A. Philosophie der Medabberim

[517] Wir können von den Arabern sagen: Ihre Philosophie macht nicht eine eigentümliche Stufe in der Ausbildung der Philosophie;[517] sie haben das Prinzip der Philosophie nicht weitergebracht. Hauptfragen in dieser wie in der späteren Philosophie sind diese gewesen: ob die Welt ewig ist; dann die Einheit Gottes zu beweisen. Eine Hauptrücksicht war dabei aber, die mohammedanischen Lehren zu verteidigen, wodurch das Philosophieren innerhalb derselben eingeschränkt wurde; die Araber sind wie die abendländischen Christen durch die Dogmen der Kirche (wenn man es so nennen kann) beschränkt worden, sowenig sie hatten, – doch freier. Aber nach allem, was wir von ihnen kennen, haben sie keinen wahrhaften Fortschritt im Prinzip gemacht; sie haben kein höheres Prinzip der sich bewußten Vernunft aufgestellt. Sie haben kein anderes Prinzip als das der Offenbarung, – ein äußerliches. Von Moses Maimonides werden insbesondere als eine weitverbreitete und ausgezeichnete philosophische Schule oder Sekte die Medabberim angeführt; er spricht von der Eigentümlichkeit ihres Philosophierens etwa folgendermaßen:

»Die Ismaeliten haben aber ihre Reden noch ausgedehnt und nach anderen wundervollen Lehren getrachtet, wovon keiner der griechischen Redenden irgend etwas gewußt, weil diese noch in einigem mit den Philosophen übereinkamen. – Die Hauptsache ist, daß alle Redenden, sowohl aus den Griechen, welche Christen geworden sind, als die Ismaeliten, in Erbauung ihrer Prinzipien nicht der Natur der Sache selbst gefolgt sind oder aus ihr geschöpft haben, sondern nur darauf gesehen haben, wie die Sache beschaffen sein müsse, um ihre Behauptung zu unterstützen oder wenigstens nicht aufzuheben; und hinterher haben sie dann kühnlich versichert, so verhalte sich die Sache selbst, und haben anderweitige Gründe und Grundsätze dafür herbeigeholt«, die sie aus dem geholt haben, was für sie Zweck war. – »Nur das behaupteten sie, was, wenn auch aufs entfernteste, wenn auch durch hundert Konsequenzen, ihrer Meinung beistimmte. – So haben es die ersten Gelehrten gemacht, versichernd, daß sie durch die Spekulation allein zu solchen Gedanken ohne Rücksicht auf eine vorausgesetzte Meinung[518] gekommen seien. Die Folgenden taten dies nicht«, usf. Bei Christen und Ismaeliten war also dasselbe Bedürfnis, die Philosophen zu widerlegen.

In der reinen Philosophie der sogenannten Redenden sprach sich die dem morgenländischen Geiste eigentümliche Auflösung des bestimmten Denkens in ihrer ganzen Konsequenz als Auflösung alles Zusammenhanges und Verhältnisses aus. Maimonides sagt: »Das Hauptfundament der Medabberim ist, man könne keine gewisse Erkenntnis von den Dingen haben, daß sie sich so oder so verhalten, weil im Verstande das Gegenteil immer sein und gedacht werden könne. Überdem verwechseln sie in den meisten Orten die Imagination und Phantasie mit dem Verstande und geben jener den Namen von diesem.«

In ihnen ist das morgenländische Prinzip auf eigentümliche Weise zu erkennen: »Sie haben zum Prinzip die Atome und den leeren Raum angenommen«, wo dann alle Verbindung als ein Zufälliges erscheint. Die Erzeugung sei nichts anderes als eine Verbindung von Atomen und das Vergehen nichts anderes als eine Trennung derselben. Und die Zeit bestehe aus vielen Jetzt. Nur das Atom ist so. Sie haben so bei höherer Gedankenbildung den Hauptstandpunkt, der es noch für die Orientalen ist, die Substanz, die eine Substanz zum Bewußtsein gebracht. Dieser Pantheismus, wenn man will Spinozismus, ist so der Standpunkt, die allgemeine Ansicht der orientalischen Dichter, Geschichtsschreiber und Philosophen. Ferner sagen die Medabberim: Die Substanzen, d.h. die Individuen, die übrigens von Gott erschaffen, haben viele Akzidenzen, wie im Schnee jedes Teilchen weiß ist. Kein Akzidenz aber könne zwei Momente (per duo momenta) dauern; wie es entstehe, so gehe es wieder unter, und Gott schaffe an seiner Stelle immer ein anderes. Alle Bestimmungen seien schlechthin vorübergehend, untergehend;[519] nur das Individuum ist das Bestehende. Wenn es ihm gefalle, ein anderes Akzidenz in einer Substanz zu erschaffen, so dauert sie; wenn er aber aufhört zu erschaffen, so gehe die Substanz unter. Er hätte es auch anders machen können; aller notwendige Zusammenhang ist aufgehoben, so daß die Natur keinen Sinn hat. »Sie leugnen also, daß von Natur etwas existiere, ingleichen daß die Natur dieses oder jenes Körpers es mit sich bringe, diese viel mehr als andere Akzidenzen zu haben. Sondern sie sagen: Gott schaffe alle Akzidenzen im Augenblicke, ohne natürliche Mittel und ohne Beihilfe anderer Dinge.« Das Beharren, das allgemeine Beharren ist die Substanz, und das Besondere ist ohne Notwendigkeit, ist bloß veränderlich, wird jeden Augenblick verändert und so gesetzt von der Substanz.

»Nach diesem Satze sagen sie z.B., daß wir keineswegs ein rotes Kleid, das wir mit der roten Farbe gefärbt zu haben meinen, gefärbt haben; sondern Gott habe in dem Augenblicke die rote Farbe in dem Kleide geschaffen, in dem wir es mit der roten Farbe zu verbinden geglaubt. Gott beobachte diese Gewohnheit, daß die schwarze Farbe nicht hervorkomme, außer wenn das Kleid mit einer solchen Farbe gefärbt werde; und die erste, die bei der Verbindung entstanden, bleibe nicht, sondern sie verschwinde im ersten Momente, und es erscheine in jedem Momente eine andere, die wieder geschaffen werde. – Ebenso ist auch die Wissenschaft ein Akzidenz, das in jedem Augenblick, da ich etwas weiß, von Gott geschaffen wird; wir besitzen heute die Wissenschaft nicht mehr, die wir gestern besaßen. Der Mensch bewege die Feder nicht, wenn er sie zu bewegen meint«, wenn wir schreiben, »sondern die Bewegung sei ein Akzidenz der Feder, geschaffen von Gott in diesem Augenblick.« So ist wahrhaft Gott allein die wirkende Ursache.[520]

»Achte Proposition: Es ist nichts als Substanz und Akzidenz, und die natürlichen Formen sind selbst Akzidenzen; nur die Substanzen sind Individuen. – Neunte Proposition: Die Akzidenzen halten einander nicht, sie haben keinen Kausalzusammenhang oder sonstiges Verhältnis; in jeder Substanz können alle Akzidenzen existieren. – Die zehnte Proposition ist der Übergang, transitus ([...], possibilitas).« Der transitus des Gedankens ist vollkommen zufällig. »Alles, was wir uns einbilden können, könne auch in den Verstand übergehen, d. i. sei möglich. Auf diese Weise ist aber alles möglich«, da die Gesetze des Verstandes nicht sind. »Ein Mensch so groß wie ein Berg, ein Floh wie ein Elefant sei möglich. Es könne jegliches ebensogut anders sein, als es ist; und es sei gar kein Grund vorhanden, warum jede Sache viel mehr so sei oder sein solle als anders. Sie nennen's eine bloße Gewohnheit, daß die Erde sich um einen Mittelpunkt, das Feuer nach oben bewege, daß das Feuer heiß sei; es sei ebensogut möglich, daß das Feuer friere.« Wir sehen so vollkommenen Unbestand von allem; dieser Taumel von allem ist echt orientalisch.

Das ist nun allerdings eine vollkommene Auflösung alles Zusammenhangs (von Ursache und Wirkung usf.), alles dessen, was zur Vernünftigkeit gehört, – in Einklang mit der morgenländischen Erhabenheit, an nichts Bestimmtem zu halten. Gott ist in sich das vollkommen Unbestimmte; und seine Tätigkeit ist Schaffen von Akzidenzen, die wieder verschwinden und an deren Stelle andere treten. Die Tätigkeit ist ganz abstrakt, und das durch sie Gesetzte, Besondere ist daher vollkommen zufällig, – oder es ist notwendig; aber das Wort »notwendig« ist leer, es ist nicht begriffen, und es soll auch dazu kein Versuch gemacht werden. Die Tätigkeit Gottes ist so als vollkommen unvernünftig vorgestellt. Diese abstrakte Negativität, mit dem verharrenden Einen verbunden, ist so ein Grundbegriff der orientalischen Vorstellungsweise.[521] Die orientalischen Dichter sind vornehmlich Pantheisten; es ist ihre gewöhnlichste Anschauungsweise. Die Araber haben so die Wissenschaften, die Philosophie ausgebildet, ohne die konkrete Idee wei terzubestimmen; das Letzte ist vielmehr das Auflösen aller Bestimmung in dieser Substanz, mit der nur die Veränderlichkeit als abstraktes Moment der Negativität verbunden ist.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 19, Frankfurt am Main 1979, S. 517-522.
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