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Diese Gattung beschreibender Gedichte hat einen beschränkteren Zweck, als die Epopee und steht ihr in dichterischer Vollendung nach

[285] Wer bloss erzählt, hat mehr oder weniger nur die Absicht, eine Begebenheit vor die Augen zu stellen; er verbindet damit allenfalls noch die andre, entweder eine Lehre einzuschärfen, und dann nähert sich die Erzählung der Fabel, oder eine bestimmte Empfindung zu erregen, und dann ist sie mehr lyrisch. Aber er geht auf nichts Allgemeines, auf nichts, was dem Menschen irgend das Ganze seiner Lage und seiner Bestimmung vor die Seele führen könnte, am allerwenigsten darauf hinaus, auf eine dichterische Weise den Zustand reiner Betrachtung zu wecken.

Diess nun finden wir auch in allen den Gedichten, von denen wir eben sprachen, bestätigt. In Hero und Leander wird die Geschichte zweier Liebenden erzählt, die Kühnheit, mit welcher der Geliebte die Gefahren der Nacht und des Meeres verachtet, um zu dem Gegenstand seiner Liebe zu gelangen, die Grausamkeit des Schicksals, das ihn den Wellen zur Beute giebt. So viel Grosses und Schönes auch in diesem Stoffe liegt, so erregt er schon unsre Empfindung zu stark, um uns die Ruhe zu erlauben, welcher unser Geist immer bedarf, wenn er sich zu der Höhe der Betrachtung schwingen, wenn er einen vollkommnen allgemeinen Ueberblick gewinnen soll. Ein solcher Stoff kann nicht anders, als auf eine spielende, kalte, bloss zierliche und daher immer kleinliche Manier, wie der Griechische Dichter es wirklich gethan hat, oder erhaben und rührend und also wahrhaft tragisch behandelt werden. In dem ersteren Falle hat er nicht die Natur und die Wahrheit, in dem letzteren nicht die Ruhe und mithin in keinem von beiden die Grösse und den Umfang des epischen Gedichts. Noch weniger aber dürfen sich mit diesem die[285] kleineren Erzählungen messen, die man nur gleichsam Bruchstücke nennen kann und die oft weniger den Namen epischer, als bloss historischer Fragmente verdienen. Sie schildern einzelne Handlungen, z.B. Herkules Löwenkampf oder eine andre ähnliche Begebenheit, sie stellen dieselben als einzelne Gemählde auf, versetzen uns zwar ganz und lebendig in ihre Gegenwart, aber halten uns auch in diesem engen Kreise gleichsam gefangen, ohne uns darüber hinaus auf einen höhern Standpunkt zu führen.

Indess erfordert die gerechte Beurtheilung dieser einzelnen Stücke eine nicht geringe Vorsicht. Da die Einheit der Epopee, wie wir gleich noch näher sehen werden, von der Art ist, dass dieselbe eben so wohl aus einzelnen, vorher für sich bestehenden Theilen zusammengesetzt, als auf einmal als ein Ganzes gebildet werden kann; da es mehr als wahrscheinlich ist, dass selbst die vorzüglichsten epischen Gedichte, die wir besitzen, die Homerischen, auf diese Weise entstanden sind; so kann der epische Charakter jener einzelnen Stücke grossentheils erst durch ihre Zusammensetzung entspringen oder wenigstens gewiss erst in ihr vollkommen sichtbar werden. Zwar muss der geübte Tact des Kenners auch schon in dem einzelnen Theil, ja in wenigen Versen diese Tauglichkeit, ein Glied in der Organisation eines epischen Ganzen abzugeben, zu beurtheilen im Stande seyn, und wo sie so deutlich ins Auge fällt, wie z.B. in den grösseren Homerischen Hymnen, da wird sie nie, auch von dem minder Erfahrnen, verkannt werden. Je schwächer sie sich hingegen ankündigt, desto mehr geht natürlich diese Kritik ins Feine und Ungewisse.

Bei solchen nicht epischen Erzählungen ist nun – und diess führt uns auf den zweiten Unterschied derselben von der Epopee – der Dichter in dem Augenblick, da seine Phantasie sie hervorbringt, nicht von der hohen Begeisterung hingerissen, welche, die ganze Seele mit sich erhebend, ihr nicht mehr erlaubt, bei einzelnen Gestalten stehen zu bleiben, sondern ihr erst, wenn sie das Ganze mit ihrem Sinn und ihrer Empfindung umfasst, eine energische Ruhe gewährt. Wo der Dichter wirkt, ist es immer die Einbildungskraft,[286] die allein geschäftig ist, welche die Stimmung seiner Seele hervorruft, die ihr selbst analog ist, die ihn höher hinaufführt oder auf einer niedrigeren Stufe verweilen lässt. Wenn wir im Vorigen bei Gelegenheit der Methode der Ableitung aller Dichtungsarten den Zustand der Seele im Allgemeinen von derjenigen Modification absonderten, welche ihm die Einbildungskraft und die Kunst giebt; so darf man sich darum nicht vorstellen, dass dieselbe diesen Zustand schon vorfand und nur bearbeitete. Vielmehr ist sie es allein, welche ihn hervorbringt, aber freilich darin der individuellen Natur des Gemüths folgt, die eben dadurch auch die ihrige ist.

Kein erzählendes Gedicht, das, wie wir im Vorigen sagten, unter der Epopee steht, wird daher die hohe dichterische Schönheit besitzen, welche dieser immer eigen ist, keins in diesem Verstande ein vollkommnes, in sich geschlossenes Ganzes bilden. Zwar wird ihm die Einheit nicht fehlen dürfen, welche jedes Kunstwerk erst zu einem ächten Product der Einbildungskraft macht; aber es wird nicht eine so vollendete, so sorgfältig ausgebildete, in allen ihren Theilen organisirte Gruppe darstellen, es wird nicht in dem reinen und hohen objectiven Sinne gearbeitet seyn, weil es nicht aus einer so reinen und hohen objectiven Stimmung entspringt.

Zwischen dieser ganzen Gattung erzählender Gedichte und der Epopee ist daher ein fester und bestimmter Unterschied. Sie sollen das Gemüth bloss belehren, rühren, ergötzen oder beschäftigen; aber sie sind weder bestimmt noch fähig, es in den Zustand hoher und reiner sinnlicher Betrachtung zu versetzen, welcher allein das Werk des epischen Dichters seyn kann.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 285-287.
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