VI

Nothwendigkeit, in der sich jeder ächte Künstler befindet, immer das Idealische zu erreichen

[143] Sobald man das Wesen der Kunst in den Gesetzen der Phantasie, durch die sie allein wirksam ist, aufsucht, gelangt man nothwendig auf den Begriff des Idealischen.

Denn so unbegreiflich auch das Verfahren des Künstlers ist, so gewiss darin immer Etwas – und gerade das Wesentliche – übrigbleibt, das der Dichter selbst nicht zu verstehen und der Kritiker nie auszusprechen vermag; so ist indess doch immer so viel gewiss, dass der Künstler zuerst von nichts anderm ausgeht, als nur etwas Wirkliches in ein Bild zu verwandeln; dass er aber bald erfährt, dass diess nicht anders, als durch eine Art lebendiger Mittheilung, nur dadurch möglich ist, dass er gleichsam einen elektrischen Funken aus seiner Phantasie in die Phantasie andrer überströmen lässt, und diess zwar nicht unmittelbar, sondern so, dass er ihn einem Object ausser sich einhaucht.

Diess ist der einzige Weg, der ihm offen liegt, und ohne es irgend zu wollen, bloss indem er seinen Dichterberuf erfüllt und die Ausführung seines Geschäfts der Phantasie überlässt, hebt er die Natur aus den Schranken der Wirklichkeit empor und führt sie in das Land der Ideen hinüber, schaft er seine Individuen in Ideale um.[143]

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 143-144.
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