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Jener unbestimmte Begriff der Epopee wird bestimmt, sobald man ihn auf den des Heroischen zurückführt

[293] Es ist daher unläugbar gewiss: die Sphäre, woraus der Stoff, die Handlung, die Personen der Epopee genommen sind, ist für die Wirkung auf den Leser auf keine Weise gleichgültig.

Aber wenn diess nicht auf einen unbestimmten Begriff von bloss relativer Grösse der Begebenheit und Mannigfaltigkeit der Bewegung hinauslaufen oder der Dichter nicht gezwungen seyn soll, bloss und allein die vorhandenen Muster nachzuahmen und schlechterdings dieselben[293] Mittel, sie mögen nun jetzt noch dieselbe Kraft der Wirkung besitzen oder nicht, zu gebrauchen; wenn es möglich seyn soll, dem Merkmahl des Heroischen, das hier der Epopee beigelegt wird, einen bestimmten Begriff unterzuschieben, welchem jeder Dichter auf verschiedene Weise und durch mannigfaltige Mittel Genüge leisten kann; so muss man sich nicht an solche einzelne Eigenschaften des Stoffs, sondern an die Stimmung halten, welche er hervorbringen soll, und dann wird man nothwendig zu dem sinnlichen Heroismus gelangen, den wir im Vorigen genauer bestimmt haben.

Und in der That ist es dieser Heroismus, zu welchem die einfachsten und höchsten Muster der Epopee, die Ilias und Odyssee, begeistern; man fühlt sich in ein ehrwürdiges Heldenalter zurückversetzt, man sieht die Erde und den Olymp zugleich in Bewegung, der grösseste Theil des Menschengeschlechts, die verschiedensten Völkerstämme gehen dem Blick vorüber, man sieht lauter grosse, lauter hell beleuchtete, lauter so sinnlich gebildete Massen, dass sie wieder auch in der Phantasie nur Gestalten, nur Bewegung, nur sinnliche Objecte erregen; man empfindet es lebhaft, dass der Sänger geglaubt hat, von dem wichtigsten Ereigniss seiner Zeit erfüllt zu seyn und darum auf die allgemeinste Theilnahme rechnen, mit dem gerechtesten Stolze auftreten zu dürfen.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 293-294.
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