XCIII

Stetigkeit in den nach einander erregten Empfindungen – Ausnahme davon – Mittel des Apothekers gegen die Ungeduld

[334] Eben die Stetigkeit und Einheit, die in dem Plan des Gedichts herrscht, finden wir auch in den Empfindungen, die nach einander erregt werden, wieder. Alle kommen in der reinsten und menschlichsten Theilnahme an der Bildung und an dem Glücke der Menschheit, in der Gesinnung mit einander überein, die, billig in der Beurtheilung Andrer, uns bloss streng gegen uns selbst macht, aber uns doch immer in ununterbrochener Thätigkeit und heitrem Muthe erhält. Im Einzelnen läuft jede immer sanft in die andere über. Wenn das Gespräch eine zu ernsthafte oder rührende Gestalt annimmt, so giebt ihm der Apotheker eine leichte und lustige Wendung; wenn dieser uns zu sehr in seinen Kreis herabzieht, so führt uns der Geistliche zu einer allgemeineren philosophischen Ansicht. Besonders findet sich dieser Uebergang vom Pathetischen durch das Komische zur blossen Betrachtung eben so häufig, als er auch im Leben selbst durch die zufällige Mischung der Charaktere und selbst durch eine gewisse innre Nothwendigkeit in dieser Folge fast beständig zurückkehrt.

Nur in einer einzigen Stelle ist ein sichtbarer Sprung, ein gewissermassen greller Contrast; aber da ist er auch nothwendig, da fordert ihn die Veranlassung selbst mitten in der sonst nirgends unterbrochenen Stetigkeit der[334] epischen Gattung. Unsre Leser errathen gewiss, dass wir von dem Mittel gegen die Ungeduld reden wollen, das der Apotheker noch im Alter seinem seligen Vater verdankt; keiner von ihnen wird über diese Stelle leicht ohne allen Anstoss weggelesen, jeder sich gefragt haben, was es eigentlich ist, das ihn so sonderbar daran trift. Wir wollen versuchen, an unsrem Theil von dem Verfahren des Dichters Rechenschaft zu geben.

Herrmanns Eltern sassen unruhig mit den beiden Freunden da und erwarteten mit Ungeduld die Ankunft ihres Sohns und den Ausgang der Begebenheit. Die Wichtigkeit dieser Entscheidung liess kein andres Gespräch aufkommen; die Mutter vermehrte das Uebel noch durch laute Klagen, durch Hin- und Herlaufen und durch Vorwürfe, die sie den Freunden machte, die ihn allein gelassen hatten. Besonders wuchs dadurch der Unmuth des schon heftigen Vaters. So müssen wir uns die Lage in dem Zimmer denken und so schildert sie uns der Dichter.

In dieses Zimmer soll nun, wenige Augenblicke nachher, das liebende Paar eintreten. Soll jetzt der Dichter diesen Augenblick durch das Unangenehme dieser allgemeinen Verstimmung verderben? Unmöglich. Er muss vielmehr ihren Empfang vorbereiten; man muss an dem vollen Eindruck auf alle Gemüther fühlen, dass es Herrmann und Dorothea sind, die hereintreten. Was giebt es aber für einen Uebergang aus diesem Zustande in einen andern, ehe noch die Ursache desselben aufgehört hat? Offenbar keinen andern, als einen gewaltsamen. Wodurch kann er bewirkt werden? Offenbar nur durch etwas Grosses und in die Augen Fallendes, nur durch einen grellen und harten Contrast. Denn da die Aufmerksamkeit immer allein auf die beiden Hauptfiguren gerichtet bleiben soll, so muss der Dichter suchen, die Veränderung hervorzubringen, ohne doch dem Gegenstande, den er dazu braucht, eine eigne Wichtigkeit einzuräumen. Gerade die Veränderung also ist es, die erfühlbar machen muss, und darin besteht eben das, was wir Contrast nennen.

Wenn man die Aufgabe auf diese Weise stellt, so bewundert[335] man mit Recht, wie glücklich der Dichter das Mittel gefunden hat, sie zu lösen. Das Bild des Todes ist es, das er wählt und das unter allem, was sich ihm darbieten konnte, gerade das einzige Passende war. Denn indem es zugleich den doppelten Gedanken der Vernichtung und des Lebens herbeiführt, schüttelt es durch den ersteren das Gemüth aus jedem Zustande auf, in welchem es sich immer befinden möchte, und lässt durch den letzteren plötzlich auf die augenblicklich dadurch hervorgebrachte Leere die schönste Fülle nachfolgen. Auch benutzt unser Dichter beide Seiten gleich vollkommen, scheuet sich nicht, uns zuerst den Tod in seiner ganzen Grässlichkeit auf eine recht Gothische Weise in der Enge des Sarges, der Schwärze der Farbe, der Gleichgültigkeit der Arbeiter zu zeigen, die das Haus, das einen Menschen auf ewig in sich verbergen soll, mit eben der Gleichgültigkeit, wie einen gewöhnlichen Hausrath, verfertigen, und sammelt hernach die ganze Stärke seiner Sprache, um das Leben in seiner schönsten Fülle und Kraft zu schildern. Unmittelbar also aus der unvortheilhaftesten Stimmung zum Empfange des Brautpaars hat er die beste und erwünschteste hervorgerufen.

Wie treflich sind aber auch hier wieder alle übrigen Umstände behandelt! Wie anschaulich sehen wir, dem Apotheker gegenüber, die Wohnung des Tischlers; wie geschäftig arbeiten Meister und Gesellen; wie passend ist die sonderbare Erzählung dem Apotheker, die herrliche Anwendung dem Geistlichen in den Mund gelegt; wie hübsch ist die ganze Fabel ersonnen! Denn was könnte in der That besser den Ungeduldigen zurechtweisen, als die Nähe des Todes und die Schnelligkeit der Zeit, die sein thörichter Unverstand noch gewaltsam vor sich wegzutreiben eilt?

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 334-336.
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