11. Kapitel
Von Begehrung und Abneigung, vom Angenehmen und Unangenehmen und ihren Ursachen

[23] 1. Begehrung und Abneigung unterscheiden sich von Lust und Unlust nicht anders als das Verlangen vom Genießen, d.h. als das Zukünftige vom Gegenwärtigen. Denn Begehrung ist Lust und die Abneigung ist Unlust, aber Lust und Unlust infolge von etwas Angenehmem bzw. Unangenehmem, das noch nicht gegenwärtig ist, aber vorhergesehen oder erwartet wird. Lust aber und Unlust unterscheiden sich, wenngleich sie nicht als Empfindungen bezeichnet werden, von diesen nur insofern, als die Empfindung eines äußeren Objekts infolge einer Reaktion oder eines Widerstandes entsteht, der von dem empfindenden Organ ausgeht, und folglich besteht sie in einem Conatus des Organs nach außen hin; die Lust aber besteht in einer passiven Einwirkung, die von einer Aktion des Objekts hervorgerufen wird, und ist ein Conatus nach innen hin.

2. Die Ursache also sowohl der Empfindung als auch der Begehrung und Abneigung, der Lust und der Unlust, sind die Objekte der Sinne selbst. Daraus folgt, daß unsere Neigung oder unsere Abneigung nicht die Ursache ist, warum wir dieses oder jenes begehren oder fliehen; wir begehren nicht deshalb, weil wir wünschen, der Wunsch selbst ist vielmehr das Begehren; und wir fliehen nicht, weil wir ablehnen, sondern weil die Begierde oder Abneigung von den gewünschten oder verabscheuten Dingen selbst hervorgebracht ist. Durch die Dinge selbst ist notwendig die Lust und Unlust vorbestimmt, die sie künftig uns gewähren. Haben wir etwa Hunger oder begehren[23] wir die übrigen zum Leben notwendigen Dinge, weil wir wünschen? Oder sind Hunger, Durst und sinnliche Begierden selber freie Wünsche? Wie der Begehrende handelt, mag von ihm allein abhängen, das Begehren selbst aber kann es nicht. Das ist jedem aus eigener Erfahrung so offenkundig, daß ich mich wundern muß, daß es so viele Menschen gibt, die das nicht verstehen. Wenn wir sagen, es stehe in jemandes freiem Ermessen, dies oder das zu tun oder nicht zu tun, so ist das immer zu verstehen unter Hinzufügung der Voraussetzung »wenn er will«. Sinnlos ist es dagegen zu sagen, jemand habe die Freiheit, dies oder jenes zu tun, ob er wolle oder nicht.

Erwägt man, ob man eine Absicht ausführen oder unterlassen soll, so spricht man von Überlegen und Entscheiden, und das bedeutet, sich der Freiheit, das eine oder das andere zu tun, zu begeben. Bei dieser Überlegung ist man bald geneigt, bald abgeneigt, je nachdem sich Vorteile und Nachteile auf der einen oder anderen Seite zeigen; schließlich, wenn die Sachlage eine Entscheidung fordert, führt ein letzter Antrieb zu tun oder zu lassen unmittelbar die Handlung oder die Unterlassung herbei und dann spricht man im eigentlichen Sinne von »Wollen«.

3. Nach der Ordnung der Natur geht die Wahrnehmung dem Begehren voraus. Denn ob das, was wir sehen, angenehm sein wird oder nicht, läßt sich nur auf Grund von Erfahrung, d.h. durch Wahrnehmung, wissen. Daher pflegt man zu sagen, das Unbekannte reize uns nicht. Indessen kann es eine Begierde, etwas Unbekanntes kennen zu lernen, geben. Sie erklärt, daß kleine Kinder nur wenig begehren, größere Kinder mehr und Unbekanntes versuchen und mit fortschreitendem und gereiftem Alter die Menschen, besonders die Gelehrten, unzählige, auch nicht notwendige Dinge kennen zu lernen streben. Und was sie als angenehm erprobt haben, begehren sie späterhin wiederholt, von der Erinnerung getrieben. Bisweilen wird auch etwas, was beim ersten Kennenlernen unangenehm ist, wenn es nur selten oder neu gewesen ist, durch die Gewohnheit nicht mehr als unangenehm, später sogar als angenehm empfunden. So großen Einfluß hat die Gewohnheit auf die Sinnesänderung einzelner Menschen.[24]

4. Alle Dinge, die erstrebt werden, bezeichnet man, sofern sie erstrebt werden, mit einem gemeinsamen Namen als »Güter«, alle, die wir vermeiden, als »Übel«. Daher hat Aristoteles richtig definiert, ein Gut sei, was alle erstreben. Da aber die verschiedenen Menschen verschiedene Dinge erstreben und vermeiden, so muß es viele Dinge geben, die für einige Güter, für andere Übel sind, wie für unsere Feinde das ein Übel ist, was für uns ein Gut ist. Gut und übel sind also relativ je nach den Erstrebenden und Vermeidenden. Ein Gut kann allgemein sein und man kann zutreffend von etwas sagen, es sei überhaupt ein Gut, d.h. für viele ein Gut, oder für den Staat ein Gut. Man kann auch bisweilen sagen »für alle ein Gut«, z.B. von der Gesundheit. Aber auch diese Ausdrücke sind relativ, daher darf man nicht von einem Gut schlechthin reden. Denn jedes Gut ist gut für irgendwelche oder irgendeinen Menschen. Gut war ursprünglich alles, was Gott schuf. Warum? Weil ihm selbst alle seine Werke gefielen. Man sagt auch, »gut« ist Gott für alle, die seinen Namen anrufen, nicht aber für die, welche seinen Namen lästern. »Gut« also wird gesagt relativ zu Person, Ort und Zeit. Diesem Menschen, hier, jetzt gefällt etwas; jenem, dort, zu jener Zeit mißfällt es. Und ebenso kommen die übrigen Umstände in Betracht. Denn die Natur des Guten und Schlechten ist von den jeweilig zusammentreffenden Bedingungen abhängig.

5. Auch wechseln die Bezeichnungen für Gut und Übel in verschiedener Weise. Denn dasselbe Ding, das, sofern es gewünscht ist, gut heißt, heißt, sofern es erlangt ist, angenehm; und dasselbe Ding, das, sofern es gewünscht ist, gut heißt, heißt, sofern es betrachtet ist, schön. Schönheit ist diejenige Beschaffenheit eines Gegenstandes, die ein Gut von ihm erwarten läßt. Was Gegenständen, die gefallen haben, ähnlich ist, von dem vermutet man, daß es gefallen werde. Die Schönheit ist ein Anzeichen eines künftigen Gutes. Beobachtet man sie an Handlungen, so nennt man sie Tugendhaftigkeit; beruht sie auf der Gestalt, nennt man sie Formenschönheit; und sie gefällt durch die bloße Vorstellung, bevor das Gut, für das sie ein Anzeichen ist, erlangt wird. In derselben Weise spricht man bei ein und[25] demselben von »schlecht« und »häßlich«. Außerdem nennt man ein Ding, das, sofern es gewünscht ist, gut heißt, angenehm, wenn es um seiner selbst willen begehrt wird, nützlich, wenn es um eines anderen willen begehrt wird. Denn ein Gut, das wir um seiner selbst willen erstreben, »wenden« wir nicht »an«, weil »die Anwendung« ein Merkmal der Mittel oder Werkzeuge ist; der Genuß dagegen ist gleichsam der Endzweck irgendeiner Sache, die man erstrebt. Man unterscheidet außerdem wahre und scheinbare Güter und Übel. Nicht als ob irgendein anscheinendes Gut nicht wirklich an sich ein Gut wäre, ohne Rücksicht auf die Dinge, die davon abhängen; sondern weil viele Dinge, die teils gut, teils schlecht sind, bisweilen so eng miteinander verbunden sind, daß man sie nicht trennen kann. Obwohl also jedes einzelne Ding für sich nur gut oder nur schlecht ist, so ist doch ihre Gesamtheit teils gut, teils schlecht. Und wenn der größere Teil gut ist, so nennt man die Verbindung gut und erstrebt sie; wenn dagegen der größere Teil schlecht ist, so wird das Ganze von den Einsichtigen wenigstens zurückgewiesen. Unerfahrene, welche die Folgen der Dinge nicht weit genug überschauen, nehmen freilich, was beim ersten Anblick gut erscheint, ohne weiteres hin, um nachher böse Erfahrungen zu machen. Das allein will die Unterscheidung wahrer und scheinbarer Güter besagen.

6. Das höchste Gut ist für jeden die Selbsterhaltung. Denn die Natur hat es so eingerichtet, daß alle ihr eigenes Bestes wünschen. Um das erlangen zu können, müssen sie Leben und Gesundheit wünschen und für beide, soweit es möglich ist, Gewähr für die Zukunft. Auf der anderen Seite steht unter allen Übeln an erster Stelle der Tod; besonders schlimm ist der Tod unter Qualen; am schlimmsten die Leiden des Lebens, die sogar so groß werden können, daß sie, wenn nicht ihr nahes Ende abzusehen ist, uns den Tod als ein Gut erscheinen lassen.

Macht ist, wenn sie bedeutend ist, ein Gut, weil sie uns Mittel zur Lebenssicherung gewährt; darauf aber beruht der Frieden unseres Gemütes. Wenn die Macht nicht bedeutend ist, ist sie unnütz; denn wenn andere gleiche Macht besitzen, so bedeutet sie nichts.

Freundschaften sind ein Gut, da sie nützlich sind.[26] Denn auch Freundschaften tragen zur Sicherheit bei. Daher sind Feindschaften etwas Schlechtes, da sie Gefahren mit sich bringen und Erhaltung und Sicherheit bedrohen.

7. Reichtum, wenn er ungeheuer ist (nach Lucullus ist reich, wer aus eigenen Mitteln ein Heer erhalten könne), ist etwas Nützliches. Er gewährt uns nämlich nahezu alle Mittel zur Sicherung unseres Lebens. Auch mittelmäßiger Reichtum reicht schon hierfür hin; denn er erwirbt Freundschaften; Freundschaften aber dienen zur Lebenssicherung. Wer aber seinen Reichtum dazu nicht verwendet, trägt Haß und Neid ein. Reichtum ist also insofern ein scheinbares Gut.

Reichtum, der nicht ererbt, sondern durch eigenen Fleiß erworben ist, ist ein Gut. Er ist angenehm und erscheint jedem als ein Beweis der eigenen Klugheit. Bedürftigkeit oder auch Armut, die nicht einmal das Notwendigste hat, ist ein Übel; denn es ist ein Übel, das Notwendigste zu entbehren. Armut ohne Bedürftigkeit ist ein Gut; sie bewahrt den Armen vor Haß, Verleumdung und Verfolgung.

8. Weisheit ist etwas Nützliches; denn auch sie trägt zur Lebenssicherung bei. Indessen ist sie auch um ihrer selbst willen erstrebenswert, d.h. etwas Angenehmes. Auch ist sie etwas Schönes; denn sie ist schwer zu erwerben. Unwissenheit ist ein Übel; denn sie nützt uns nichts und hindert sogar, drohendes Unglück vorauszusehen.

Die Begierde nach Reichtum ist größer als die nach Weisheit. Gewöhnlich wird diese sogar nur um jenes willen erstrebt. Besitzen die Menschen dagegen Reichtum, so wollen sie wenigstens den Anschein haben, weise zu sein. Denn der Weise ist nicht, wie die Stoiker behauptet haben, reich. Sondern umgekehrt, wer reich ist, möchte als weise bezeichnet werden.

Weisheit bringt größeren Ruhm als Reichtum. Denn dieser pflegt als ein Zeichen für jene angesehen zu werden. Bedürftigkeit bringt geringere Schande als Torheit. Denn jene hat die Ungunst des Schicksals verschuldet; diese dagegen ist Schuld der Natur. Indessen ist Torheit erträglicher als Bedürftigkeit; denn jene belästigt in ihrem eigenen Elemente (wie man sagt) nicht.[27]

9. Wissenschaft, reine und angewandte, ist ein Gut. Denn sie ist dem Menschen, der von Natur ein Bewunderer alles Neuen, d.h. begierig ist, die Ursachen aller Dinge zu kennen, eine Lust. Daher kommt es, daß die Wissenschaft gleichsam eine Nahrung des Geistes ist und für den Geist dieselbe Bedeutung hat wie die Nahrungsmittel für den Körper; was für den Hungernden die Speise ist, das sind für den wißbegierigen Geist die Erscheinungen. Der Unterschied ist jedoch, daß der Körper von Speisen gesättigt werden kann, während der Geist durch Wissen nie befriedigt wird.

Ferner ist die praktische Wissenschaft für jeglichen insoweit etwas Nützliches, als er unmittelbar in die materielle Welt eingreifen kann. Auch für die Allgemeinheit ist sie von größtem Nutzen, da wir ihr fast alle Hilfsmittel und fast allen Schmuck des Menschengeschlechts verdanken. Man muß aber bedenken, daß nicht alle die Wissenschaft besitzen, die sie zu besitzen behaupten. Wer die Ursachen der Dinge zu ergründen glaubt, indem er nur den Schriften anderer folgt und fremde Meinungen, ohne selbst etwas zu entdecken, abschreibt, taugt gar nichts. Denn etwas Gesagtes zu wiederholen, hat nichts Gutes an sich, sondern im Gegenteil oft das Schlechte, daß es der Wahrheit den Weg verbaut, indem es die Irrtümer der Früheren bekräftigt.

10. Auch die philologischen und historischen Wissenschaften sind ein Gut, auch sie erfreuen den Geist. Sie sind ebenfalls nützlich, besonders Geschichte; denn diese liefert uns die Erfahrungen, auf die sich die Kenntnis der Ursachen stützt, und zwar als Naturgeschichte der Physik, als Staatengeschichte der Bürger- und Sittenkunde, und das, gleichviel ob sie wahr oder falsch ist, wenn sie nur nicht unmöglich ist. Denn in der Wissenschaft sucht man nicht so sehr die Ursachen dessen, was gewesen ist, als die Ursachen dessen, was sein könnte. Auch Kenntnis der Sprachen ist nützlich, die bei Nachbarvölkern gesprochen werden, wegen des Verkehrs und des Handels. Desgleichen Lateinisch und Griechisch als die Sprachen der Wissenschaft, um eben dieser willen.

11. Beschäftigung ist ein Gut; denn sie ist die Bewegung des Lebens. Wenn man gar nichts zu tun hat, dient[28] schließlich ein Spaziergang als Beschäftigung. »Wohin soll ich gehen, was soll ich tun?« so fragen die Unglücklichen, die nicht wissen, was anzufangen. Untätigkeit quält. Die Natur läßt eben keinen Raum und keinen Augenblick unausgefüllt sein.

12. Vorwärtskommen ist etwas Angenehmes, weil es ein Näherkommen zu dem Ziele, d.h. zu etwas Angenehmerem, ist. Fremdes Unglück zu sehen, ist etwas Angenehmes; denn es gefällt, nicht sofern es ein Unglück ist, sondern sofern es ein fremdes Unglück ist. Daher kommt es, daß Menschen zusammenlaufen, um sich Tod und Gefahren anderer anzusehen. Ebenso ist es etwas Unangenehmes, fremdes Glück zu sehen, jedoch nicht sofern es Glück ist, sondern sofern es fremdes Glück ist. Die abbildende Kunst ist etwas Angenehmes; sie ruft nämlich das frühere Urbild zurück. Die Erinnerung aber an Vergangenes ist angenehm, wenn es gut war, weil es gut war, wenn es schlecht war, weil es vergangen ist. Angenehm sind also Musik, Dichtung und Malerei.

Das Neue ist angenehm; denn man erstrebt es als Nahrung des Geistes. Eine gute Meinung von dem eigenen Können zu haben, mit Recht oder mit Unrecht, ist etwas Angenehmes; denn wenn die Meinung berechtigt ist, so bedeutet sie eine große Stärkung; ist sie unberechtigt, so ist sie doch etwas Angenehmes; denn was gefällt, wenn es wirklich ist, gefällt auch, wenn es nur eingebildet ist.

Daher ist ein Sieg angenehm; denn er verschafft einem eine gute Meinung von sich. Auch Spiele und Wettkämpfe aller Art sind angenehm; denn wer kämpft, stellt sich den Sieg vor. Vor allem aber gefallen Wettkämpfe des Geistes; ihr Wert und ihre Bedeutung werden von jedermann anerkannt. Daher ist es etwas Unangenehmes, in einem Wettkampfe des Geistes zu unterliegen.

Gelobt zu werden ist etwas Angenehmes; denn es verschafft uns eine gute Meinung von uns.

13. Schön ist, was auf etwas Gutes deutet oder weist. Daher ist ein Zeichen ungewöhnlicher Macht etwas Schönes. Auch etwas Gutes und Schwieriges auszuführen, ist etwas Schönes; denn es ist ein Zeichen nicht gewöhnlichen Könnens. Eine ausgezeichnete Gestalt ist etwas Schönes;[29] denn sie berechtigt, ausgezeichnete Leistungen jedenfalls zu erwarten. Wohlgestaltet aber ist, was die Gestalt des Dinges hat, das wir in seiner Art als das beste kennen gelernt haben.

Gelobt, geliebt, hochgeschätzt zu werden ist etwas Schönes; denn das sind Zeugnisse für Tüchtigkeit und Macht. Zu öffentlichen Ämtern herangezogen zu werden ist etwas Schönes; denn es ist ein öffentliches Zeugnis der Tüchtigkeit.

In den Künsten sind neue Erfindungen, wenn sie nützlich sind, etwas Schönes; denn sie sind Zeichen ungewöhnlichen Könnens. Unbedeutende Leistungen dagegen sind um so weniger etwas Schönes, je schwieriger sie sind; sie sind zwar Zeichen von Können, aber eines unnützen Könnens, und zugleich das Merkmal eines Geistes, der nichts Großes unternimmt.

Künste von anderen gelernt zu haben, d.h. gelehrt zu sein, ist zwar etwas Nützliches, aber nicht etwas Schönes, da es nichts Ungewöhnliches an sich hat; schließlich gibt es nur wenige Menschen, denen man nichts beibringen kann.

In Gefahren etwas zu wagen, wenn es die Lage erfordert, ist etwas Schönes; denn es ist etwas nicht Gewöhnliches. Wenn es dagegen die Lage nicht erfordert, ist es Torheit, d.h. etwas Häßliches. Überall im Einklang mit seinem Geiste und Berufe zu handeln, ist bei hervorragenden Männern etwas Schönes, als ein Zeichen eines freien Geistes. Im Widerspruch mit ihnen zu handeln, ist bei hervorragenden Persönlichkeiten etwas Häßliches und verrät eine knechtische Gesinnung, die etwas zu verbergen hat. Etwas Schönes aber verbirgt niemand. Das Rechte zu tadeln, ein Zeichen der Unwissenheit, ist etwas Schimpfliches; denn Wissen ist Können. Obendrein zu schmähen, ist noch schimpflicher und das Kennzeichen eines Ungebildeten. Irren ist nichts Schimpfliches, da es allen gemeinsam ist. Einem Gelehrten aber ziemt es nicht, allzuoft zu irren; das widerstreitet seinem Beruf. Selbstvertrauen ist etwas Schönes; denn es ist das Kennzeichen eines Menschen, der sich seiner Tüchtigkeit bewußt ist. Prahlerei ist schimpflich; denn sie geht aus Mangel an Lob hervor. Verachtung nicht bedeutenden Reichtums ist etwas[30] Schönes; denn sie ist das Zeichen eines Menschen, der Geringes nicht bedarf. Liebe zum Geld ist etwas Schimpfliches; denn sie ist das Zeichen eines Menschen, der durch Lohn zu allem gebracht werden kann. Außerdem ist sie ein Zeichen der Bedürftigkeit auch bei reichen Menschen.

Einem, der um Verzeihung bittet, zu vergeben, ist etwas Schönes; denn es ist ein Zeichen von Selbstvertrauen. Gegner durch Wohltaten zu versöhnen, ist etwas Schimpfliches; denn es ist ein Sich-selbst-loskaufen und ein Erkaufen des Friedens, somit ein Zeichen der Bedürftigkeit. Denn die Menschen pflegen nur zu kaufen, dessen sie bedürfen.

14. Vergleicht man verschiedene Güter und Übel, so ist bei sonst gleichen Verhältnissen das ein größeres Gut oder Übel, welches längere Dauer hat, wie das Ganze größer als der Teil ist; aus demselben Grunde ist auch das größer, welches bei sonst gleichen Verhältnissen intensiver ist. Denn mehr und weniger unterscheiden sich wie größer und kleiner. Und bei sonst gleichen Verhältnissen ist das ein größeres Gut, welches für mehr Menschen als das, welches für weniger Menschen gut ist. Denn das Allgemeinere und das Speziellere unterscheiden sich wie das Größere und das Kleinere.

Ein Gut wieder zu erlangen, ist besser, als es nicht verloren zu haben; denn es wird richtiger geschätzt durch die Erinnerung an das Übel. Daher ist es besser, gesund zu werden, als nicht krank geworden zu sein.

15. Über die Genüsse, bei denen es eine Befriedigung gibt, wie die leiblichen Genüsse, will ich nicht sprechen, weil bei ihnen der Genuß durch den Überdruß aufgewogen wird und weil sie allzu bekannt sind und einige von ihnen unsauber sind. Das höchste Gut oder, wie man es nennt: Glückseligkeit oder ein letztes Ziel kann man in diesem Leben nicht finden. Denn gesetzt, das letzte Ziel ist erreicht, so wird nichts mehr ersehnt, nichts erstrebt. Daraus folgt, daß es von diesem Zeitpunkte an für den Menschen kein Gut mehr gibt, ja daß der Mensch überhaupt nicht mehr empfindet. Denn jede Empfindung ist mit einem Begehren oder Widerstreben verbunden, und nicht empfinden heißt: nicht leben.[31]

Das größte der Güter aber ist ein ungehindertes Fortschreiten zu immer weiteren Zielen. Der Genuß selbst des Begehrten ist, während wir genießen, ein Begehen das, wie wir stückweise genießen, stückweise fortgeht. Denn das Leben ist beständige Bewegung, die in sich selbst kreist, wenn sie geraden Weges nicht fortschreiten kann.[32]

Quelle:
Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen und Bürger. Leipzig 1918, S. 23-33.
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