12. Kapitel
Von den innern Ursachen, durch welche ein Staat sich auflöst

[199] 1. Bisher habe ich von dem Anlaß und von den Verträgen gesprochen, wodurch Staaten entstehen, und welche Rechte die Herrscher über ihre Untertanen haben. Ich habe nun noch einiges über die Ursachen zu sagen, durch welche die Staaten sich auflösen, d.h. über die Ursachen der Aufstände. Schon bei den körperlichen Dingen ist bei deren Bewegungen dreierlei in Betracht zu ziehen: 1. die innere Anlage, wonach sie der Bewegung fähig sind, 2. der innere Anstoß, aus dem eine gewisse bestimmte Bewegung entsteht, und 3. der Vorgang selbst. So ist auch bei einem Staate, wo die Bürger im Aufruhr sich erheben, dreierlei zu beachten: 1. die Lehren und Leidenschaften, welche dem Frieden feindlich sind, und von denen die Gemüter der einzelnen ergriffen werden, 2. die Eigenschaften und Fähigkeiten der Personen, die aufstacheln, zusammenrufen und die schon von den Leidenschaften Ergriffenen dazu führen, die Waffen zu ergreifen und sich von ihrer Untertanenpflicht zu befreien, 3. die Art, wie dies geschieht oder die Parteiung selbst. Von den Lehren, welche zum Aufruhr reizen, ist die erste, daß das Urteil über das Gute und Schlechte jedem einzelnen zustehe. Dies mag in dem Naturzustande wahr sein, wo die einzelnen mit gleichem Rechte leben und sich durch keinen Vertrag der Herrschaft eines andern unterworfen haben, und ich selbst habe dies in Kap. I, Abschn. 9, dargelegt und bewiesen. Aber in dem bürgerlichen Zustande ist der Satz falsch. In[199] Kap. 6, Abschn. 9, habe ich gezeigt, daß die bürgerlichen Gesetze die Regelnüber das Gute und Schlechte, Rechte und Unrechte, Anständige und Unanständige bilden, mithin das, was der Gesetzgeber gebietet als gut, was er verbietet als schlecht angesehen werden muß. Gesetzgeber ist aber allemal der Inhaber der Staatsgewalt, also in den Monarchien der Monarch. In Kap. 11, Abschn. 2, habe ich dies mit den Worten Salomos bestätigt. Sollte man das erstreben, was die einzelnen für gut halten, und das fliehen, was sie für schlecht halten, was sollten da die Worte jenes Propheten bedeuten: »Du wirst deinem Knechte ein gelehriges Herz geben, damit er über dein Volk richten und das Gute von dem Bösen unterscheiden kann.« Wenn sonach die Könige das Gute und Schlechte zu bestimmen haben, so sind jene Reden lasterhaft, wenn man sie auch täglich hört, wonach nur derjenige König sei, der recht handle, und daß man den Königen nur in ihren gerechten Befehlen zu gehorchen brauche, sowie ähnliche Reden. Denn vor der Errichtung irgendeiner Herrschaft hat das Gerechte und Ungerechte nicht bestanden, da ihre Natur sich auf ein Gebot bezieht und jede Handlung ihrer Natur nach indifferent ist; das, was Recht und Unrecht ist, kommt von dem Recht des Herrschers. Was mithin ein rechtmäßiger König gebietet, macht er durch seinen Befehl zu dem Rechten, und was er verbietet, durch das Verbot zu einem Unrechten. Wenn dagegen die einzelnen Bürger das Urteil über das Gute und Schlechte für sich beanspruchen, so wollen sie so viel wie der König sein, was mit der Wohlfahrt des Staates sich nicht verträgt. Das älteste Gebot Gottes in 1. Moses 2, 17 lautet: »Von dem Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen«, und die älteste Versuchung des Teufels lautet in Kap. 3, 5: »Ihr werdet sein wie die Götter und die Erkenntnis des Guten und Bösen haben.« Und die erste Vorhaltung Gottes an die Menschen lautet in V. 11: »Wer hat dir gesagt, daß du nackt seiest; nur weil du von dem Baume gegessen hast, von dem zu essen ich dir verboten hatte.« Als wenn Gott sagte: Woher hältst du jetzt deine Nacktheit für unanständig, in der dich zu erschaffen mir gut erschien?[200] Nur weil du dir die sichere Erkenntnis des Anständigen und Unanständigen angemaßt hast.

2. Jede Handlung gegen das Gewissen ist eine Sünde; denn wer so handelt, verachtet das Gesetz. Indes muß man unterscheiden: die Sünde ist die meine, wenn ich bei der Handlung weiß, daß es meine Sünde ist; wenn ich es aber für die Sünde eines andern halte, so kann ich die Handlung ohne eigene Sünde tun. Wenn ich auf Befehl etwas tue, was für den Befehlenden eine Sünde ist, so begehe ich, wenn ich es tue, keine Sünde, sofern der Gebietende mein Herr von Rechts wegen ist. Wenn ich z.B. auf Befehl meines Fürsten in den Krieg ziehe, so tue ich damit kein Unrecht; wenn auch meiner Meinung nach der Krieg mit Unrecht begonnen ist; vielmehr täte ich Unrecht; wenn ich den Kriegsdienst verweigerte und mir die Entscheidung über Recht und Unrecht anmaßen würde, die allein dem Fürsten gebührt. Wer diesen Unterschied nicht beachtet, verfällt, so oft ihm etwas befohlen wird, was unrecht ist oder er für unrecht hält, in die Notwendigkeit zu sündigen; denn er handelt gegen sein Gewissen, wenn er gehorcht, und gegen das Recht, wenn er nicht gehorcht. Im ersten Falle zeigt er, daß er die Strafen des jenseitigen Lebens nicht fürchtet; im letztern Falle hebt er nach seinem Teil die menschliche Gemeinschaft und das Staatsleben des diesseitigen Lebens auf. Deshalb ist die Meinung derer, welche lehren, daß die Untertanen sündigen, wenn sie die Befehle ihres Fürsten, die ihnen ungerecht erscheinen, ausführen, irrtümlich und gehört zu denen, welche dem bürgerlichen Gehorsam entgegenlaufen; und diese Meinung ist die Folge jenes ursprünglichen Irrtums, den ich im vorhergehenden Abschnitt erörtert habe. Denn indem wir uns selbst das Urteil über das Gute und Schlechte anmaßen, bewirken wir, daß sowohl unser Gehorsam wie Ungehorsam eine Sünde wird.

3. Die dritte aufrührerische Lehre ist aus derselben Wurzel entsprungen. Der Tyrannenmord soll erlaubt sein; ja nicht bloß viele Theologen unserer Zeit, sondern alle Philosophen in alten Zeiten, wie Plato, Aristoteles, Cicero, Seneca, Plutarch, und alle andern Begünstiger der Anarchie in Griechenland und Rom haben ihn für erlaubt, ja selbst[201] für höchst lobenswert erklärt. Unter dem Tyrannen verstehen sie dabei nicht bloß die Monarchen, sondern alle, welche die Staatsgewalt in irgendeiner Staatsform innehaben. So wurde in Athen nicht bloß Pisistratus, sondern nach ihm auch der Rat der Dreißig, die gemeinsam herrschten, einzeln Tyrannen genannt. Wenn die Menschen nun die Tötung des Tyrannen verlangen, so herrscht er entweder mit Recht oder mit Unrecht; im letztern Falle ist er ein Feind und wird mit Recht getötet; allein das ist kein Tyrannenmord, sondern ein Feindesmord. Hat er mit Recht die Herrschaft, so tritt die göttliche Frage ein: »Wer hat dir gesagt, daß er ein Tyrann sei, wenn du nicht von dem Baume gegessen hast, von dem zu essen ich dir verboten habe?« Denn warum nennst du den einen Tyrannen, den Gott zum König gemacht hat, wenn du nicht als einzelner Bürger die Entscheidung über Gut und Böse dir anmaßest? Wie verderblich indes eine solche Meinung allen Staaten und vorzüglich den Monarchien ist, erhellt leicht daraus, daß damit jeder König, sei er gut oder schlecht, dem ausgesetzt ist, daß ein Meuchelmörder über seine Verurteilung entscheidet und auch mit eigener Hand sie vollstreckt.

4. Die vierte der bürgerlichen Gesellschaft gefährliche Lehre geht dahin, daß auch die Inhaber der Staatsgewalt den Gesetzen des Staates unterworfen seien. Ihre Unwahrheit ist in Kap. 6, Abschn. 14, hinlänglich dargelegt worden, weil der Staat weder gegen sich noch gegen einen Bürger eine Verbindlichkeit eingehen kann; gegen sich nicht, weil man nur einem andern sich verpflichten kann, und gegen einen Bürger nicht, weil der Wille der einzelnen Bürger in dem Willen des Staates mit enthalten ist, so daß, wenn der Staat von allen solchen Verbindlichkeiten frei werden will, es auch die Bürger wollen, womit er von selbst frei ist. Was aber von dem Staate gilt, gilt auch von dem Menschen oder einer Versammlung von Menschen, die die höchste Gewalt innehaben; denn sie stellen den Staat vor, der nur durch ihre höchste Gewalt besteht. Daß übrigens diese Lehre sich mit dem wahren Wesen des Staates nicht verträgt, erhellt daraus, daß damit die Entscheidung über Recht und Unrecht, d.h. über das, was mit den Gesetzen des Staates übereinstimmt oder nicht, offenbar auf die einzelnen[202] übergehen würde. Es wird also der Gehorsam immer aufhören, sobald ein Gebot ungesetzlich erscheint, und folglich auch alle zwingende Gewalt; und das ist nur möglich durch die Zerstörung des wahren Wesens des Staates. Trotzdem hat diese irrige Meinung viele Verteidiger, wie Aristoteles und andere, die annehmen, daß bei der Schwachheit der Menschen nur den Gesetzen die höchste Gewalt im Staate mit Sicherheit übertragen werden dürfe. Indes können diese Männer unmöglich die Natur des Staates tief erfaßt haben, wenn sie glauben, daß man die zwingende Gewalt, die Auslegung der Gesetze und die Gesetzgebung, Gewalten, die dem Staate unentbehrlich sind, den Gesetzen selbst gänzlich überlassen könne. Wenn auch mitunter einzelne Bürger gegen den Staat vor Gericht auftreten und mit ihm Prozesse führen können, so findet dies doch nur insoweit statt, als es sich dabei nicht um die Staatsgewalt selbst handelt, sondern um das, was der Staat durch ein bestimmtes einzelnes Gesetz gewollt hat. Handelt es sich z.B. um das Leben eines Bürgers, das nach einem Gesetz verfallen ist, so ist die Frage nicht, ob der Staat vermöge seiner unbeschränkten Gewalt das Leben ihm nehmen könne, sondern ob er nach diesen Gesetzen gewollt habe, daß ihm das Leben genommen werden solle; und dies hat er gewollt, wenn der Bürger das Gesetz übertreten hat, sonst nicht. Daß der Staat an seine eigenen Gesetze gebunden sei, wird also noch nicht dadurch genügend bewiesen, daß der Bürger gegen den Staat vor den Gerichten klagen kann. Im Gegenteil erhellt, daß der Staat durch seine Gesetze nicht gebunden ist, da niemand sich gegen sich selbst verpflichten kann. Deshalb werden die Gesetze dem Titius und Cajus gegeben, aber nicht dem Staate, wenn auch der Ehrgeiz der Rechtsgelehrten es dahin gebracht hat, daß der Unerfahrene meint, die Gesetze hingen nicht von der Autorität des Staates, sondern von der Klugheit der Rechtsgelehrten ab.

5. Fünftens ist es eine für die Staaten äußerst verderbliche Lehre, daß die höchste Staatsgewalt geteilt werden könne. Dabei sind die Ansichten über die Teilung verschieden. Manche teilen so, daß sie der bürgerlichen Gewalt die Dinge zugestehen, welche sich auf den Frieden[203] und die Vorteile dieses Lebens beziehen; dagegen übertragen sie die Gewalt in allen das Heil der Seele betreffenden Dingen an andere. Dann muß es sich freilich treffen, daß die Bürger die Rechtspflege, die für das Wohl am allernotwendigsten ist, nicht, wie es sich gehört, nach den Gesetzen des Staates bemessen, sondern nach den Befehlen und Lehren von Personen, die in bezug auf den Staat entweder Privatleute oder Fremde sind. Die Bürger werden dann aus abergläubischer Furcht dem Fürsten den schuldigen Gehorsam verweigern, wobei sie freilich durch ihre Furcht selbst in das Übel, das sie fürchten, geraten. Was gibt es aber Verderblicheres für den Staat, als wenn die Menschen durch die Drohung der ewigen Höllenqualen von dem Gehorsam gegen die Fürsten, d.h. gegen die Gesetze, oder von dem gerechten Leben abgeschreckt werden? Andere teilen die höchste Gewalt so, daß sie die Entscheidung über Krieg und Frieden einem, den sie Monarchen nennen, übertragen, dagegen das Recht, Abgaben zu erheben, nicht diesem, sondern andern. Allein der Nerv im Frieden wie im Kriege ist das Geld; wer also die Herrschaft so teilt, teilt sie eigentlich in Wirklichkeit gar nicht, sondern gibt sie dem, in dessen Gewalt das Geld steht, und dem andern nur den Namen; teilt man sie aber wirklich, so löst man den Staat auf. Denn weder ein notwendiger Krieg kann ohne Geld geführt, noch kann der allgemeine Friede ohne Geld erhalten werden.

6. Gewöhnlich wird gelehrt, daß Glaube und Heiligung nicht durch Fleiß und natürliche Vernunft erlangt werden können, sondern daß sie den Menschen immer auf übernatürliche Weise mitgeteilt und eingeflößt werden. Wäre dies richtig, so wüßte ich nicht, weshalb man einen Grund für seinen Glauben angeben sollte, oder warum nicht jeder, welcher nur ein frommer Christ ist, als Prophet gelten sollte, oder endlich weshalb nicht jeder das, was er tun und lassen soll, besser aus seiner eigenen übernatürlichen Beeinflussung als aus den Geboten des Herrschers oder der gesunden Vernunft entnehmen könnte. Man würde also wieder darauf zurückkommen, daß der einzelne über Gut und Böse entscheiden könne, und das kann, ohne den Staat aufzulösen, nicht zugelassen werden. Dennoch ist[204] diese Meinung in der Christenheit so weit verbreitet, daß die Menge derer, welche der gesunden Vernunft abtrünnig geworden sind, beinahe zahllos ist. Sie rührt von geisteskranken Menschen her, die durch häufiges Lesen der Heiligen Schrift sich eine Menge heiliger Worte gesammelt haben und sie bei dem Vortrag so zu verbinden pflegen, daß ihre Rede keinen Sinn hat, aber unerfahrenen Personen doch göttlich erscheint. Wer aber als Gottgesandter, wenn schon ohne Vernunft, spricht, wird notwendig für einen gehalten werden, dem Gott die Worte eingeflößt hat.

7. Die siebente dem Staat feindliche Lehre lautet, daß den einzelnen Bürgern an ihren Gütern ein unbeschränktes Eigentum zustehe, d.h. ein solches Eigentum, daß es das Recht jedes andern, nicht nur aller seiner Mitbürger, sondern auch des Staates selbst darauf ausschließt. Dies ist nicht richtig; denn wer einen Herrn hat, hat selbst keine Herrschaft, wie in Kap. 8, Abschn. 3, gezeigt worden ist. Nun ist aber der Staat infolge seiner Begründung der Herr aller Bürger. Vor Annahme der staatlichen Unterwerfung hat niemand ein besonderes Recht, sondern alles war allen gemein; deshalb kommt alles Eigentum nur von dem Staate, und dies deshalb, weil jeder sein Recht auf den Staat übertragen hat. Mithin hat auch der, welcher solche Lehre behauptet, sein Recht dem Staat übertragen; seine Herrschaft und sein Eigentum an seinen Sachen kommen ihm nur insoweit und so lange zu, als der Staat es bewilligt; ähnlich wie in der Familie die einzelnen Haussöhne nur so viel und so lange Besitz haben, als der Vater es ihnen gestattet. Indes kommen die meisten der Staatsrechtslehrer zu einem andern Schluß. Die Menschen sind, so sagen sie, von Natur alle gleich; es gibt keinen Grund, daß jemand mir meine Sachen mit mehr Recht wegnehmen kann, als ich ihm die seinigen. Es ist richtig, daß zum allgemeinen Schutz mitunter Geld nötig sei; allein wer es verlangt, muß die augenblickliche Notwendigkeit zeigen und wird es dann erhalten. Indes übersehen diese Männer bei dieser Ausführung, daß das, was sie jetzt verlangen, schon bei der Begründung des Staates geschehen ist; indem sie sprechen als bestünde nur eine aufgelöste Menge und noch kein Staat, lösen sie gerade den bestehenden Staat auf.[205]

8. Endlich ist es für den Staat, und besonders für den monarchischen, von größtem Nachteil, daß man nicht genügend das Volk von der bloßen Menge unterscheidet. Das Volk ist eine Einheit mit einem Willen und ist einer Handlung fähig; all das kann von einer Menge nicht gesagt werden. Das Volk herrscht in jedem Staate, selbst in der Monarchie; denn da äußert das Volk seinen Willen durch den eines Menschen. Die Menge besteht dagegen aus den Bürgern, d.h. aus den Untertanen. In der Demokratie und Aristokratie sind die Bürger die Menge, und die Versammlung ist das Volk; in der Monarchie sind die Untertanen die Menge, und (wenn dies auch sonderbar klingt) der König ist das Volk. Gemeine Leute und andere, die den Sachverhalt nicht erfassen, sprechen von einer großen Zahl Menschen immer als vom Volke, d.h. vom Staate. Sie sagen, »der Staat« sei gegen den König aufgestanden (was unmöglich ist), und »das Volk« wolle dies, und jenes wolle es nicht, wie es gerade unruhigen und unzufriedenen Untertanen paßt. Allein sie wiegeln dabei unter dem Vorwand, daß es das Volk sei, die Bürger gegen den Staat, d.h. die Menge gegen das Volk auf. Dies sind ungefähr all die Lehren, die, wenn sie bei den Bürgern Eingang finden, sie zu Aufständen verleiten. Und da in jedem Staat die höchste Gewalt dem Inhaber derselben bewahrt bleiben muß, so haftet allen diesen Lehren natürlicherweise das Verbrechen der Majestätsverletzung an.

9. Nichts quält den Menschen mehr als Armut oder der Mangel der zur Erhaltung seines Lebens und seiner Stellung erforderlichen Mittel. Obgleich nun jedermann weiß, daß man durch Fleiß und Geschick sich Vermögen erwerben und durch Sparsamkeit erhalten kann, so pflegt doch der Arme die Schuld nicht in seiner Trägheit oder früheren Verschwendung zu suchen, sondern er gibt der schlechten Staatsregierung die Schuld, die durch Steuern sein Privatvermögen verzehrt habe. Indes sollte man doch bedenken, daß der, welcher kein Vermögen hat, nicht bloß arbeiten muß, um zu leben, sondern daß er auch kämpfen muß, um arbeiten zu können. Jeder Jude, welcher zu Esras Zeit an den Mauern Jerusalems mitbaute, verrichtete mit der einen Hand die Arbeit und in der andern hielt er das[206] Schwert. Man muß bedenken, daß in jedem Staate der König oder die höchste Versammlung die Hand ist, welche das Schwert führt, und daß sie durch die Sorge und den Fleiß der Bürger ebenso unterhalten und ernährt werden muß, wie die, mit der jeder sich sein Privatvermögen erwirbt. Die Zölle und Steuern sind nur der Lohn derer, welche in Waffen wachen, damit die Arbeiten und Mühen der einzelnen nicht durch die feindlichen Einfälle Schaden leiden. Deshalb gleichen diese Klagen, womit man seine Armut den öffentlichen Abgaben zur Last legt, den Klagen, daß man durch Bezahlung seiner Schulden arm geworden sei. Indes denken die meisten Menschen an all dies nicht; es geht ihnen wie denen, die an Alpdrücken leiden; dieses Übel, das von der Gefräßigkeit kommt, macht die Leidenden glauben, sie werden überfallen und von einer schweren Last erdrückt und erwürgt. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß Menschen, die in dieser Weise glauben, der Staat erdrücke sie mit seiner Macht, zu Aufständen geneigt sind, und daß die, denen der gegenwärtige Zustand nicht gefällt, an Veränderungen ihre Freude haben.

10. Ein anderer verderblicher geistiger Übelstand findet sich bei denen, die bei geringer Beschäftigung Ehren und Würden haben wollen. Jedermann strebt naturgemäß nach Auszeichnung und Berühmtheit, am meisten aber die, welche von der Sorge für das tägliche Leben am wenigsten berührt werden. Diese Muße treibt sie teils zu Erörterungen über die öffentlichen Angelegenheiten, teils zum ungezwungenen Lesen von Geschichtsschreibungen, politischen Abhandlungen, Reden, Gedichten und anderen schönen Büchern; dadurch halten sie sich sowohl infolge ihres Verstandes als auch ihrer Bildung für hinreichend befähigt, die wichtigsten Angelegenheiten zu besorgen. Da indes nicht alle das wirklich sind, wofür sie sich halten, und selbst wenn dies der Fall wäre, doch bei ihrer großen Zahl nicht alle zu öffentlichen Ämtern zugelassen werden können, so müssen allerdings viele übergangen werden. Diese fühlen sich vor den Kopf gestoßen und wünschen daher, teils aus Neid gegen die, die ihnen vorgezogen wurden, teils aus der Hoffnung, sie doch noch niederzudrücken, nichts sehnlicher als einen unglücklichen Ausgang der öffentlichen Beratungen.[207] Und deshalb kann man sich nicht wundern, wenn sie die Gelegenheit zu Neuerungen begierig und bereitwillig ergreifen.

11. Zu den zur Empörung verleitenden Leidenschaften gehört auch die Hoffnung auf Erfolg. Wenn noch so viel Menschen von Meinungen erfüllt sind, welche dem Frieden und der bürgerlichen Ordnung zuwiderlaufen; wenn noch so viele von den Inhabern der Staatsgewalt durch Beleidigungen und Verleumdungen verletzt und gereizt werden: so wird daraus doch keine Empörung entstehen, wenn die Hoffnung auf Erfolg gar nicht oder zu schwach vorhanden ist; der einzelne wird sich verstellen und das augenblickliche Schlimme lieber als das spätere Schlimmere ertragen. Nun gehört aber zu dieser Hoffnung viererlei: eine genügende Anzahl, Kriegswerkzeuge, gegenseitiges Vertrauen, und Führer. Ein Widerstand gegen die Obrigkeit, der ohne die genügende Anzahl erfolgt, ist kein Aufstand, sondern ein Akt der Verzweiflung. Unter Kriegswerkzeugen verstehe ich alle Arten von Waffen, Munition und andern notwendigen Vorräten, ohne die eine große Anzahl nichts hilft. Ebensowenig helfen Waffen ohne gegenseitiges Vertrauen, noch all dies ohne die Vereinigung unter einen Führer, dem sich die übrigen freiwillig unterwerfen, nicht aus einer Verbindlichkeit hierzu (denn ich habe in diesem Kapitel vorausgesetzt, daß dergleichen Menschen nicht verstehen, daß sie zu etwas mehr als zu dem, was sie selbst für recht und gut halten, verpflichtet sein könnten), sondern aus Achtung vor seiner Tapferkeit, seinen kriegerischen Einsichten oder ähnlichen Eigenschaften. Sind diese vier Bedingungen solchen Menschen erreichbar, die mit der gegenwärtigen Lage unzufrieden sind und die ihr Recht zum Handeln nur nach ihrem eigenen Ermessen bestimmen, so fehlt zum Aufstand und zur Verwirrung im Staate nur noch, daß jemand sie aufhetzt und antreibt.

12. Sallust schildert den Charakter des Catilina, der in Geschicklichkeit zu Aufständen von niemand übertroffen wurde, dahin, daß er viel Beredsamkeit, aber wenig Weisheit besessen habe. Er trennt also die Beredsamkeit von der Weisheit; jene braucht der zu Tumulten geborene Mensch, während er diese als eine Gebieterin des Friedens[208] und der Ruhe verurteilt. Die Beredsamkeit ist aber zweifacher Natur: die eine Art ist der elegante und klare Ausdruck der Gedanken und der Begriffe, entstanden zum Teil aus der Betrachtung der Dinge selbst, zum Teil aus einem Verständnis der Worte in ihrer eigentümlichen und bestimmten Bedeutung. Die andere ist eine Erregung der Leidenschaften, wie Hoffnung, Furcht, Zorn, Mitleid, und stammt her von dem bildlichen Gebrauch der Worte, welche den Leidenschaften angepaßt sind. Jene webt ihre Rede aus wahren Grundsätzen, diese aus den herrschenden Meinungen, gleichviel welcher Art sie seien; die Kunst jener ist die Logik, die Kunst dieser die Rhetorik; das Ziel jener ist die Wahrheit, dieser der Sieg. Beide haben ihren Nutzen, jene bei Beratungen, diese bei Ermahnungen; denn jene trennt sich nie von der Weisheit, während diese es beinahe immer tut. Daß nun diese Art mächtiger Beredsamkeit die weit entfernt ist von der wahren Erkenntnis der Dinge, d.h. von der Weisheit, das wahre Kennzeichen derer ist, welche das Volk zu Neuerungen aufregen und anreizen, kann man leicht aus dem, was sie vornehmen, ersehen. Denn sie könnten das Volk nicht mit jenen verkehrten und dem Frieden und der bürgerlichen Gesellschaft widersprechenden Meinungen vergiften, wenn sie nicht selbst denselben anhingen; und dies zeugt von einer größern Unwissenheit, als bei einem weisen Manne möglich ist. Denn wer nicht weiß, woher die Gesetze ihre Kraft ableiten, welches die Regeln des Gerechten und Ungerechten, des Anständigen und Unanständigen, des Guten und Schlechten sind, was den Frieden unter den Menschen befördert und bewahrt und was ihn zerstört, was ihm selbst und was andern gehört, endlich, was er will, daß ihm geschehe, damit er es auch andern tue, wer das alles nicht weiß, der ist fürwahr erbärmlich weise. Wer aber seine Zuhörer aus dummen Menschen zu verrückten machen kann; wer bewirken kann, daß die Armen ihren Zustand für noch elender und die in guten Umständen Befindlichen ihren Zustand für schlecht halten; wer die Hoffnungen verstärken und die Gefahren vermindern kann, trotz aller Gründe der Vernunft: der vermag das nur durch Beredsamkeit; nicht durch die welche die Dinge so darstellt wie[209] sie sind, sondern durch jene andere, welche die Gemüter aufregt und damit ihnen alles so erscheinen läßt, wie der Redner selbst in seiner Aufregung es vorher aufgefaßt hat.

13. Um die Gemüter der Bürger für den Aufruhr zu stimmen, wirken aus Unwissenheit auch viele, die voll guter Gesinnung für den Staat sind, dadurch mit, daß sie den Jünglingen in der Schule und dem ganzen Volke vom Katheder Lehren beibringen, die mit den vorgeschilderten Meinungen übereinstimmen. Nun verwenden die, welche jene Richtung zur Verwirklichung bringen wollen, ihre ganzen Bemühungen darauf, daß sie die Mißvergnügten zunächst in Parteiungen und Verschwörungen verwickeln, und dann, daß sie selbst die Gewalt in diesen Parteien erlangen. Ersteres geschieht dadurch, daß sie sich zu Vermittlern und Auslegern der Entschlüsse und Handlungen der einzelnen machen und die Personen und Orte zu Versammlungen bestimmen, wo über die Verbesserungen, die in der Staatsregierung geschehen sollen, beraten wird, wie es ihren Interessen am besten entspricht. Um aber in der Partei die Macht und Führung zu erlangen, muß in der Partei wieder eine Partei gebildet werden, d.h. sie müssen mit wenigen besondere geheime Zusammenkünfte abhalten, in denen über die Anträge beraten wird, welche später in der allgemeinen Versammlung gestellt werden sollen, wer sie stellen soll, was die einzelnen und in welcher Reihenfolge sie sprechen sollen, und wie die mächtigsten und volkstümlichsten in der Partei zu ihren Ansichten gebracht werden können. Wenn auf diese Weise die Partei zu einer erheblichen Stärke angewachsen ist, und jene Führer durch ihre Beredsamkeit die Leitung darin haben, treiben sie sie zur Tat. So gelingt es ihnen mitunter, den Staat auf diese Weise zu stürzen; nämlich dann, wenn ihnen keine andere Partei entgegentritt. Zumeist jedenfalls bringen sie Spaltungen hervor und führen den Staat dem Bürgerkrieg entgegen. Denn die Dummheit und die Rednerkunst verbinden sich zum Umsturz des Staates in derselben Weise, wie einst (wie die Fabel erzählt) die Töchter des Pelias, des Königs von Thessalien, sich mit der Medea heimlich gegen ihren Vater verschworen. Indem sie nämlich den altersschwachen Greis wieder verjüngen wollten, legten sie ihn, auf den Rat[210] der Medea, in Stücke zerschnitten zum Kochen auf das Feuer und warteten vergeblich, daß er erwachen sollte. Ebenso will das gemeine Volk in seiner Torheit, gleich den Töchtern des Pelias, den alten Staat verjüngen, und, verführt durch die Rednerkünste ehrgeiziger Menschen, wie die der Giftmischerin Medea, teilen sie ihn in Parteien und lassen ihn, statt ihn zu reformieren, meist im Feuer sich verzehren.[211]

Quelle:
Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen und Bürger. Leipzig 1918, S. 199-212.
Lizenz:

Buchempfehlung

Jean Paul

Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung

Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung

Der Held Gustav wird einer Reihe ungewöhnlicher Erziehungsmethoden ausgesetzt. Die ersten acht Jahre seines Lebens verbringt er unter der Erde in der Obhut eines herrnhutischen Erziehers. Danach verläuft er sich im Wald, wird aufgegriffen und musisch erzogen bis er schließlich im Kadettenhaus eine militärische Ausbildung erhält und an einem Fürstenhof landet.

358 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon