XCVI

Möglichkeit der heroischen Epopee in unsrer Zeit

[342] Bei dieser unpoetischen Lage unsrer Zeit hat der Dichter nichts Eiligeres zu thun, als uns von da weg in eine Welt zu retten, die uns dem glücklicheren Alterthume näher führt; er muss daher seinen Stoff aus demjenigen Theil der Gesellschaft hernehmen, in welchem die ursprüngliche Natur noch die Cultur überwiegt, und ihn überhaupt mehr im bürgerlichen, als im öffentlichen Leben aufsuchen; und diess ist es, wodurch die heroische Epopee jetzt beinah zu einer unmöglichen Aufgabe wird.

Einen antiken Stoff dürfte der epische Dichter nicht leicht, so wie der tragische wählen; dieser hat nur einen einzelnen Vorfall, eine einzelne Leidenschaft zu schildern, der er, da sie durch alle Zeiten hin gleich menschlich bleibt, immer die Farbe der Wahrheit geben kann, und gewinnt nun einen, schon vor ihm in dem Geiste seiner Zuschauer poetisch gebildeten Stoff. Jenem aber, der das ganze Leben seiner Helden zugleich mit allem, was sie umgiebt, schildern soll, der bei weitem nicht mit der gleichen Willkühr Züge aus seinem Bilde weglassen oder andre hinzufügen darf, würde es auf diesem Boden immer an Natur und pragmatischer Wahrheit mangeln. Wo aber findet er nun in der neuem Geschichte eine eigentlich epische Handlung, eine solche, in welcher der Mensch allein und unmittelbar handelnd und zugleich als Held auftritt? Gesetzt indess, er fände auch diese, so bleibt noch immer ein andres, beinah unüberwindliches Hinderniss übrig. Eben die Cultur, von der wir im Vorigen sprachen, hat in unsern Handlungen einen Unterschied eingeführt, in dem sie, ganz unabhängig von der natürlichen moralischen Würdigung, einem bloss künstlich verabredeten[342] Maassstab des Schicklichen und Würdigen unterworfen werden. Jede bloss körperliche Beschäftigung, alles, was zum bloss gewöhnlichen Leben gehört, ist diesen Begriffen nach unanständig und des gebildeten Mannes unwürdig; alles diess muss er andern äusserlich und innerlich minder vom Schicksal Begünstigten überlassen. Wie soll nun der epische Dichter diese Forderung mit dem Gesetze der höchsten Sinnlichkeit, der ununterbrochenen Stetigkeit reimen? soll er seinen Helden als eine Puppe zeigen, die, immer von Andern bedient, für sich selbst nur durch Anordnen und Gebieten, also durch Entschlüsse und Reden thätig erscheint? oder soll er immer nur die Masse, die ihn umgiebt, immer also nur Begebenheiten, nicht Handlungen schildern, ihn selbst aber, gleich einem Gott aus der Wolke, nur dann hervortreten lassen, wann er einen entscheiden den Streich auszuführen im Stande ist?

Bis also das epische Genie durch die That das Gegentheil beweist, kann man schon hiernach, ohne noch an das Wunderbare, dessen sie schwerlich entbehren könnte, zu denken, die heroische Epopee in unsern Tagen mit vollkommenem Recht unter die Zahl der Unmöglichkeiten rechnen; und es bleibt daher so lange nichts andres übrig, als alle epischen Stoffe immer nur aus dem Privatleben und zwar aus derjenigen Menschenclasse zu nehmen, die wirklich auch jetzt noch natürlicher, einfacher und antiker lebt. Dass hierbei in der That in Rücksicht auf die Charaktere kein Verlust ist, kann schon Herrmann und Dorothea beweisen. Was nur die Menschheit Grosses und Edles besitzt, ist darin in seinem vollsten Gehalte ausgeprägt. Dagegen ist an der Erhebung der Phantasie, an dem Schwunge der Begeisterung ein wahrer und beklagenswerther Verlust; aber dieser wäre auch wahrscheinlich (wenn es hier der Ort wäre, die Möglichkeit der heroischen Epopee für uns allgemein zu untersuchen) noch aus andern Gründen, als aus dem blossen Mangel eines passenden Stoffs unersetzbar. Der prächtige Glanz der Epopee scheint mit dem Sinken der Griechischen Sonne erloschen zu seyn; glücklich genug, dass uns unser Dichter[343] zeigt, dass sich wenigstens die reine Bestimmtheit ihrer Umrisse, das rege Leben ihrer Figuren, mit Einem Wort ihre volle und blühende Kraft überhaupt noch bis zu uns frisch und ungeschwächt erhalten hat.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 342-344.
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