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Epische Dichtung – Unbestimmtheit des gewöhnlichen Begriffs derselben

[248] Dass Herrmann und Dorothea überhaupt genommen zur Gattung der epischen Gedichte gehört, ist so offenbar, dass wir es auch schon durch das ganze bisherige Raisonnement hindurch stillschweigend vorausgesetzt haben. Niemand kann abläugnen, dass es die Darstellung einer Handlung und zwar die einer Handlung von ihrem Anfange bis zu ihrem Ende ist. Aber von einem epischen Gedicht bis zur eigentlichen Epopee ist noch beinah eben[248] so weit, als von einem bloss tragischen zur Tragödie, und wir kommen daher erst jetzt zu der genaueren Untersuchung, in wie fern es auch diesen letzteren stolzeren Namen verdient?

Was ästhetische Beurtheilungen in der That schwierig macht, ist der Mangel einer vollständigen, gar nicht (das wäre zu viel verlangt) allgemeingültigen, aber nur consequenten und mit den gerechten Ansprüchen eines ächten Kunstsinns zusammenstimmenden Aesthetik, auf deren Gesetze man sich mit wenigen Worten beziehen könnte. So lange man eine solche entbehrt, befindet man sich immer in der unangenehmen Verlegenheit, die einzelne Beurtheilung durch die Entwicklung theoretischer Grundsätze unterbrechen zu müssen, und so müssen auch wir hier der Theorie des epischen Gedichts eine eigne vorläufige Erörterung widmen. Um uns aber durch diese Abschweifung nicht zu weit von unsrem Gegenstand zu entfernen, werden wir uns begnügen, bloss den Begriff desselben zu bestimmen und aus demselben nur seine höchsten und daraus zunächst herfliessenden Gesetze abzuleiten.

Fast bei keiner andern Dichtungsart ist man so sehr um eine genügende Definition verlegen, als bei der epischen. Die mannigfaltigen Gattungen erzählender und beschreibender Gedichte sind so nahe mit einander verwandt und scheinen sich sich so wenig wesentliche Merkmahle von einander zu unterscheiden, dass es schwer ist, dasjenige zu bestimmen, was die eigentliche Epopee charakterisirt. Diese Schwierigkeit wächst noch dadurch, dass die vorhandenen Muster dieser Dichtungsart genau genommen so wenig mit einander gemein haben und höchstens bloss darin, dass sie insgesammt Erzählungen von Handlungen sind, kaum aber nur darin, dass jedes derselben auch nur die Darstellung einer einzigen wäre, mit einander übereinkommen. Man hat daher von jeher andre und andre und meistentheils bloss minder wesentliche Nebenbegriffe, wie z.B. die Mitwirkung der Götter, den Gebrauch des Wunderbaren, die Nothwendigkeit heroischer Personen, die sehr unbestimmte Vorstellung der Grösse und Wichtigkeit der[249] Handlung u.s.f. der Definition mit beigemischt und dagegen nicht genug dasjenige herausgehoben, worin eigentlich das Wesen der Epopee besteht und woraus die wichtigsten Gesetze dieser Dichtungsart herfliessen.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 248-250.
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