A. Philosophie der Sophisten

[406] Der Begriff, den die Vernunft im Anaxagoras als das Wesen gefunden, ist das einfache Negative, in welches alle Bestimmtheit, alles Seiende und Einzelne sich versenkt. Vor dem Begriffe kann nichts bestehen; er ist eben das prädikatlose Absolute, ihm ist schlechthin alles nur Moment; für ihn gibt es, um sich so auszudrücken, nichts Niet- und Nagelfestes. Eben der Begriff ist dies fließende Übergehen Heraklits, dies Bewegen, – diese Kaustizität, der nichts widerstehen kann. Der Begriff also, der sich selbst findet, findet sich als die absolute Macht, welcher alles verschwindet, und jetzt werden alle Dinge, alles Bestehen, alles für fest Gehaltene flüssig. Dies Feste – sei es nun eine Festigkeit des Seins oder Festigkeit von bestimmten Begriffen, Grundsätzen, Sitten, Gesetzen – gerät in Schwanken und verliert seinen Halt. Grundsätze usf. gehören selbst dem Begriffe, sind als Allgemeines gesetzt; aber die Allgemeinheit ist nur ihre Form; der Inhalt, den sie haben, gerät, als etwas Bestimmtes, in Bewegung.

Diese Bewegung sehen wir in den sogenannten Sophisten werden, die uns hier zuerst begegnen. Den Namen sophistai gaben sie sich selbst, als Lehrer der Weisheit, die weise machen können (sophizein). Die Sophisten sind gerade das Gegenteil von unserer Gelehrsamkeit, welche nur auf Kenntnisse geht und aufsucht, was ist und was gewesen ist, – eine Masse empirischen Stoffs, wo die Entdeckung einer neuen[406] Gestalt, eines neuen Wurms oder sonstigen Ungeziefers und Geschmeißes für ein großes Glück gehalten wird. Unsere gelehrten Professoren sind insofern viel unschuldiger als die Sophisten; um diese Unschuld gibt aber die Philosophie nichts.

Was das Verhältnis der Sophisten zur gemeinen Vorstellung betrifft, so sind sie beim gesunden Menschenverstande ebenso verschrien als bei der Moralität: α) ihrer theoretischen Lehre wegen, als sei es ein Unsinn, daß nichts existiere, β) in Ansehung des Praktischen, – alle Grundsätze und Gesetze umzustoßen.

Fürs erste darf nicht bei diesem Taumel der Bewegung aller Dinge bloß nach ihrer negativen Seite stehengeblieben werden; aber die Ruhe, worein sie übergeht, ist nicht wieder das in seiner Festigkeit Wiederherstellen des Bewegten, so daß am Ende dasselbe herauskäme und sie nur ein überflüssiges Getue wäre. Aber die Sophistik der gemeinen Vorstellung, die ohne die Bildung des Gedankens und ohne Wissenschaft ist, ist eben die, daß ihr ihre Bestimmtheiten als solche für an und für sich seiende Wesen und eine Menge Lebensregeln, Erfahrungssätze, Grundsätze usf. als absolut feste Wahrheiten gelten. Der Geist selbst ist die Einheit dieser vielerlei Wahrheiten; in ihm sind alle diese bornierten Wahrheiten nur als aufgehoben vorhanden, nur als relative Wahrheiten erkannt – oder mit ihrer Schranke, in ihrer Begrenzung, nicht als an sich seiende vorhanden. Diese Wahrheiten sind dem gemeinen Verstande in der Tat selbst nicht mehr. Der gemeine Verstand läßt ein andermal auch vor dem Bewußtsein das Gegenteil gelten und behauptet es selbst; oder weiß auch nicht, daß er unmittelbar das Gegenteil von dem sagt, was er meint, sein Ausdruck nur ein Ausdruck des Widerspruchs ist. In seinen Handlungen überhaupt, nicht im schlechten Handeln, bricht er diese seine Maximen, seine Grundsätze; und wenn er ein vernünftiges Leben führt, so ist es eigentlich nur eine beständige Inkonsequenz, das Gutmachen einer bornierten Handlungsmaxime durch Abbruch[407] von der anderen. Und z.B. ein welterfahrener gebildeter Staatsmann ist, der eine Mitte zu treffen weiß, praktischen Verstand hat, d.h. der nach dem ganzen Umfange des vorliegenden Falls handelt, nicht nach einer Seite desselben (eine Seite spricht eine Maxime aus). Wer, wo es sei, nach einer Maxime handelt, heißt ein Pedant und verdirbt sich und anderen die Sache. Im Gemeinsten ist dies ebenso. Z.B.: »Es ist wahr, daß die Dinge, die ich sehe, sind, ich glaube an ihre Realität«, so sagt leicht jeder; allein es ist in der Tat nicht wahr, daß er an ihre Realität glaubt, sondern das Gegenteil. Er ißt und trinkt sie, d.h. er ist überzeugt, daß diese Dinge nicht an sich sind, daß ihr Sein keine Festigkeit, kein Wesen hat. Der gemeine Verstand ist in seinem Handeln also besser, als er denkt. Sein handelndes Wesen ist der ganze Geist, aber als Geist ist er sich seiner nicht bewußt, sondern was er sich bewußt wird, sind solche Gesetze, Regeln, allgemeine Sätze, die ihm im Bewußtsein für wahr gelten; und im Handeln widerlegt er selbst die Borniertheit seines Verstandes. Aber dies Bewußtsein spricht solches bestimmte Sein und das Sein überhaupt als absolutes Wesen aus und heißt dies sein Bewußtsein, seinen Verstand. Wenn der Begriff sich gegen diesen Reichtum, den es an Wahrheit zu besitzen glaubt, wendet und es die Gefahr für seine Wahrheit wittert (denn das Bewußtsein weiß, daß es nur insofern ist, als es Wahrheit hat) und seine festen Wesenheiten ihm verwirrt werden, so wird es aufgebracht; und der Begriff in dieser seiner Beziehung (Realisierung), daß er sich an die gemeinen Wahrheiten macht, zieht sich Haß und Schimpf zu. Dies ist das allgemeine Geschrei gegen die Sophisterei, ein Geschrei des gesunden Menschenverstandes, der sich nicht anders zu helfen weiß.

Sophisterei ist ein übelberüchtigter Ausdruck, und zwar besonders durch den Gegensatz gegen Sokrates und Platon sind die Sophisten in den schlimmen Ruf gekommen. Es bedeutet dies Wort gewöhnlich, daß willkürlicherweise durch falsche Gründe entweder irgendein Wahres widerlegt, schwankend[408] gemacht oder etwas Falsches plausibel, wahrscheinlich gemacht wird. Diesen schlimmen Sinn haben wir auf die Seite zu stellen und zu vergessen. Dagegen wollen wir nun näher von seiner positiven, eigentlich wissenschaftlichen Seite betrachten, was die Stellung der Sophisten in Griechenland war.

1. Die Sophisten sind es, die den einfachen Begriff, als Gedanken (der schon in der eleatischen Schule bei Zenon anfängt, sich gegen sein reines Gegenbild, die Bewegung, zu kehren), jetzt überhaupt auf weltliche Gegenstände angewendet und mit demselben alle menschlichen Verhältnisse durchdrungen haben, indem er seiner Macht, seiner als des absoluten und einzigen Wesens bewußt wird – eifersüchtig gegen Anderes, das Bestimmte, das nicht Gedanke ist, gelten will –, und seine Macht und Herrschaft an ihm ausübt. Der mit sich identische Gedanke richtet seine negative Kraft gegen die mannigfaltige Bestimmtheit des Theoretischen und Praktischen, die Wahrheiten des natürlichen Bewußtseins und die unmittelbar geltenden Gesetze und Grundsätze; und was der Vorstellung fest ist, löst sich in ihm auf und läßt insofern auf einer Seite der besonderen Subjektivität zu, sich selbst zum Ersten und Festen zu machen und alles auf sich zu beziehen.

Indem eben dieser Begriff jetzt auftrat, so wurde er allgemeinere Philosophie, und nicht sowohl nur Philosophie, sondern allgemeine Bildung, die jeder Mensch überhaupt, der nicht zum gedankenlosen Volk gehörte, sich gab und geben mußte. Denn Bildung nennen wir eben den in der Wirklichkeit angewandten Begriff, insofern er nicht rein in seiner Abstraktion erscheint, sondern in Einheit mit dem mannigfaltigen Inhalt alles Vorstellens. In der Bildung ist der Begriff allerdings das Herrschende und Bewegende, indem das Bestimmte in seiner Grenze, in seinem Übergehen in Anderes erkannt wird. Er wurde allgemeinerer Unterricht, und es gab deswegen eine Menge Lehrer der Sophistik. Die Sophisten sind die Lehrer Griechenlands, durch welche die Bildung überhaupt[409] in Griechenland zur Existenz kam. Sie sind an die Stelle der Dichter und Rhapsoden getreten. Diese waren früher allgemeine Lehrer. Die Religion war nicht Lehrerin; es ist kein Unterricht in der Religion gewesen. Priester haben geopfert, Orakel gegeben, sind gewesen, haben die Sprüche ausgelegt; aber Lehren ist ein anderes. Die Sophisten haben Unterricht in der Weisheit, den Wissenschaften überhaupt, Musik, Mathematik usf. erteilt; das war ihre erste Bestimmung. Vor Perikles war das Bedürfnis der Bildung durch Denken eingetreten; die Menschen sollten in ihren Vorstellungen gebildet sein, dahin zweckten die Sophisten. Sie hatten Amt der Bildung. Das Bedürfnis, sich durch Denken über die Verhältnisse zu bestimmen, nicht mehr bloß durch Orakel oder durch Sitte, Leidenschaft, Empfindungen des Augenblicks, – dies Bedürfnis der Reflexion hat in Griechenland aufwachen müssen. Der Zweck des Staats ist das Allgemeine, worunter das Besondere gefaßt wird; diese Bildung haben die Sophisten verbreitet. Sie haben, wie ein eigener Stand, das Lehren als Geschäft, Gewerbe betrieben, statt der Schulen; sie sind in den Städten herumgereist, die Jugend hat sich ihnen angeschlossen und ist von ihnen gebildet worden.

Bildung ist unbestimmt. Näher was der freie Gedanke gewinnen soll, das muß aus ihm selber kommen, muß die eigene Überzeugung sein; es wird nicht mehr geglaubt, sondern untersucht, – kurz es ist die in neueren Zeiten sogenannte Aufklärung. Das Denken sucht allgemeine Prinzipien, an denen es alles beurteilt, was uns gilt; und es gilt uns nichts, als was diesen Prinzipien gemäß ist. Es übernimmt also, den positiven Inhalt mit sich zu vergleichen, das vorher Konkrete des Glaubens aufzulösen, einerseits den Inhalt zu zersplittern, andererseits diese Einzelheiten, diese besonderen Gesichtspunkte und Seiten zu isolieren und für sich festzuhalten. Dadurch erhält es die Form von etwas Allgemeinem; man gibt Gründe dafür an, d.h. allgemeine Bestimmungen, die man wieder auf die besonderen Seiten hinwendet. Die[410] Seite ist nämlich nichts Selbständiges, sondern nur Moment an einem Ganzen; abgelöst von dem Ganzen beziehen sie sich auf sich, d.h. sind Allgemeinheiten. Zur Bildung gehört, daß man mit den allgemeinen Gesichtspunkten bekannt ist, die zu einer Handlung, Begebenheit usf. gehören, daß man diese Gesichtspunkte und damit die Sache auf allgemeine Weise fasse, um ein gegenwärtiges Bewußtsein über das zu haben, worauf es ankommt. Ein Richter kennt die verschiedenen Gesetze, d.h. die verschiedenen rechtlichen Gesichtspunkte, unter denen eine Sache zu betrachten ist; dies sind schon für sich allgemeine Seiten; er hat so ein allgemeines Bewußtsein und betrachtet den Gegenstand selbst auf allgemeine Weise. Ein gebildeter Mensch weiß etwas über jeden Gegenstand zu sagen, Gesichtspunkte daran aufzufinden. Diese Bildung hat Griechenland den Sophisten zu verdanken. Sie lehrten die Menschen, Gedanken zu haben über das, was ihnen geltend sein sollte. Die Sophisten sind nicht eigentliche Gelehrte. Ihre Bildung war sowohl Bildung zur Philosophie als zur Beredsamkeit, um ein Volk zu regieren oder etwas bei ihm geltend machen zu wollen durch Vorstellungen. Es gab noch keine positiven Wissenschaften ohne Philosophie, welche trocken, nicht das Ganze des Menschen, seine wesentlichen Seiten betroffen hätten. Außerdem hatten sie den allgemeinsten praktischen Zweck: eine Vorbildung zum allgemeinen Beruf im griechischen Leben, zum Staatsleben, Staatsmanne zu geben, – nicht etwa zu Staatsämtern, als ob sie zu einem Examen in spezifischen Kenntnissen vorbereitet hätten.

Die Sophisten knüpften an den Trieb an, weise zu werden. Zur Weisheit rechnet man, das zu kennen, was die Macht unter den Menschen und im Staate ist und was ich als eine solche anzuerkennen habe. Daher die Bewunderung, die Perikles und andere Staatsmänner genossen, weil sie eben wissen, woran sie sind, und die anderen an ihre rechte Stelle zu setzen vermögen. Der Mensch ist mächtig, der das, was die Menschen tun, auf ihre absoluten Zwecke zurückzuführen[411] weiß, welche den Menschen bewegen. Dies ist Gegenstand der Lehre der Sophisten gewesen. Was die Macht in der Welt ist – der allgemeine, alles Besondere auflösende Gedanke –, weiß auch die Philosophie allein; so sind die Sophisten spekulative Philosophen gewesen. Sie wollten Bewußtsein darüber geben, worauf es in der sittlichen Welt ankommt; dann über das, was den Menschen Befriedigung gibt. Die Triebe und Neigungen, die der Mensch hat, sind seine Macht; indem er ihnen Genüge leistet, wird er befriedigt. Die Religion lehrt dies: die Götter sind die Mächte, welche den Menschen regieren. Ebenso die Gesetze; der Mensch soll sich befriedigen, insofern er den Gesetzen gemäß ist, und er soll voraussetzen, daß die anderen sich auch befriedigen, indem sie die Gesetze befolgen. Durch die Reflexion genügt es aber dem Menschen nicht mehr, den Gesetzen als einer Autorität und äußerlichen Notwendigkeit zu gehorchen; sondern er will sich in sich selbst befriedigen, durch seine Reflexion sich überzeugen, was für ihn verbindlich ist, was Zweck ist und was er für diesen Zweck zu tun habe.

So sind die Sophisten besonders Lehrer der Beredsamkeit gewesen. Das ist die Seite, wo das Individuum sich sowohl geltend machen konnte unter dem Volke, als das ausführen, was das Beste des Volkes sei; dazu war die Beredsamkeit eines der ersten Erfordernisse. Dazu gehörte demokratische Verfassung, wo die Bürger die letzte Entscheidung hatten. Die Beredsamkeit führt die Umstände auf die Mächte, Gesetze zurück. Zur Beredsamkeit gehört aber besonders das: an einer Sache die vielfachen Gesichtspunkte herauszuheben und die geltend zu machen, die mit dem im Zusammenhang sind, was mir als das Nützlichste erscheint. Solche konkrete Fälle haben viele Seiten; diese unterschiedenen Gesichtspunkte aber zu fassen, dazu gehört ein gebildeter Mann; und das ist die Beredsamkeit, diese hervorzuheben, die anderen dagegen in den Schatten zu stellen. Darauf bezieht sich auch des Aristoteles Topik, diese topous, Kategorien,[412] Gedankenbestimmungen anzugeben, wonach man sehen muß, um reden zu lernen. Auf ihre Kenntnis legten sich aber zuerst die Sophisten.

Dies die allgemeine Stellung der Sophisten. Wie sie aber sonst verfahren sind, es getrieben haben, davon finden wir ein vollständig bestimmtes Gemälde besonders in Platons Protagoras. Platon läßt hier den Protagoras sich näher über die Kunst der Sophisten erklären. Platon stellt vor, daß Sokrates einen jungen Mann namens Hippokrates begleitet, der sich dem eben in Athen angekommenen Protagoras übergeben will, um in der Wissenschaft der Sophisten unterrichtet zu werden. Unterwegs fragt Sokrates nun den Hippokrates, was denn die Weisheit der Sophisten sei, die er erlernen wolle. Hippokrates antwortet zuerst und zunächst: »Die Redekunst; denn der Sophist sei einer, der wisse, im Reden mächtig zu machen epistatên tou poiêsai deinon legein«, die Gegenstände nach vielen Seiten zu wenden, zu betrachten. Dies ist das, was an einem gebildeten Menschen oder Volk zuerst auffällt, – die Kunst, gut zu sprechen. Die Franzosen sind so gute Sprecher; wir nennen es Schwatzen. Man lernt französisch, um gut französisch zu sprechen, – d.h. aber französische Bildung erwerben. Der ungebildete Mensch findet es unbequem, mit solchen Men schen umzugehen, die alle Gesichtspunkte leicht aufzufassen und auszusprechen wissen. Aber das bloße Sprechen macht es nicht aus, sondern die Bildung gehört dazu. Man kann eine Sprache ganz regelrecht innehaben; wenn man aber die Bildung nicht hat, so ist es nicht gut sprechen. Dazu gehört die Bildung, daß dem Geiste gegenwärtig sind die mannigfaltigen Gesichtspunkte, daß ihm diese sogleich einfallen, daß er einen Reichtum von Kategorien hat, unter denen ein Gegenstand zu betrachten ist. Die Fertigkeit, die man also durch die Sophisten erlangen sollte, ist die, daß man eine Menge solcher Gesichtspunkte geläufig innehabe, um den Gegenstand sogleich danach zu betrachten. Sokrates bemerkt hierbei zwar, daß das Prinzip der Sophisten hiermit »nicht hinreichend[413] bestimmt sei« zur Kenntnis dessen, was ein Sophist sei (will einer Philosophie studieren, so weiß er nicht, was Philosophie ist, sonst brauchte er sie nicht zu studieren); »doch«, sagt er, »wir wollen hingehen.« (Steph. 310-314) Sokrates geht nun mit dem Hippokrates zum Protagoras, und findet daselbst diesen in einer Versammlung der ersten Sophisten und von Zuhörern: »Protagoras spazierend, wie ein Orpheus die Menschen durch seine Reden bezaubernd; Hippias auf einem Katheder thronô sitzend, mit wenigeren umgeben; Prodikos liegend unter einer großen Menge von Bewunderern.« Nachdem Sokrates beim Protagoras sein Gesuch angebracht, Hippokrates wolle sich in seine Lehre geben, um durch seinen Unterricht sich dazu zu bilden, im Staate ein angesehener Mann zu werden, fragt er ihn, ob sie öffentlich oder insgeheim mit ihm allein sprechen sollen. Protagoras rühmt diese Diskretion, erwidert, sie handeln klug, diese Vorsorge gebrauchen zu wollen, denn die Sophisten seien so in den Städten herumgezogen; so hätten viele Jünglinge sich an sie, Väter, Freunde verlassend, angeschlossen, in der Überzeugung, durch ihren Umgang besser (klüger) zu werden, und so hätten die Sophisten dadurch viel Neid und Mißgunst auf sich geladen, – wie ja alles Neue in Haß sei. Hierüber spricht er weitläufig und sagt dabei: »Ich aber behaupte, daß die sophistische Kunst alt ist, daß aber die von den Alten, welche sie übten metacheirizomenous, in Besorgnis, damit anzustoßen« phoboumenoi to epachthes, denn das Ungebildete ist dem Gebildeten feind), »ihr ein Gewand machten und sie verdeckten.« Diese Kunst ist Bildung überhaupt, dasselbe was »ein Teil, wie Homer und Hesiod, in Poesie vorgetragen, andere, wie Orpheus und Musaios, in Mysterien und Orakelsprüche eingehüllt; einige, glaube ich, auch durch die gymnastische Kunst (Turnkunst) vorgestellt haben, wie Ikkos der Tarentiner und der noch jetzt lebende, keinem nachgebende Sophist Herodikos, der Selymbrier«; oder die Musik ist Bildungsweise der Menschen. Wir sehen, er schreibt so den Sophisten denselben[414] Zweck zu wie der Geistesbildung überhaupt – Sittlichkeit, Geistesgegenwart, Sinn der Ordnung, Anstelligkeit des Geistes – und setzt hinzu: »Alle diese, die einen Neid gegen die Wissenschaften befürchteten, gebrauchten solche Decken und Vorhänge. Ich aber meine, sie erreichen ihren Zweck nicht, sondern die Einsichtigen im Staate durchsehen den Zweck; wenn also auch das Volk davon nichts merkt, so sprechen dies jene aus. Wenn man sich aber so verhält, so macht man sich verhaßter, setzt sich selbst dem Scheine (Verdachte) aus, Täuscher (Betrüger, panourgon) zu sein. Ich bin darum den entgegengesetzten Weg gegangen und bekenne offen und leugne es nicht homologô, ein Sophist zu sein« (Protagoras führte zuerst den Namen Sophist), und daß mein Geschäft sei, »den Menschen Geistesbildung zu geben paideuein anthrôpous«, wie die anderen, Homer, Hesiod usf., es auch getan. (314-317)

Weiterhin sagt er: »Es ist verständig, was du fragst, und auf eine verständige Frage antworte ich gern.« Es ist nämlich nun näher davon die Rede, welchen Gegenstand, Inhalt, welche Geschicklichkeit Hippokrates durch Protagoras' Unterweisung erwerben werde. »Es soll ihm nicht begegnen, was ihm bei anderen Lehrern sophistôn begegnet sein würde. Denn diese sind den Jünglingen entgegen lôbôntai; denn sie führen dieselben wider ihren Willen gerade auf die Wissenschaften und Kenntnisse zurück, denen sie eben entgehen wollten, indem sie sie in Arithmetik, Astronomie, Geometrie und Musik unterweisen. Wer sich aber an mich wendet, wird nicht in etwas anderes eingeführt, als in den allgemeinen Zweck, wegen dessen er sich an mich wendete.« Die Jünglinge kamen also zu ihm unbefangen: »Wir möchten gebildete Menschen werden, unterweiset uns, macht uns dazu, – wie und wodurch ist eure Sache, ihr müßt dies verstehen.« Der Weg war dabei dem Lehrer überlassen. Das, worin Protagoras aber unterrichtete, erklärt er für das Eigentliche, was die Jünglinge suchen. »Die Unterweisung« to mathêma, sein Zweck und mein Zweck, »besteht nun[415] darin, die rechte Einsicht und Verständnis euboulia zu bewirken, sich über seine eigenen Familieninteressen peri tôn oikeiôn am besten zu beraten; und ebenso im Staatsleben, daß man am tüchtigsten werde phynatôtatos, teils sich über die Staatsangelegenheiten zu äußern, teils das Beste zu tun für den Staat.« So treten also hier diese zwei Interessen hervor, das der Individuen und das des Staats. Jetzt spricht Sokrates im allgemeinen ein und wundert sich besonders, daß Protagoras das letzte behauptet, daß er über Geschicklichkeit zu Staatsangelegenheiten Unterricht erteile: Er (Sokrates) habe dafür gehalten, die politische Tugend könne nicht gelehrt werden, – wie es überhaupt Sokrates' Hauptsatz ist, daß die Tugend nicht könne gelehrt werden. Und nun führt Sokrates dafür diese Rücksicht an, indem er sich in Weise der Sophisten auf die Erfahrung beruft: »Diejenigen Menschen, welche die politische Kunst innehaben, können sie nicht wohl auf andere übertragen. Perikles, der Vater dieser hier anwesenden Knaben, ließ sie in allem unterweisen, worin Lehrer unterweisen können; aber in der Wissenschaft, worin er groß ist, nicht; darin läßt er sie umherirren, ob sie etwa durch Zufall von selber auf diese Weisheit treffen würden. So auch andere große Staatsmänner haben sie anderen, Verwandten oder Fremden, nicht gelehrt.« (318-320)

Protagoras entgegnet nun darauf, daß sie gelehrt werden könne, und zeigt, warum große Staatsmänner andere nicht darin unterwiesen haben, indem er um die Erlaubnis bittet, »ob er als ein Älterer zu Jüngeren in einem Mythus sprechen oder ob er mit Vernunftgründen darüber sprechen soll«. Die Gesellschaft überläßt es ihm, und nun fängt er mit folgendem Mythus an, der unendlich merkwürdig ist: »Die Götter übertrugen dem Prometheus und Epimetheus, die Welt auszuschmücken, ihr Kräfte zu erteilen. Epimetheus verteilte Stärke, Vermögen zum Fliegen, Waffen, Bekleidung, Kräuter, Früchte; aber unverständi gerweise brauchte er alles an den Tieren auf, so daß für die Menschen nichts übrigblieb.[416] Prometheus sah sie unbekleidet, ohne Waffen, hilflos, da der Augenblick bevorstand, wo das Gebilde des Menschen ans Licht treten sollte. Da stahl er das Feuer vom Himmel, die Kunst des Vulkan und der Minerva, sie auszustatten für ihre Bedürfnisse. Aber es fehlte ihnen die politische Weisheit; und ohne gesellschaftliches Band lebend, sind sie in beständigen Streit und Unglück geraten. Da erteilte Zeus dem Hermes den Befehl, ihnen die schöne Scham« (aidô, Scheu, diesen natürlichen Gehorsam, Ehrfurcht, Folgsamkeit, Respekt der Kinder gegen die Eltern, der Menschen gegen höhere bessere Naturen) »und das Recht dikê zu verleihen. Hermes fragt: Wie soll ich sie verteilen? An Einzelne, wie die besonderen Künste, wie einige die Arzneiwissenschaft besitzend den anderen helfen? Zeus aber antwortet: allen; denn kein gesellschaftlicher Verein polis kann bestehen, wenn nur wenige jener Eigenschaften teilhaftig sind. Und es sei Gesetz, daß, wer nicht teilhaftig sein könne der Scheu und des Rechts, der als eine Krankheit des Staats ausgerottet werden müsse.« (320-322)

α) »Deswegen ziehen die Athenienser, wenn sie bauen wollen, Baumeister zu Rate, und wenn sie sonst besondere Geschäfte beabsichtigen, diejenigen, welche darin erfahren sind; wenn sie aber über Staatsangelegenheiten einen Beschluß und Anordnung fassen wollen, so lassen sie jeden zu. Denn entweder müssen alle dieser Tugend teilhaftig sein, oder kein Staat [kann] existieren. Wenn einer in der Kunst der Flöte unerfahren ist und sich doch für einen Meister darin ausgibt, so wird er mit Recht für wahnsinnig gehalten. In der Gerechtigkeit ist es aber anders: wenn einer nicht gerecht ist«, so wird er es nicht gestehen, oder »wenn er es gesteht, so wird er für unsinnig gehalten werden. Er müsse doch sich den Schein geben, es zu sein; denn entweder müsse jeder wirklich ihrer teilhaftig sein oder ausgetilgt werden aus der Gesellschaft.« So ist also angenommen, daß die politische Weisheit etwas sei, woran alle Anteil haben und haben müssen, damit der Staat bestehen könne. (322-323)[417]

β) Daß diese politische Wissenschaft auch dazu bestimmt ist, daß jeder durch Lehre und Bestreben sie sich erwerben könne didakton te kai ex epimeleias, dafür gibt er ferner diese Gründe an und sagt, er berufe sich darauf, daß kein Mensch tadele oder strafe wegen Mängel oder Übel, die einer durch die Natur oder den Zufall bekommen, sondern denselben bemitleide. Hingegen Mängel, die durch Fleiß, Gewohnheit (Übung), Studium gehoben werden können, würden für tadelnswert und strafbar gehalten; er habe Schuld daran. »Hierunter gehören Irreligiosität und Ungerechtigkeit, überhaupt alles, was der öffentlichen Tugend« dikê und aidôs »widerspricht. Den Menschen, die sich dieser Laster schuldig machen, wird dies zum Vorwurf gemacht, sie werden bestraft in dem Sinne, daß sie sie hätten entfernen und sich also vielmehr die politische Tugend durch Bildung, Erziehung hätten aneignen können.« Dies ist ein guter Grund. Auch den Zweck der Strafe führt Protagoras dafür an. »So strafen die Menschen nicht wegen des Vergangenen – außer wie wir ein böses Tier vor den Kopf schlagen –, sondern wegen des Künftigen: daß weder der Verbrecher noch ein anderer, durch sein Beispiel verführt, wieder fehle. Also liegt auch darin die Voraussetzung, daß jene Tugend durch Unterricht und Übung erworben werden könne.« (323-324)

γ) »Was nun ferner das anbetrifft, was Sokrates anführt, daß Männer wie Perikles, die durch ihre politische Tugend berühmt sind, diese ihren Kindern und Freunden nicht mitteilten«, so sagt Protagoras, es sei dagegen das zu sagen, αα) daß in diesen Tugenden alle von allen unterrichtet werden. »Die politische Tugend ist von der Beschaffenheit, daß sie allen zukommt; sie ist allen gemeinsam. Das eine allen Notwendige ist die Gerechtigkeit, Mäßigkeit sôphrosynê und Heiligkeit, – mit einem Worte das, was die Tugend eines Mannes überhaupt ist; und dies muß Eigentum jedes Bürgers sein, er muß sie sein ganzes Leben fort üben und lernen. Darin ist kein besonderer Unterricht von jenen berühmten[418] Männern. Die Kinder werden früh, vom zartesten Alter an, von ihren Eltern und Erziehern dazu gebildet und ermahnt, verwiesen, erzogen zur Sitte, zum Guten, und gewöhnt an das, was das Rechte ist. Aller Unterricht in Musik und Gymnastik (Kenntnisse, das Lesen von Dichtern, die dies einschärfen) trägt dazu bei, die Willkür und das Belieben nicht gewähren zu lassen, – sich daran zu gewöhnen, sich nach einem Gesetze, einer Regel zu richten. Wenn der Mensch nun aus diesem Kreise des Unterrichts tritt, so tritt er in den der Verfassung eines Staats; dieser trägt dazu bei, jeden in einem rechtlichen Verhalten, in Ordnung zu erhalten. Die politische Tugend ist so ein Resultat der Erziehung von Jugend auf.« (324-325)

ββ) Allein darin ganz ausgezeichnete, durch die Natur besonders begünstigte Menschen könne es nur wenige geben. Diejenigen jedoch, die sich auch nicht darin auszeichnen, seien im allgemeinen durch die Erziehung dieser politischen Tugenden teilhaftig und stehen sehr viel höher als die, welche diese Unterweisung nicht gehabt haben. Daß aber ausgezeichnete Männer ihre Auszeichnung Kindern und Freunden nicht mitgeteilt haben, diesen Einwurf beantwortet er sehr gut in folgender Art. »Wenn z.B. in einem Staate alle Bürger Flötenspieler sein müßten, so würden alle Unterricht darin erhalten; einige würden ausgezeichnet sein, viele gut, einige mittelmäßig, wenige vielleicht auch schlecht, – alle hätten eine gewisse Fertigkeit. Aber es könnte der Fall sein, daß der Sohn eines Virtuosen doch ein schlechter Spieler wäre; das Ausgezeichnete hängt von besonderen Talenten, Naturell ab. Aus sehr geschickten Flötenspielern würden wohl sehr ungeschickte werden können und umgekehrt; aber alle Bürger könnten ein Gewisses von Flötenspiel, und alle würden gewiß immer noch unendlich vortrefflicher darin sein als diejenigen, welche darin gänzlich unwissend wären und keinen Unterricht erhalten hätten. So sind alle, auch die schlechtesten Bürger eines vernünftigen Staats noch besser und gerechter verglichen mit denen, wo keine Bildung[419] ist, keine Gerichte, keine Gesetze, keine Nötigung, sie zum Recht zu bilden. Diese Vorzüglichkeit verdanken sie den Gesetzen, dem Unterricht, der Bildung in ihrem Staate.« (326-328) Dies sind auch alles ganz gute Instanzen und treffende Gründe, – gar nicht schlechter als Ciceros Räsonnement: a natura insitum. Die Gründe des Sokrates und die Ausführungen dieser Gründe dagegen sind empirische Instanzen, die sich auf Erfahrung basieren, – oft nicht besser, als was hier dem Sophisten in den Mund gegeben ist.

2. Die Frage ist nun näher: inwiefern kann dies als Mangelhaftes erscheinen und besonders inwiefern haben Sokrates und Platon sich in einen Kampf mit den Sophisten eingelassen und den Gegensatz gegen sie gemacht? Da die Stellung, die die Sophisten in Griechenland einnahmen, war, ihrem Volke eine höhere Bildung überhaupt gegeben zu haben, wodurch sie sich zwar ein großes Verdienst um Griechenland erworben, so trifft sie doch eben der Vorwurf, der überhaupt die Bildung trifft. Die Sophisten sind Meister im Räsonnement aus Gründen gewesen, stehen innerhalb der Stufe des reflektierenden Gedankens. Die Art und Weise dieser Bildung war, durch Vorstellungen und Beispiele die Aufmerksamkeit auf das zu erwecken, was dem Menschen nach seiner Erfahrung, Gemüt usf. das Rechte scheint, wobei vom Besonderen zum Allgemeinen übergegangen wird. Dies ist der notwendige Gang der freien, denkenden Reflexion; ihn hat die Bildung auch bei uns genommen. Diese Bildung mußte aber über das Vertrauen und den unbefangenen Glauben an die geltende Sitte und Religiosität hinausführen. Daß die Sophisten auf einseitige Prinzipien gefallen sind, dies hat zunächst den Zusammenhang darin, daß in der griechischen Bildung die Zeit noch nicht vorhanden war, daß aus dem denkenden Bewußtsein selbst die letzten Grundsätze aufgestellt wurden und so etwas Festes zugrunde lag wie bei uns in der modernen Zeit. Indem einerseits das Bedürfnis der subjektiven Freiheit vorhanden war, das nur gelten zu lassen, was man selbst einsieht, in seiner eigenen Vernunft[420] findet, Gesetze, religiöse Vorstellungen nur insofern, als ich es durch mein Denken anerkenne, – andererseits im Denken noch nicht festes Prinzip gefunden war, so war das Denken mehr räsonierend; das unbestimmt Gebliebene konnte so die Willkür erfüllen.

α) Anders ist es aber in unserer europäischen Welt, in welche die Bildung sich einführte, sozusagen unter dem Schutze und der Voraussetzung einer geistigen Religion, – d.h. nicht einer Religion der Phantasie, sondern unter der Voraussetzung der Kenntnis, des Wissens von der ewigen Natur des Geistes und des absoluten Endzwecks, der Bestimmung des Menschen, daß diese sei, als geistig, wirklich zu sein, vom Geist aus auf geistige Weise sich zu bestimmen, sich in Einheit mit dem Geist zu setzen. So lag hier ein festes geistiges Prinzip zugrunde, das so das Bedürfnis des subjektiven Geistes befriedigt; von diesem absoluten Prinzip aus bestimmten sich alle weiteren Verhältnisse wie Pflichten, Gesetze usf. und sind davon abhängig. So mußte die Bildung nicht diese Vielseitigkeit der Richtung, also nicht die Richtungslosigkeit erhalten können wie bei den Griechen und denen, die die Bildung in Griechenland ausgebreitet hatten, den Sophisten. Gegen die Religion der Phantasie, gegen dies unentwickelte Prinzip des Staats konnte die Bildung sich in so viele Gesichtspunkte zersplittern; oder es war leicht, daß partikuläre untergeordnete Gesichtspunkte als höchste Prinzipien aufgestellt wurden. Wo (da uns) dagegen ein so hohes allgemeines Ziel (höchstes Prinzip) schon vor der Vorstellung schwebt, kann nicht so leicht ein partikuläres Prinzip zu diesem Range kommen, wenn auch die Vernunftreflexion die Stellung gewinnt, aus sich das Höchste zu bestimmen und zu erkennen; und die Unterordnung der Prinzipien ist damit schon festgestellt. Protagoras nachher (349) behauptet: »Alle vier Tugenden haben eine Verwandtschaft miteinander, die Tapferkeit nicht, weil viele Tapfere gefunden werden, die doch die Irreligiösesten, Ungerechtesten, Unmäßigsten und Ungebildetsten amathestatoi sind;« man braucht sich nur[421] an eine Räuberbande zu erinnern. Sokrates (360) führt es darauf hinaus, daß auch die Tapferkeit ein Wissen und Erkennen sei, – richtige Schätzung dessen, was zu fürchten sei. Aber der Unterschied, die Eigentümlichkeit der Tapferkeit ist nicht entwickelt.

β) Zugleich, was nun die Form anbetrifft – selbst dem Inhalte nach –, steht unsere Bildung, Aufklärung ganz auf demselben Standpunkt, als sie bei den Sophisten war. Ihr Standpunkt ist im Gegensatz gegen Sokrates und Platon der, daß bei Sokrates dies aufging, daß er das Schöne, Gute, Wahre, Rechte als Zweck, Bestimmung des Individuums aussprach, die ser Inhalt aber bei den Sophisten noch als letzter Zweck fehlte, daher dieser der Willkür überlassen war. Daher der üble Ruf, in den die Sophisten durch den Gegensatz von Platon gekommen sind; das ist auch ihr Mangel. Äußerlich wissen wir, die Sophisten haben große Reichtümer gesammelt; sie sind sehr stolz gewesen, sind in Griechenland herumgereist, haben zum Teil sehr üppig gelebt. Das räsonierende Denken hat im Gegensatze von Platon vorzüglich dies Bezeichnende, daß die Pflicht, das zu Tuende nicht aus dem an und für sich seienden Begriffe der Sache genommen wird; sondern es sind äußerliche Gründe, wodurch über Recht und Unrecht, Nützlichkeit und Schädlichkeit entschieden wird. Bei Platon und Sokrates ist dagegen der Hauptsatz, daß die Natur des Verhältnisses betrachtet, der Begriff der Sache an und für sich entwickelt werde. Diesen Begriff wollten Sokrates und Platon der Betrachtung aus Gesichtspunkten und Gründen entgegensetzen; diese sind immer das Besondere und Einzelne und setzen sich so selbst dem Begriffe entgegen. Der Unterschied ist, daß den Sophisten das gebildete Räsonnement überhaupt angehört, während Sokrates und Platon den Gedanken durch ein Festes – allgemeine Bestimmung (platonische Idee) – bestimmten, was der Geist ewig in sich findet.[422]

Die Sophisterei ist so schlimm, in dem Sinne, als ob dies Eigentümlichkeit sei, der sich nur schlechte Menschen schuldig machen. Die Sophistik ist so aber viel allgemeiner; es ist alles Räsonieren aus Gründen – das Geltendmachen solcher Gesichtspunkte, das Anbringen von Gründen und Gegengründen – Sophistik. Es kommen Äußerungen von Sophisten vor, worüber sich nichts sagen läßt, z.B. bei Platon. So sagt man bei uns wohl: Betrüge nicht, damit du nicht Kredit und dadurch Geld verlierst; oder: Sei mäßig, sonst verdirbst du dir den Magen, mußt entbehren; oder bei der Strafe nimmt man äußerliche Gründe: Besserung usf.; oder man entschuldigt durch äußerliche Gründe die Handlung, welche aus Folgen usw. genommen sind. Die Menschen sind so zu allem Guten aufgefordert durch Gründe, welche Gründe der Sophisten sind. Liegen feste Grundsätze zugrunde, so in der christlichen Religion (jetzt bei den Protestanten weiß man es auch nicht mehr), so sagt man, die Gnade Gottes in Beziehung auf die Seligkeit usw. richtet das Leben der Menschen so ein; da fallen äußerliche Gründe weg.

Die Sophistik liegt uns also nicht so entfernt, als man denkt. Wenn jetzt gebildete Menschen über Gegenstände sprechen, so kann dies sehr gut sein; aber es ist nichts anderes, als was Sokrates und Platon Sophistik genannt haben, obgleich sie selbst so gut auf diesem Standpunkt gestanden haben als die Sophisten. Gebildete Männer verfallen darein bei Beurteilung konkreter Fälle; im gemeinen Leben müssen wir uns daran halten. Was ist hier besser? – Die besonderen Gesichtspunkte nezessitieren. Wenn man Pflichten und Tugenden rekommandiert, z.B. in Predigten, wie dies in den meisten Predigten geschieht, so muß man solche Gründe hören! Redner im Parlamente z.B. gebrauchen solche Gründe und Gegengründe, durch die sie zu überreden, zu überzeugen suchen. Es handelt sich a) um ein ganz Festes, Verfassung z.B. oder Krieg, festgemachte Richtung (Konsequenz), besondere Maßregeln darunter zu subsumieren; b) aber mit[423] der Konsequenz geht es, selbst hierin, bald aus: die Sache läßt sich so oder so machen, und immer sind es besondere Gesichtspunkte, welche entscheiden. Man gebraucht dergleichen Gründe auch wohl gegen die Philosophie: »Es gebe verschiedene Philosophien, verschiedene Meinungen, dies widerspreche der einen Wahrheit; die Schwäche der menschlichen Vernunft gestatte kein Erkennen; was solle Philosophie für das Gefühl, Gemüt, Herz; es seien abstruse Dinge, für das Praktische des Menschen helfe das abstrakte Denken der Philosophie nichts«, – der Gesichtspunkt des Praktischen. Dies sind so gute Gründe, und es ist die Weise der Sophisten. Wir nennen es nicht Sophistik, aber es ist die Manier der Sophisten, aus Gründen zu deduzieren, die man aus seinem Gefühl, Gemüte usf. gelten läßt. Nicht die Sache selbst, als solche, wird geltend gemacht, sondern auf Empfindungen wird sich bezogen; diese sind das hou heneka. Das werden wir noch näher bei Sokrates und Platon sehen. Dies ist der Charakter der Sophisten.

Bei solchem Räsonnement kann man bald so weit kommen – wo nicht, so ist es Mangel der Bildung; die Sophisten waren aber sehr gebildet –, zu wissen, daß, wenn es auf Gründe ankommt, man durch Gründe alles beweisen könne, sich für alles Gründe und Gegengründe finden lassen; und das ist als das Verbrechen der Sophisten angesehen worden, daß sie gelehrt haben, alles zu beweisen, was man wolle, für andere oder für sich. Das liegt nicht in der Eigentümlichkeit der Sophisten, sondern des reflektierenden Räsonnements. Gründe und Gegengründe, als Besonderes, gelten nicht gegen das Allgemeine, entscheiden nicht gegen den Begriff; man kann für alles Gründe und Gegengründe finden. In der schlechtesten Handlung liegt ein Gesichtspunkt, der an sich wesentlich ist; hebt man diesen heraus, so entschuldigt und verteidigt man die Handlung. In dem Verbrechen der Desertion im Kriege liegt so die Pflicht, sein Leben zu erhalten. So sind in neuerer Zeit die größten Verbrechen, Meuchelmord, Verrat usf., gerechtfertigt worden, weil in der Meinung,[424] Absicht eine Bestimmung lag, die für sich wesentlich war, z.B. die, daß man sich dem Bösen widersetzen, das Gute fördern müsse. Der gebildete Mensch weiß alles unter den Gesichtspunkt des Guten zu bringen, alles gut zu machen, an allem einen wesentlichen Gesichtspunkt geltend zu machen. Es muß einer nicht weit gekommen sein in seiner Bildung, wenn er nicht für das Schlechteste gute Gründe hätte; was in der Welt seit Adam Böses geschehen ist, ist durch gute Gründe gerechtfertigt.

Das kommt nun noch bei den Sophisten vor, daß sie ein Bewußtsein über dieses Räsonieren hatten. In der Beredsamkeit muß man so Zorn, Leidenschaft der Hörer in Anspruch nehmen, um etwas zustande zu bringen. Sie lehrten nun, wie diese Mächte im empirischen Menschen zu bewegen wären; das sittliche feste Gute entscheidet nicht. Die Sophisten als gebildete Leute hatten das Bewußtsein, daß alles zu beweisen sei; so im Gorgias: Die Kunst der Sophisten sei ein größeres Gut als alle Künste; sie könne dem Volke, dem Senat, den Richtern überreden, was sie wolle. (452, 457) Der Advokat hat so auch zu suchen, was für Gründe es für die Partei gebe, wenn sie auch die entgegengesetzte derjenigen ist, welcher er sich annehmen wollte. Dieses Bewußtsein ist nicht Mangel, sondern gehört ihrer höheren Bildung zu. Ungebildete Menschen bestimmen sich aus Gründen. Im ganzen sind sie aber vielleicht durch etwas anderes bestimmt (Rechtlichkeit), als sie wissen; zum Bewußtsein kom men nur die äußeren Gründe. Die Sophisten wußten, auf diesem Boden gebe es nichts Festes; das ist die Macht des Gedankens, er behandelt alles dialektisch, macht es wankend. Das ist formelle Bildung, die sie hatten und beibrachten.

Damit hängt dies zusammen (und die Natur des Denkens bringt es mit sich): Ist das Feld der Gründe, das, was dem Bewußtsein als fest gilt, durch die Reflexion wankend gemacht, so muß man doch ein Festes haben. Was soll man nun zum letzten Zweck machen? Da gibt es nun zweierlei Festes, das verbunden werden kann. Das eine ist das Gute,[425] Allgemeine; das andere ist die Einzelheit, Willkür des Subjekts. Dies (vom ersten) später noch näher bei Sokrates. Macht man alles wankend, so kann dies der feste Punkt werden: »Es ist meine Lust, Eitelkeit, Ruhm, Ehre, besondere Subjektivität, welche ich mir zum Zwecke mache«; das Individuum ist sich selbst die letzte Befriedigung. Indem ich die Macht kenne, weiß ich auch die anderen meinem Zwecke gemäß zu bestimmen.

Die Bekanntschaft mit so vielfachen Gesichtspunkten macht aber das, was Sitte war in Griechenland (diese bewußtlos ausgeübte Religion, Pflichten, Gesetze), dadurch wankend, daß dies Feste – die Gesetze, indem sie einen beschränkten Inhalt haben – mit anderem in Kollision kommt; es gilt einmal als das Höchste, Entscheidende, das andere Mal wird es zurückgesetzt. Das gewöhnliche Bewußtsein wird dadurch verwirrt (wir werden dies bei Sokrates selbst ausführlicher sehen): etwas gilt ihm für fest, andere Gesichtspunkte, die auch in ihm sind, werden geltend gemacht, es muß sie gelten lassen; und so gilt das erste nicht mehr oder verliert wenigstens von seiner Absolutheit. So ist a) die Tapferkeit dies, sein Leben daran zu wagen; b) die Pflicht, sein Leben zu erhalten, eine unbedingte. So behauptet Dionysiodor: »Wer einen, der die Wissenschaft nicht besitzt, zum Gebildeten macht, will, daß er nicht mehr bleibe, was er ist. Er will ihn also zugrunde richten; denn dies ist machen, daß er dies nicht ist, was er ist.« Und Euthydemos, als die anderen sagen, er lüge, antwortet: »Wer lügt, sagt, was nicht ist; was nicht ist, kann man nicht sagen; also kann niemand lügen.« Und wiederum Dionysiodor sagt: »Du hast einen Hund, dieser Hund hat Junge, und er ist ihr Vater; also ist dir ein Hund Vater und du der jungen Hunde Bruder.« Solche Konsequenzenmacherei findet sich – in Rezensionen – unzählige Male.

Es ist also (wegen dieser Konfusion im gewöhnlichen Bewußtsein)[426] den Sophisten vorgeworfen worden, sie hätten den Leidenschaften, Privatinteressen usf. Vorschub getan. Dies fließt unmittelbar aus der Natur der Bildung. Diese gibt verschiedene Gesichtspunkte an die Hand, und welcher entscheiden soll, ist eben damit allein in das Belieben des Subjekts gestellt, wenn es nicht von festen Grundlagen ausgeht; darin liegt das Gefährliche. Dies findet auch in der heutigen Welt statt, wo es auf die gute Absicht, auf meine Ansicht, Überzeugung ankommen soll, wenn es sich um das Rechte, Wahre einer Tat handelt. Was Staatszweck, die beste Weise der Staatsverwaltung und Staatsverfassung, ist – ohnehin in Demagogen – schwankend.

Wegen der formellen Bildung gehören die Sophisten zur Philosophie, wegen ihrer Reflexion ebenso auch nicht. Sie haben den Zusammenhang mit der Philosophie, daß sie nicht beim konkreten Räsonieren stehenblieben, sondern bis zu den letzten Bestimmungen fortgingen, wenigstens zum Teil. Eine Hauptseite ihrer Bildung war die Verallgemeinerung der eleatischen Denkweise und die Ausdehnung derselben auf allen Inhalt des Wissens und des Handelns, das Positive kommt hinein als und ist gewesen die Nützlichkeit.

Auf das Einzelne, Besondere der Sophisten einzugehen, würde uns zu weit führen; besondere Sophisten gehören in die allgemeine Geschichte der Bildung. Der berühmten Sophisten sind sehr viele; unter diesen sind Protagoras, Gorgias, auch Prodikos, der Lehrer des Sokrates, die berühmtesten, welchem letzteren Sokrates den bekannten Mythus von Herkules am Scheidewege zuschreibt, – eine in ihrer Weise schöne Allegorie, die hundert und tausend Male wiederholt worden. Ich will (um nun zu einzelnen Sophisten überzugehen) Protagoras und Gorgias herausheben, nicht nach der Seite der Bildung, – besonders in der Rücksicht, um näher nachzuweisen, wie ihre allgemeine Wissenschaft, die sich[427] auf alles ausbreitete, bei einem von ihnen die allgemeine Form hat, wodurch sie reine Wissenschaft ist. Die Hauptquelle, sie kennenzulernen, ist besonders Platon, der sich viel mit ihnen zu tun machte; alsdann Aristoteles' eigene kleine Schrift über Gorgias, und Sextus Empirikus, der uns viel von der Philosophie des Protagoras aufbewahrt hat.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 18, Frankfurt am Main 1979, S. 406-428.
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