c. Das disjunktive Urteil

[339] Im kategorischen Urteil ist der Begriff als objektive Allgemeinheit und eine äußerliche Einzelheit. Im hypothetischen tritt an dieser Äußerlichkeit der Begriff in seiner negativen Identität hervor; durch diese erhalten sie [sc. seine Momente] die nun im disjunktiven Urteile gesetzte Bestimmtheit, welche sie im ersteren unmittelbar haben. Das disjunktive Urteil ist daher die objektive Allgemeinheit zugleich in der Vereinigung mit der Form gesetzt. Es enthält also erstens die konkrete Allgemeinheit oder die Gattung in einfacher Form als das Subjekt; zweitens dieselbe, aber als Totalität ihrer unterschiedenen Bestimmungen. A ist entweder B oder C. Dies ist die Notwendigkeit des Begriffs, worin erstens die Dieselbigkeit beider Extreme einerlei Umfang, Inhalt und Allgemeinheit ist; zweitens sind sie nach der Form der Begriffsbestimmungen unterschieden, so daß aber um jener Identität willen diese als bloße Form ist. Drittens erscheint die identische objektive Allgemeinheit deswegen als das in sich Reflektierte gegen die unwesentliche Form, als Inhalt, der aber an ihm selbst die Bestimmtheit der Form hat; das eine Mal als die einfache Bestimmtheit der Gattung, das andere Mal eben diese Bestimmtheit als in ihren Unterschied entwickelt, – auf welche Weise sie die Besonderheit der Arten und deren Totalität, die Allgemeinheit der Gattung, ist. – Die Besonderheit in ihrer Entwicklung macht das Prädikat aus, weil sie insofern das Allgemeinere ist, als sie die ganze allgemeine Sphäre des Subjekts, aber auch dieselbe in der Auseinandersetzung der Besonderung enthält.

Diese Besonderung näher betrachtet, so macht fürs erste die Gattung die substantielle Allgemeinheit der Arten aus; das[339] Subjekt ist daher sowohl B als C; dieses Sowohl-Als bezeichnet die positive Identität des Besonderen mit dem Allgemeinen; dies objektive Allgemeine erhält sich vollkommen in seiner Besonderheit. Die Arten zweitens schließen sich gegenseitig aus; A ist entweder B oder C; denn sie sind der bestimmte Unterschied der allgemeinen Sphäre. Dies Entweder-Oder ist die negative Beziehung derselben. In dieser sind sie aber ebenso identisch als in jener; die Gattung ist ihre Einheit als bestimmter Besonderen. – Wäre die Gattung eine abstrakte Allgemeinheit wie in den Urteilen des Daseins, so wären die Arten auch nur als verschiedene und gegeneinander gleichgültige zu nehmen; sie ist aber nicht jene äußere, nur durch Vergleichung und Weglassung entstandene Allgemeinheit, sondern ihre immanente und konkrete. Ein empirisches disjunktives Urteil ist ohne Notwendigkeit; A ist entweder B oder C oder D usf., weil die Arten B, C, D usf. sich vorgefunden haben; es kann eigentlich kein Entweder-Oder dadurch ausgesprochen werden, denn solche Arten machen nur etwa eine subjektive Vollständigkeit aus; die eine Art schließt zwar die andere aus, aber Entweder-Oder schließt jede weitere aus und schließt eine totale Sphäre in sich ab. Diese Totalität hat ihre Notwendigkeit in der negativen Einheit des Objektiv-Allgemeinen, welches die Einzelheit in sich aufgelöst und als einfaches Prinzip des Unterschieds immanent in sich hat, wodurch die Arten bestimmt und bezogen sind. Die empirischen Arten dagegen haben ihre Unterschiede an irgendeiner Zufälligkeit, die ein äußerliches Prinzip oder daher nicht ihr Prinzip, somit auch nicht die immanente Bestimmtheit der Gattung ist; sie sind darum nach ihrer Bestimmtheit auch nicht aufeinander bezogen. – Durch die Beziehung ihrer Bestimmtheit machen die Arten aber die Allgemeinheit des Prädikats aus. – Die sogenannten konträren und kontradiktorischen Begriffe sollten hier eigentlich erst ihre Stelle finden; denn im disjunktiven Urteile ist der wesentliche Begriffsunterschied gesetzt; aber sie haben darin auch zugleich[340] ihre Wahrheit, daß nämlich das Konträre und Kontradiktorische selbst ebensowohl konträr als kontradiktorisch unterschieden ist. Konträr sind die Arten, insofern sie nur verschieden sind – nämlich durch die Gattung als ihre objektive Natur haben sie ein anundfürsichseiendes Bestehen –, kontradiktorisch, insofern sie sich ausschließen. Jede dieser Bestimmungen für sich ist aber einseitig und ohne Wahrheit; im Entweder-Oder des disjunktiven Urteils ist ihre Einheit als ihre Wahrheit gesetzt, nach welcher jenes selbständige Bestehen als konkrete Allgemeinheit selbst auch das Prinzip der negativen Einheit ist, wodurch sie sich gegenseitig ausschließen.

Durch die soeben aufgezeigte Identität des Subjekts und Prädikats nach der negativen Einheit ist die Gattung im disjunktiven Urteile als die nächste bestimmt. Dieser Ausdruck deutet zunächst auf einen bloßen Quantitätsunterschied von mehr oder weniger Bestimmungen, die ein Allgemeines gegen eine unter ihm stehende Besonderheit enthalte. Es bleibt hiernach zufällig, was eigentlich die nächste Gattung ist. Insofern aber die Gattung als ein bloß durch Weglassen von Bestimmungen gebildetes Allgemeines genommen wird, kann sie eigentlich kein disjunktives Urteil bilden; denn es ist zufällig, ob die Bestimmtheit etwa in ihr noch geblieben sei, welche das Prinzip des Entweder-Oder ausmacht; die Gattung wäre überhaupt nicht nach ihrer Bestimmtheit in den Arten dargestellt, und diese könnten nur eine zufällige Vollständigkeit haben. In dem kategorischen Urteile ist die Gattung zunächst nur in dieser abstrakten Form gegen das Subjekt, daher nicht notwendig die ihm nächste Gattung, und insofern äußerlich. Indem aber die Gattung als konkrete wesentlich bestimmte Allgemeinheit ist, so ist sie als die einfache Bestimmtheit die Einheit von den Begriffsmomenten, welche in jener Einfachheit nur aufgehoben sind, aber ihren realen Unterschied in den Arten haben. Die Gattung ist daher insofern die nächste einer Art, als diese ihre spezifische Unterscheidung an der wesentlichen Bestimmtheit[341] jener und die Arten überhaupt ihre unterschiedene Bestimmung als Prinzip in der Natur der Gattung haben.

Die soeben betrachtete Seite macht die Identität des Subjekts und Prädikats nach der Seite des Bestimmtseins überhaupt aus; eine Seite, die durch das hypothetische Urteil gesetzt worden, dessen Notwendigkeit eine Identität Unmittelbarer und Verschiedener, daher wesentlich als negative Einheit ist. Diese negative Einheit ist es überhaupt, welche das Subjekt und Prädikat abscheidet, die aber nunmehr selbst als unterschieden gesetzt ist, im Subjekte als einfache Bestimmtheit, im Prädikate als Totalität. Jenes Abscheiden des Subjekts und Prädikats ist der Begriffsunterschied; die Totalität der Arten im Prädikat kann aber eben so kein anderer sein. – Die Bestimmung der disjunktiven Glieder gegeneinander ergibt sich also hierdurch. Sie reduziert sich auf den Unterschied des Begriffs, denn es ist nur dieser, der sich disjungiert und in seiner Bestimmung seine negative Einheit offenbart. Übrigens kommt die Art hier nur in Betracht nach ihrer einfachen Begriffsbestimmtheit, nicht nach der Gestalt, wie sie aus der Idee in weitere selbständige Realität getreten ist; diese fällt allerdings in dem einfachen Prinzip der Gattung weg, aber die wesentliche Unterscheidung muß Moment des Begriffs sein. In dem hier betrachteten Urteil ist eigentlich durch die eigene Fortbestimmung des Begriffs nunmehr selbst seine Disjunktion gesetzt, dasjenige, was sich beim Begriff als seine anundfürsichseiende Bestimmung, als seine Unterscheidung in bestimmte Begriffe ergeben hat. – Weil er nun das Allgemeine, die positive ebensosehr wie die negative Totalität der Besonderen ist, so ist er selbst eben dadurch auch unmittelbar eines seiner disjunktiven Glieder, das andere aber ist diese Allgemeinheit in ihre Besonderheit aufgelöst oder die Bestimmtheit des Begriffs als Bestimmtheit, in welcher eben die Allgemeinheit sich als die Totalität darstellt. – Wenn die Disjunktion einer Gattung in Arten noch nicht diese Form erreicht hat, so ist dies ein Beweis, daß sie sich nicht zur Bestimmtheit des Begriffes[342] erhoben [hat] und nicht aus ihm hervorgegangen ist. – Die Farbe ist entweder violett, indigoblau, hellblau, grün, gelb, orange oder rot; – solcher Disjunktion ist ihre auch empirische Vermischung und Unreinheit sogleich anzusehen; sie ist von dieser Seite, für sich betrachtet, schon barbarisch zu nennen. Wenn die Farbe als die konkrete Einheit von Hell und Dunkel begriffen worden, so hat diese Gattung die Bestimmtheit an ihr, welche das Prinzip ihrer Besonderung in Arten ausmacht. Von diesen aber muß die eine die schlechthin einfache Farbe sein, welche den Gegensatz gleichschwebend und in ihre Intensität eingeschlossen und negiert enthält; ihr gegenüber muß der Gegensatz des Verhältnisses des Hellen und Dunkeln sich darstellen, wozu, da es ein Naturphänomen betrifft, noch die gleichgültige Neutralität des Gegensatzes kommen muß. – Vermischungen wie Violett und Orange und Gradunterschiede wie Indigoblau und Hellblau für Arten zu halten, kann nur in einem ganz unüberlegten Verfahren seinen Grund haben, das selbst für den Empirismus zuwenig Reflexion zeigt. – Was übrigens die Disjunktion, je nachdem sie im Elemente der Natur oder des Geistes geschieht, für unterschiedene und noch näher bestimmte Formen habe, gehört nicht hierher auszuführen.

Das disjunktive Urteil hat zunächst in seinem Prädikate die Glieder der Disjunktion; aber ebensosehr ist es selbst disjungiert; sein Subjekt und Prädikat sind die Glieder der Disjunktion; sie sind die in ihrer Bestimmtheit aber zugleich als identisch gesetzten Begriffsmomente, als identisch α in der objektiven Allgemeinheit, welche in dem Subjekte als die einfache Gattung und in dem Prädikat als die allgemeine Sphäre und als Totalität der Begriffsmomente ist, und β in der negativen Einheit, dem entwickelten Zusammenhange der Notwendigkeit, nach welchem die einfache Bestimmtheit im Subjekte in den Unterschied der Arten auseinandergegangen und eben darin deren wesentliche Beziehung und das mit sich selbst Identische ist.[343]

Diese Einheit, die Kopula dieses Urteils, worein die Extreme durch ihre Identität zusammengegangen sind, ist somit der Begriff selbst, und zwar als gesetzt; das bloße Urteil der Notwendigkeit hat sich damit zum Urteil des Begriffs erhoben.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 6, Frankfurt a. M. 1979, S. 339-344.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Wissenschaft der Logik
Werke in 20 Bänden mit Registerband: 5: Wissenschaft der Logik I. Erster Teil. Die objektive Logik. Erstes Buch (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Werke in 20 Bänden mit Registerband: 6: Wissenschaft der Logik II. Erster Teil. Die objektive Logik. Zweites Buch. Zweiter Teil. Die subjektive Logik (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Werke in 20 Bänden mit Registerband: 8: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik. ... Zusätzen (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Wissenschaft der Logik II
Philosophische Bibliothek, Bd.376, Wissenschaft der Logik I. Die objektive Logik, 2, Die Lehre vom Wesen (1813)

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Die Narrenburg

Die Narrenburg

Der junge Naturforscher Heinrich stößt beim Sammeln von Steinen und Pflanzen auf eine verlassene Burg, die in der Gegend als Narrenburg bekannt ist, weil das zuletzt dort ansässige Geschlecht derer von Scharnast sich im Zank getrennt und die Burg aufgegeben hat. Heinrich verliebt sich in Anna, die Tochter seines Wirtes und findet Gefallen an der Gegend.

82 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon