B. Philosophie des Epikur

[297] Ebenso ausgedehnt oder noch ausgedehnter war die epikureische Philosophie. Denn als die politische Existenz und die sittliche Wirklichkeit Griechenlands untergegangen und später auch die römische Kaiserwelt von der Gegenwart nicht befriedigt war, zog sie sich in sich selbst zurück und suchte dort das Rechte und Sittliche, was im allgemeinen Leben nicht mehr vorhanden war. Epikurs Philosophie macht das Gegenstück zum Stoizismus, der das Sein als Gedachtes – den Begriff – als das Wahre setzte; Epikur das Sein nicht als Sein überhaupt, sondern als Empfundenes, das Bewußt sein in der Form der Einzelheit als das Wesen, – Aufnahme des Kyrenaismus in größere Wissenschaftlichkeit. Inzwischen erhellt schon von selbst, wenn das empfundene Sein als das Wahre gilt, daß damit überhaupt die Notwendigkeit des Begriffs aufgehoben wird, alles auseinanderfällt ohne spekulatives Interesse und vielmehr die gemeine Ansicht der Dinge behauptet wird; in der Tat geht's nicht über die Ansicht des gemeinen Menschenverstandes hinaus, oder vielmehr alles ist herabgesetzt zum gemeinen Menschenverstand. Was früher als besondere Schulen erschien, kynische und kyrenaische, ging die erste in die stoische, die andere in die epikureische über: Kynismus und Kyrenaismus in Wissenschaft gebracht. Die Kyniker sagten auch, der Mensch müsse sich auf die einfache Natur einschränken; dieses suchten sie in den Bedürfnissen. Die Stoiker setzten dies aber in die allgemeine Vernunft; sie haben das kynische Prinzip zum Gedanken erhoben. Ebenso hat Epikur das Prinzip, daß das Vergnügen Zweck sei, in den Gedanken erhoben: Lust ist durch den Gedanken zu suchen, in einem Allgemeinen, welches durch den Gedanken bestimmt ist. Wenn bei der stoischen Philosophie das Denken des Logos, des Allgemeinen, das Festhalten daran das Prinzip war, so ist hier das Entgegengesetzte, nämlich die Empfindung, das unmittelbar Einzelne das Prinzip. Bei der Betrachtung dieser Philosophie müssen[297] wir aber alle gewöhnlichen Vorstellungen von Epikureismus ablegen.

Leben: Der Stifter desselben, Epikur, wurde Ol. 109, 3 (342 v. Chr.) geboren, also vor Aristoteles' Tode (Ol. 114, 3). Er ist aus dem Dorfe Gargettos im atheniensischen Gebiete. Seine Gegner, besonders die Stoiker, haben ihm eine unsägliche Menge schlechter Sachen nachgesagt, kleinlicher Anekdoten über ihn erdichtet. Er hatte arme Eltern; sein Vater Neokles war Dorfschulmeister, seine Mutter Chairestrata eine Hexe, d.h. die sich wie die thrakischen und thessalischen Frauen mit Beschwörungs- und Bezauberungsformeln, welches damals ganz allgemein war, Geld verdiente. Sein Vater – und damit auch Epikur – zog mit einer atheniensischen Kolonie nach Samos, mußte jedoch auch hier, weil sein Stück Land zu der Ernährung seiner Familie nicht hinreichte, Kindern Unterricht geben. In einem Alter von 18 Jahren, ungefähr zu der Zeit, als Aristoteles gerade in Chalkis lebte, kehrte Epikur wieder nach Athen zurück. Wie schon in Samos, so jetzt noch mehr in Athen studierte er besonders Demokrits Philosophie und hat außerdem mit verschiedenen der damaligen Philosophen, Xenokrates, dem Platoniker, und Theophrast, Aristoteles' Schüler, Umgang gehabt. Epikur, zwölf Jahre alt, las mit seinem Lehrer den Hesiod vom Chaos, woraus alles ausgegangen. Sonst hat er sich auch einen autodidaktos genannt, in dem Sinne, daß er seine Philosophie ganz aus sich selber produziert habe; aber weder ist gerade damit nicht zu meinen, daß er nicht bei anderen Philosophen gehört, noch anderer Schriften studiert hat. Es kann auch nicht so verstanden werden, daß er in seiner Philosophie in Ansehung des Inhalts ganz originell gewesen; denn, wie später erinnert werden wird, so ist besonders seine physische Philosophie die Leukipps und Demokrits. Er trat zuerst als Lehrer einer eigenen Philosophie[298] auf Lesbos in Mytilene und dann in Lampsakos in Kleinasien auf, aber ohne eben viele Zuhörer, trieb sich da mehrere Jahre herum. Nachher kehrte er aber etwa im 36. Jahre sei nes Alters nach Athen, in den eigentlichen Mittelpunkt der Philosophie, zurück, kaufte sich da nach einiger Zeit einen Garten, wo er lebte unter seinen Freunden, und dozierte daselbst. Er lebte, bei einem schwächlichen Körper, der ihm mehrere Jahre nicht erlaubte, vom Sessel aufzustehen, durchaus regelmäßig und höchst frugal und ganz ohne weitere Geschäfte den Wissenschaften. Sogar Cicero, der fade von ihm spricht, gibt ihm doch das Zeugnis, daß er ein warmer Freund gewesen; daß niemand leugnen könne, er sei ein guter, freundlicher, menschenliebender, milder (bonum, comem et humanum) Mann gewesen. Diogenes Laertios rühmt insbesondere seine Milde, Verehrung seiner Eltern, Freigebigkeit gegen seine Brüder und Menschenfreundlichkeit gegen alle. Er starb im 71. Jahre seines Alters an Steinbeschwerden; er ließ sich vorher in ein warmes Bad bringen, trank einen Becher Weins und empfahl seinen Freunden, seiner Lehren eingedenk zu sein.

Und kein Lehrer hat bei seinen Schülern soviel Liebe und Verehrung erhalten als Epikur. Sie lebten in solcher Innigkeit, daß sie den Vorsatz faßten, ihr Vermögen zusammenzulegen und so in einer bleibenden Gesellschaft, wie einer Art von pythagoreischem Bunde, fortzudauern. Jedoch verbot ihnen dies Epikur selbst, weil dies selbst schon ein Mißtrauen auf Bereitwilligkeit verrate, unter solchen aber, die sich mißtrauen können, keine Freundschaft, Einigkeit, treue Anhänglichkeit stattfände. – Nach seinem Tode wurde er von seinen Schülern in sehr geehrtem Andenken erhalten; sie führten sein Bildnis überall in Ringen, auf Bechern gegraben und blieben überhaupt seinen Lehren so getreu, daß es bei ihnen für eine Art von Vergehen galt, daran etwas zu[299] ändern (in der stoischen Philosophie ist dagegen fortgearbeitet worden), und seine Schule einem festen geschlossenen Staate in Ansehung der Lehre glich. Warum, davon liegt der Grund, wie wir sehen werden, in seinem Systeme. Daher denn auch weiter in wissenschaftlicher Rücksicht keine berühmten Schüler desselben angeführt werden können; seine Philosophie hat keinen Fortgang und keine Entwicklung, freilich auch keine Entartung gehabt. Es wird zum Lobe der epikureischen Philosophie nachgesagt, daß nur ein einziger der Schüler Epikurs, Metrodor, zum Karneades übergegangen; sonst habe sie, durch ununterbrochene Nachfolge von Lehre und Dauer, alle übertroffen, da die übrigen ausgingen und unterbrochen wurden. Und als Karneades auf diese Anhänglichkeit an Epikur aufmerksam gemacht wurde, sagte er: »Ein Mann kann wohl zum Eunuchen, aber ein Eunoch nie wieder zum Manne werden.« Epikur hat keine berühmten Schüler gehabt, die die Lehre eigentümlicher behandelten und ausführten; nur ein gewisser Metrodoros soll einige Seiten weiter ausgeführt haben.

Epikur selbst schrieb während seines Lebens eine unsägliche Menge Schriften, so daß er, wenn bei Chrysipp abgerechnet wurde, was er aus anderen oder sich selbst kompiliert, ein viel fruchtbarerer Schriftsteller gewesen. Die Anzahl seiner Schriften soll sich auf 300 belaufen haben (Chrysipp schrieb eigentlich in Rücksicht auf Epikur mit ihm um die Wette); diese haben wir nicht, schwerlich ist ihr Verlust sehr zu bedauern. Gottlob, daß sie nicht mehr vorhanden sind! Die Philologen würden große Mühe damit haben.

Diogenes Laertios (Buch X) ist Hauptquelle, aber schal genug; besser war's bei Epikur selbst, doch kennen wir genug von ihm, um das Ganze zu würdigen. Vor einigen Jahren ist ein Fragment einer seiner Schriften in Herculanum zum Vorschein gekommen und abgedruckt worden (Epicuri Fragmenta[300] libri II et XI de natura, Leipzig 1818; Nachdruck der neapolitanischen Ausgabe); aber es ist nicht viel daraus zu lernen und nur zu deprezieren, daß nicht alle [erhalten sind]. Von der Philosophie Epikurs ist uns durch Cicero, Sextus Empiricus, Seneca und Diogenes Laertios, der darüber sehr weitläufig ist in einem ganzen Buche, hinlänglich viel bekannt, und so gute Darstellungen, daß uns die in Herculanum aufgefundene, von Orelli nachgedruckte Schrift Epikurs selbst keine neuen Aufschlüsse und Bereicherungen gegeben hat.

Was nun die epikureische Philosophie betrifft, so ist sie in der Tat nicht als die Behauptung eines Systems der Begriffe, sondern im Gegensatze dagegen des Vorstellens anzusehen, – des sinnlichen Seins, als sinnliches Sein aufgenommen, der gewöhnlichen Weise des Anschauens. Im Gegensatze zu der stoischen Philosophie hat Epikur das sinnliche Sein, die Empfindung zur Grundlage und Richtschnur der Wahrheit gemacht. Die nähere Bestimmung, wie sie dieses sei, hat er in seiner sogenannten Kanonik angegeben. Wie bei den Stoikern haben wir zuerst davon zu sprechen, wie Epikur das Kriterium der Wahrheit bestimme hat; das zweite ist seine Naturphilosophie; und das dritte endlich seine Moral.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 19, Frankfurt am Main 1979, S. 297-301.
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