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Verhältniss der Cultur und einer cultivirten Zeit zu dem epischen Gebrauch

[339] Daher ist nichts dem epischen Geist in so hohem Grade zuwider, als die blosse Cultur. Denn sie ist nichts Selbstständiges, eine blosse unbestimmte Tauglichkeit zu allem Möglichen; keine Kraft, ein blosser Besitz; nichts Lebendiges, ein todter Schatz, der, wenn er Nutzen stiften soll, erst gebraucht werden muss. Sie geht aber auch noch darauf aus, Selbstständigkeit, Kraft und Leben überall zu tödten, wo sie es findet. In dem Augenblick also, da der Mensch Cultur sucht, muss er ihr auch entgegenarbeiten, in dem Augenblick, da er, das Gebiet der blossen Natur verlassend, in ihr Gebiet hinübertritt, beginnt für ihn ein Kampf, der nicht eher geendigt ist, als bis er sie mit der Natur in Uebereinstimmung gebracht hat. Denn ohne die Möglichkeit einer solchen Schlichtung des Streits durch nachfolgende Harmonie wäre es thöricht, sich überhaupt in denselben einzulassen. Die ursprüngliche und lebendige Kraft muss also durch die Cultur sich bereichern, dagegen[339] aber ihrer unbestimmten Tauglichkeit ein bestimmtes Ziel geben und das Todte nach und nach in Leben verwandeln. Nur so wird der cultivirte (bloss bearbeitete) Mensch von dem bloss natürlichen zum gebildeten.

Alle Cultur nemlich ist ein Werk des abgesondert wirkenden Verstandes. Nun üben, ohne die Ausbildung desselben, die Dinge um uns her eben so wohl ihren Einfluss auf unsre Empfindungen aus, erregen eben so wohl unsre Neigungen und Leidenschaften. Aus beidem aber entstehen unsre Gesinnungen. Es ist also ein Charakter möglich, auf dessen Bildung der blosse Verstand gar keinen bedeutenden Einfluss gehabt hat; die reine Natur hat allein auf den reinen Menschen eingewirkt. Wir empfinden und begehren eben so gut, als nachher; aber das, was auf uns ein-und was aus uns zurückwirkt, und die Art, wie diess geschieht, ist uns einzeln nicht klar und verständlich. Diess ist die Periode der blossen Natur.

Unser Verstand entwickelt sich, eine tiefere Einsicht beginnt, wir unterscheiden uns deutlicher von dem Objecte und ein Object von dem andern. Wir verstehen besser, was mit uns vorgeht, aber wir lassen auch unsern Empfindungen weniger natürliche Freiheit, und so lange also unsre Cultur noch unvollständig und einseitig ist, verderben und verdrehen wir unser gesundes und gerades Gefühl. Diess ist die Periode der blossen Cultur.

Unsre Einsicht erweitert sich, wir geben uns, besser über uns selbst belehrt, unsre natürliche Freiheit wie der, kehren von den Verirrungen, zu denen uns eine einseitige Cultur verführt hatte, auf die Spur der Natur zurück; wir werden nun wieder zu eben dem, was wir waren, ehe wir ausgingen, aber wir selbst und die Welt sind uns nun verständlich und klar und diess bessere und vollere Verstehen hat zugleich unserm Gefühl und unsern Neigungen eine andre Gestalt mitgetheilt: sie sind verfeinert worden, ohne eigentlich in ihrem Wesen verändert zu werden. Diess ist die Periode der vollendeten Bildung.

In dieser letzten Periode kann nun zwar der epische Dichter den Menschen wieder aufnehmen und so auf einmal[340] den doppelten Vorzug der Natur und der Cultur vereinigen. In gewissem Grade thut er diess auch wirklich. So hat der unsrige z.B. Dorotheen und dem Richter eine sehr hohe, aber eine durch Begebenheiten und Erfahrung, nicht durch Wissen und Studium hervorgebrachte gegeben. Doch abgerechnet, dass durch eine solche Beimischung einer mannigfaltigeren Bildung die dichterische Wirkung nur wenig gewinnt, so wird er auch noch, sich jenes Vortheils ganz zu bedienen, durch etwas Andres verhindert.

Das Uebergewicht der Cultur giebt unsrer ganzen Lebensart eine gewissermassen unnatürliche und künstliche Gestalt und einen ähnlichen Charakter tragen auch die Begebenheiten unsrer Zeit an sich. Da sie eine Menge neuer Bedürfnisse weckt und vor allem darauf ausgeht, die möglichst grosse Zahl der Zwecke mit dem möglichst kleinen Aufwande von Mitteln zu erreichen, so hat sie zwischen die Kraft des Menschen und das Werk, das er dadurch hervorbringt, eine Menge von Werkzeugen und Mittelgliedern gesetzt, vermöge deren ein Einziger mit geringerer Anstrengung eine grosse Masse bewegen kann. Der Mensch erscheint also seltner als die einzige Ursache einer Begebenheit und noch seltner als die unmittelbare. Er handelt nicht allein oder nicht frei oder wenigstens nicht selbst und geradezu. Das Zusammenwirken der Menschen und Ereignisse ist so vielfach und mächtig geworden, dass wir weit öfter den Zufall – das Zusammentreffen kleiner, für sich nicht bemerkbarer Umstände – als den Entschluss Einzelner herrschen sehen; die Ausführung der ausserordentlichsten Unternehmungen hängt mehr von der klugen Berechnung der Umstände und einer geschickten Anlegung des Plans, als von der Kraft und dem Muth des Charakters ab. Der reine Mensch für sich vermag nur wenig mehr über den Menschen und nichts über den Haufen; er muss immer durch Massen handeln, sich immer in eine Maschine verwandeln. Wenn noch eine Energie mächtig ist, so ist es allein die Energie der Leidenschaften, und die Leidenschaften selbst verlieren durch kleinliche Eitelkeit und kalten Egoismus von ihrer furchtbaren[341] Naturgrösse. Dadurch ist ein grosser Charakter überhaupt oder doch wenigstens die Stimmung seltner geworden, ihn in Andern zu finden oder ihn sich selbst zuzutrauen.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 339-342.
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