte und auch in der Welt selbst entstanden war. Dieses war die Bedeutung der Philosophie gewesen. Man hat so recht, die Philosophie Weltweisheit zu nennen. Die Philosophie beschäftigt sich zwar mit endlichen Dingen, aber nach Spinoza als bleibend in der göttlichen Idee; aber sie hat auch denselben Zweck wie die Religion. Friedrich von Schlegel hat für die Philosophie den Spitznamen der Weltweisheit wieder aufgewärmt und damit bezeichnen wollen, daß sie wegbleiben müsse, wo von Höherem, z.B. der Religion, die Rede sei; und er hat viele Nachtreter gehabt. Die selbsttätige Tätigkeit des Geistes ist hier das ganz richtige Moment, welches der Philosophie zu kommt, wenngleich der Begriff der Philosophie durch diese formelle Bestimmung, welche sich auf endliche Gegenstände beschränkt, noch nicht erschöpft wird. Diesen Wissenschaften, welche jetzt auch von der Philosophie unterschieden werden, warf schon die Kirche vor, daß sie von Gott abführen, eben weil sie nur Endliches zum Gegenstande haben. Dieser Mangel, von der Seite des Inhalts aufgefaßt, führt uns zum zweiten mit der Philosophie verwandten Gebiete, zur Religion.

8

»Mein eigenes Denken« ist eigentlich ein Pleonasmus. Jeder muß für sich denken; es kann keiner für den anderen denken.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 18, Frankfurt am Main 1979, S. 76-81.
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