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Zustand allgemeiner Beschauung entgegengesetzt dem Zustande einer bestimmten Empfindung

[252] Es giebt offenbar in dem menschlichen Gemüthe zwei Zustände, welche sowohl in Rücksicht auf ihren Gegenstand, als in Rücksicht auf die Veränderungen, die sie in uns hervorbringen, unter allen am weitesten von einander verschieden sind und alle übrigen, deren dasselbe fähig ist, wie unter zwei grosse Classen zusammenordnen: den Zustand allgemeiner Beschauung und den einer bestimmten Empfindung.

In dem einen herrscht das Object, in dem andern das Subject. Jener, in seiner grössesten Vollkommenheit genommen, entsteht durch die Verbindung der äussern Sinne mit unsrem intellectuellen Vermögen, das mit ihnen darin übereinkommt, dass es sich von dem Gegenstande vollkommen scharf und deutlich absondert und diesen letzteren bloss in Beziehung auf ihn selbst und ohne alle eigennützige Absicht auf eigenen Gebrauch oder Genuss betrachtet. Dieser entspringt aus der verbundenen Thätigkeit des Gefühls und des Begehrungsvermögens, und alle Objecte werden in demselben auf das eigne Bedürfniss oder die eigne Neigung bezogen. Jener zeichnet sich in Rücksicht auf den Gegenstand durch Umfang und Totalität, in Rücksicht auf die innere Stimmung durch Ruhe aus; wer sich in demselben befindet, sucht in der Menge der Objecte durch Beschränkung der einen durch die andern die individuelle Form eines jeden, in ihrer Verbindung Zusammenhang, in ihren Beziehungen Wechselwirkung, in ihrem Seyn und Wesen überhaupt Wirklichkeit und durch die Festigkeit ihrer gegenseitigen Verbindungen wenigstens bedingte Nothwendigkeit. Die Empfindung hingegen, die immer von dem bestimmten Verhältniss ihres Zwecks zu ihrer Begierde ausgeht, flieht alle Beschränkung, kennt nur Einen Gegenstand, welchem alles andre weichen muss, strebt nach einseitiger Befriedigung, lebt in der Möglichkeit und sucht bloss Wirklichkeit.[252]

In dem Zustande der Beschauung liegt von selbst immer etwas Allgemeines und Idealisches, da unsre intellectuelle Natur, die nie auf etwas andres hinausgehen kann, darin hauptsächlich thätig ist. Die Empfindung behält auch dann noch, wenn sie durch die praktische Vernunft oder die Einbildungskraft zu vollkommner Reinheit geläutert ist, wenigstens die Form ihres ursprünglichen Charakters. Denn die Beziehung auf das Subject bleibt darin, unter jeglicher Umwandlung, immer dieselbe.

Wenn daher die Kunst diese beiden Zustände dichterisch benutzen will, so hat sie in jedem zweierlei zu vertilgen: in dem ersteren das prosaische Détail der von Phantasie entblössten Beobachtung und die Trockenheit der intellectuellen Ansicht, in dem letzteren die eigennützige Beziehung auf den wirklichen Besitz und die daraus entstehende Beschränkung des Gegenstandes selbst. Jenem muss sie die lebendige Sinnlichkeit, diesem die idealische Leichtigkeit der Phantasie einhauchen.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 252-253.
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