XI

Uebersicht des ganzen Weges, welchen der Dichter von seinem ursprünglichen Zweck bis zu seinem höchsten Ziele zurücklegt

[153] In keiner Art menschlicher Thätigkeit ist es möglich das Höchste zu erreichen, als nur innerhalb der Schranken ihrer Gattung. Nur dadurch, dass er dasjenige vollkommen geltend macht, was er ist, erreicht der Mensch überhaupt und der Einzelne insbesondre seine letzte allgemeine und individuelle Bestimmung. Nicht anders der Dichter. Sein Geschäft ist es, die Einbildungskraft herrschend und productiv zu machen, und indem er diess Geschäft vollendet, gelangt er zu Idealen und erreicht er Totalität.

Diess glauben wir im Vorigen bewiesen zu haben; und wenn der Weg, den wir gingen, lang und unsrem nächsten Geschäft fremd schien, so wählten wir ihn dennoch nicht ohne Ursache. Nichts ist bei Beurtheilungen jeder Art von Arbeiten so wichtig, als die Forderungen streng vor Augen zu haben, deren genaue Erfüllung man mit Recht von ihnen erwarten kann. Zwar ist es nicht ungewöhnlich, vorzüglich ästhetische Werke mit unbestimmten Lobsprüchen zu erheben, sie mit anderen ihrer Gattung zu vergleichen und ihnen gleichsam überverdienstliche Tugenden beizulegen. Nichts desto weniger bleibt die einzig richtige Art der Beurtheilung immer die, dieselben allein mit dem, was sie seyn sollen, mit den Grundsätzen der Aesthetik und dem Ideal der Kunst zu vergleichen, zu entscheiden, ob sie ihre Pflicht erfüllen, den gerechten und nothwendigen Ansprüchen der Kritik ein Genüge leisten. Ihr absoluter, nicht ihr relativer Werth soll bestimmt werden. Bliebe man diesem Wege unverbrüchlich getreu, so würden die Beiwörter des Schönen, des Erhabenen, des Vortreflichen sich von selbst in die des verständig Gedachten, planmässig Angeordneten, wahr Geschilderten, richtig Empfundenen, poetisch Dargestellten verwandeln; man würde sich begnügen, einfach zu entscheiden, mit welchem Rechte das Werk den Namen eines Gedichts überhaupt und den der besondern Gattung führt, der es beigezählt wird.[153]

Freilich verträgt nicht jedes Gedicht eine solche Beurtheilung; aber unverzeihlich würde es seyn, eine andre bei demjenigen anzuwenden, welches so grosse nothwendige und wesentliche Tugenden besitzt und so sehr alles fremden und erborgten Schmuckes entbehrt.

Wir sind bei der Entwickelung des Wesens der Kunst bisher mehr einem raisonnirenden Gange gefolgt und haben uns nur selten auf die Erfahrung berufen. Um uns indess von den aufgestellten Behauptungen auch noch auf eine sinnliche Weise zu überzeugen, dürfen wir nur die Wirkung in uns zurückrufen, welche jedes vollendete Kunstwerk immer in uns hervorbringt: die Stimmung, in die uns der Belvederische Apoll oder eine Stelle des Homer versetzt.

Alle Fäden menschlicher Gefühle sind alsdann in uns aufgezogen; wir empfinden die menschliche Natur zugleich in allen ihren Berührungspunkten; nie gehen wir leiser von einer Empfindung zu einer andren über; nie ist jede, auch sonst heftige Regung so milde und so gehalten; zugleich aber spiegelt sich alsdann in uns die Welt, die uns umgiebt, und setzt dieselbe Stimmung in uns fort. Denn die Vollendung und Harmonie, die wir vor uns erblicken, gehen in uns selbst über und offenbaren sich durch Ruhe und Rührung – welche beide man vielleicht als die allgemeinste Wirkung jedes grossen Kunstwerks ansehen darf: durch Ruhe, weil in diesem Zustande nichts Störendes, nichts Misklingendes Statt finden kann; durch Rührung, weil es immer das Herz mit Wehmuth ergreift, so oft wir in eine gewisse Tiefe der Natur oder der Menschheit blicken. Beide zusammen beweisen, dass wir die Menschheit und das Schicksal, diese beiden ungeheuren Gegenstände, die auf einmal alles umfassen, was ein menschliches Herz zu rühren vermag, nie lebendiger durchschauen und energischer verknüpfen, als in diesen Momenten. In eine solche wunderbare und unbegreifliche Stimmung aber kann der Geist nicht anders versetzt, in eine solche Tiefe nicht anders versenkt werden, als wenn man ihn, von aller Wirklichkeit hinweg, in eine Welt von Idealen hinüberzaubert, in der er die Natur nur an ihren Elementen und ihren Kräften wiedererkennt, sonst[154] aber überall bloss eine ihr fremde Vollendung und Schrankenlosigkeit antrift.

Wenn man nunmehr den Weg übersieht, welchen der Dichter (und mit ihm jeder Künstler) durchläuft, so erstaunt man bei der Betrachtung, von welchem einfachen Ziel aus er sich zu welcher unbegreiflichen Höhe schwingt.

Den wirklichen Gegenstand nur gleichsam zum Spiel in ein Object der Phantasie zu verwandeln, fängt er an und hört damit auf, das grösseste und schwerste Geschäft, was dem Menschen als seine letzte Bestimmung aufgegeben ist, sich und die Aussenwelt um ihn her auf das innigste mit einander zu verknüpfen, diese erst als einen fremden Gegenstand in sich aufzunehmen, dann aber als einen frei und selbst organisirten wieder zurückzugeben, auf seine Weise und mit den ihm angewiesenen Organen auszuführen.

Denn den ganzen Stoff, den ihm die Beobachtung darreicht, organisirt er zu einer idealischen Form für die Einbildungskraft, und die Welt um ihn her er scheint ihm nicht anders, als wie ein durchgängig individuelles, lebendiges, harmonisches, nirgends beschränktes noch abhängiges, nur sich selbstgenügendes Ganzes mannigfaltiger Formen. So hat er seine eigne innerste und beste Natur in sie übergetragen und sie zu einem Wesen gemacht, mit dem er nun vollkommen zu sympathisiren vermag.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 153-155.
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