LXXXIII

Gesetz durchgängiger Stetigkeit

[311] 2. Das Gesetz durchgängiger Stetigkeit. Diess ist bloss eine doppelte Anwendung des vorigen auf den Begriff der Handlung und der Gestalt, deren fortlaufende Linien man als Bewegungen der Umrisse betrachten kann. In dieser letzteren Bedeutung hat der epische Dichter diess Gesetz mit dem Mahler und Bildner, in der ersteren eigentlich mit keiner andern Kunst gemein. Zwar zeigt die Musik und auf eine noch sinnlichere Weise der Tanz allerdings auch eine solche Stetigkeit der Bewegung, und besonders in dem letzteren[311] ist es eine der bezauberndsten Schönheiten, wenn in einem nirgends unterbrochenen Fluss immer Gestalt aus Gestalt, Bewegung aus Bewegung, Gemählde aus Gemählde entspringt. Bei beiden ist diess indess nur stellenweise der Fall; ihre eigentliche Stetigkeit besteht darin, dass sich aller, auch unterbrochener, auch plötzlich abspringender Wechsel im Einzelnen nur in Einem Mittelpunkte vereinige. Denn beide drücken Empfindungen aus, die, ob sie gleich immer aus derselben Stimmung der Seele hervorströmen, für sich selbst dennoch auch in der Natur nicht immer eine so stetige Reihe bilden. Es ist also genug, wenn auch die Kunst sie nur in diesem Mittelpunkte verknüpft.

Dem epischen Dichter wird die Beobachtung einer vollkommenen Stetigkeit auf eine doppelte Weise durch den Begriff der Handlung und den der Erzählung zur Pflicht. Für den tragischen, der seine Handlung unmittelbar darstellt, hat diess Gesetz eine bei weitem andre Bedeutung. Er schildert das wirkliche Leben mit allen den Lücken, den Unterbrechungen, den Ueberraschungen, die wir in jeder Begebenheit wahrnehmen, von der wir unmittelbare Augenzeugen sind, die aber der epische Dichter, wie der Geschichtschreiber, nothwendig ausfüllt und überarbeitet, indem er das Ganze in Eine Erzählung verknüpft. Die Handlung muss also ununterbrochen fortgehn; kein Umstand darf absichtlich hingestellt scheinen; unabhängig von dem Zweck, zu dem er gebraucht ist, muss er schon für sich selbst als eine nothwendige Folge aus dem Vorigen herfliessen; der Zusammenhang des Plans muss so fest und so innig seyn, dass der Leser selbst ihn nicht anders hätte entwickeln, so übereinstimmend mit den physischen und moralischen Gesetzen der Natur, dass die Begebenheit in der That nicht anders hätte fortlaufen können; nur die erste Anlage, auf die sich das Uebrige gründet, ist der Willkühr des Dichters unterworfen, alles Folgende bestimmt sich lediglich von selbst durch einander.

Diess ist die sinnliche objective Stetigkeit der Handlung und des Plans. Aber um die subjective in dem Gemüthe des Lesers hervorzubringen, welche eigentlich von ihm gefordert[312] wird, muss der epische Dichter noch mehr thun. Ueberall nemlich, wo er eine Mannigfaltigkeit von Bestimmungen in den Charakteren, Gesinnungen, Empfindungen anwendet, muss er sie gerade eben so durch unendlich kleine allmählige Abstufungen von einander trennen, allen grellen Contrast vermeiden und in ihrer Verschiedenheit selbst immer nur den Reichthum und den Umfang der Gattung darstellen, zu der sie alle gemeinschaftlich gehören. Denn darin besteht die wahre Stetigkeit einer Reihe von Gliedern, dass durch die Verschiedenheit der einzelnen nur die Einheit noch klarer wird, die sie alle in eine zusammenhängende Kette verbindet.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 311-313.
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