XCVII

Darstellung einfacher Weiblichkeit in Dorotheen

[344] Den höchsten Gehalt in die einfachste Naturform einzuschliessen, ist die Aufgabe, welcher der Dichter bei der Bildung seiner Charaktere volle Genüge leisten muss, wenn er den Geist und die Einbildungskraft seiner Leser in gleichem Grade befriedigen will.

Hierin gleich glücklich zu seyn, wäre dem unsrigen unmöglich geblieben, wenn er nicht einen weiblichen Charakter gewählt hätte, die Hauptrolle in seiner Charakteristik zu spielen, den eigentlichen Ton darin zu bestimmen. Denn nur in der weiblichen Natur steht die natürlichste und die höchste Bildung in einer so sichtbaren Nähe neben einander; nur in ihr Verschaft sich die ursprüngliche Eigenthümlichkeit immer einen vollen und leichten Sieg; nur auf sie übt die Verschiedenheit der Stände und Beschäftigungen eine minder fühlbare Macht aus. Zugleich aber konnte der Dichter auch, wie wir im Vorigen gesehn haben, seiner Hauptwirkung unbeschadet, Dorotheen eine feinere Bildung und einen freieren Schwung der Seele einräumen. In ihr konnte er daher am besten neben einer schönen Individualität zugleich das reine Bild der Gattung aufstellen.

Denn so viele Schilderungen weiblicher Charaktere wir auch schon Göthes Meisterhand verdanken, so zeigt kein einziger ein so treues Gemählde reiner und natürlicher Weiblichkeit, als der Charakter Dorotheens. Alle andern sind in besondern Lagen und Empfindungen oder vielmehr – denn darin liegt der eigentliche Unterschied – kein einziger von jenen ist in epischem Geiste gezeichnet. In Dorotheen erblicken wir durchaus und vor allen andern nur zwei Haupteigenschaften – hülfreiche Geschäftigkeit[344] und besonnene Gewandtheit; alle übrigen zeigen sich nur augenblicklich, nur wie die Veranlassung sie hervorruft; ohne sie bleiben sie tief im Innern der Seele verborgen; an jenen beiden läuft ihr ganzes Leben hin, so lange es in seinem gewöhnlichen Kreise fortgeht.

Die Stelle über die allgemeine Bestimmung des Weibes (S. 172.) gehört zu den schönsten und empfundensten, die je über diesen Gegenstand gesagt worden sind. In keinem Stande, in keinen Verhältnissen kann es ohne eine solche Gesinnung, ohne diese herzliche Bereitwilligkeit zu jedem hülfreichen Dienste, einen schönen weiblichen Charakter geben. Denn es ist ohne sie kein inniges Gefühl häuslicher Tugenden möglich und jede weibliche Schönheit und Grösse muss einmal immer auf diesem Stamm emporblühen. Das weibliche Geschlecht ist zu der schönsten und würdigsten Herrschaft, zu der Herrschaft über die Gemüther bestimmt. Das Bewusstseyn dieser Bestimmung, verbunden mit dem Bewusstseyn, dass diese moralische Gewalt nur durch die gänzliche Aufopferung aller physischen gewonnen werden kann, in deren Vereinigung das Wesen der Weiblichkeit besteht, machen zusammen jene Gesinnung aus. Ohne dieses ist die Herrschaft des weiblichen Geschlechts empörend und widrig, ohne jenes seine dienstbare Unterwürfigkeit knechtisch und verächtlich.

Nicht weniger weiblich und mädchenhaft, als jener Zug ist die anscheinende Kälte, mit der Dorothea bald die Empfindungen des Jünglings zurückscheucht, bald seine halb und dunkel gewagten Aeusserungen kurz abfertigt; dass sie überall verständig, gewandt und besonnen, aber nur selten bewegt und gerührt erscheint. Die geschäftige Lebhaftigkeit der Phantasie in den Weibern, ihre grössere Aufmerksamkeit auf die Dinge, welche sie umgeben, die schöne Leichtigkeit, mit der sie, wenn sie sich auch einem Gedanken, einer Empfindung überlassen, darum nicht alles Uebrige aus den Augen verlieren, constrastirt sehr gut mit der Heftigkeit, dem Tiefsinn und der Feierlichkeit des Mannes, und der Contrast wird noch auffallender, wenn, wie hier, die Individualität des Charakters, statt ihn zu[345] mildern, ihn noch erhöht. Ausserdem aber sind diese Eigenschaften zugleich die, welche sich in Dorotheens Lage am natürlichsten entwickeln mussten und die am meisten einer noch höheren und feineren Ausbildung fähig sind.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 344-346.
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