XLVIII

Resultate – Allgemeiner Charakter unsres Dichters

[242] Wir sind jetzt bei dem Ziele angelangt, das wir durch die bisherigen Betrachtungen zu erreichen strebten; wir haben den Charakter des Göthischen Gedichts vollständig geschildert und die Stelle angegeben, die es in Rücksicht auf die Kunst überhaupt und in Vergleichung mit andern Gedichten ähnlicher Art behauptet. Wir werfen jetzt noch einmal einen flüchtigen Blick auf den Weg, den wir zurückgelegt haben.

Zweierlei Vorzüge sind es, durch deren innige Verbindung die Manier unsres Dichters ihre unläugbare Eigenthümlichkeit erhält:

1., die Einfachheit, mit der er immer bloss bei demjenigen stehen zu bleiben scheint, was die Kunst schlechterdings und nothwendig leisten muss, sobald sie nur überhaupt Kunst zu heissen verdienen soll;

2., die Stärke der Wirkung, die er dadurch hervorbringt, dass er seiner Poesie so viel Gehalt und Seele giebt, als nur immer einer sinnlichen Darstellung fähig ist.[242]

Seinen Stoff zu einem reinen Erzeugniss der dichterischen und zwar der bildenden Einbildungskraft zu machen, ist sein ganzes und einziges Bestreben. Daher die feste Zusammenfügung aller Theile zum Ganzen, die Grösse und Einfachheit der Züge, die objective, rein darstellende Manier und eben daher der Mangel alles fremden Schmucks, aller nicht unmittelbar durch die Sache selbst bewirkten Erhebung, alles überflüssigen Colorits.

Er nimmt aber seinen Stoff immer so, wie er einen überwiegend grossen Gehalt für den innern Sinn hat und doch zugleich für den äussern vollkommen gültig ist. Von dem Menschen und der Natur mahlt er die Seele, aber sie immer gestaltet und lebendig. Daher seine Sentimentalität, das mehr sanfte als glänzende Licht seiner Gemählde, ihre grössere Wirkung auf den Geist und das Herz.

Durch beides, dadurch, dass er die Natur da aufnimmt, wo ihr Zusammenhang am festesten, die Verwandtschaft ihrer Elemente am sichtbarsten ist (in ihrer geistigen Gestalt), und dass er sie darin ganz objectiv behandelt, wird er im eminenten Verstande bildend, im eminenten Verstande nach Bestimmtheit der Umrisse, Einheit des Ganzen und Ebenmaass der Theile strebend. Denn er geht mit aller seiner Kraft bloss darauf aus, die Formen eines grossen Ideals aufzustellen, eines Ideals, das dem Geist der Menschheit und der Natur (der im Grunde nur Einer und ebenderselbe ist) gleich sey.

Von den Mustern des Alterthums unterscheidet er sich durch einen geringeren Gehalt für die Sinne und die Phantasie, aber durch einen vielfacheren und feineren für den Geist und die Empfindung; und wenn er diess mehr oder weniger mit allen neueren Dichtern gemein hat, so zeichnet er sich vor diesen wieder dadurch aus, dass er in dieser Verschiedenheit selbst durch Objectivität, Harmonie und die Totalität, die sich in dem Leser durch Ruhe ankündigt, den Alten ungleich näher kommt, als irgend einer von jenen.

Die Seite seines Charakters, von welcher aus derselbe zum Fehlerhaften ausarten kann und wirklich vielleicht[243] manchmal darein verfällt, ist die Einfachheit seiner Mittel. Was man ihm daher vielleicht hie und da vorwerfen könnte, ist Mangel an Vielfachheit der Handlung und Bewegung, Mannigfaltigkeit der Gestalten, Fülle und Abwechslung der Diction und des Wohlklangs, mit Einem Wort Mangel an sinnlichem Reichthum; was ihn aber auch hier wieder charakterisirt, ist, dass diess nie zum Mangel auch an sinnlicher Individualität ausschlägt. Denn der Bestimmtheit der Umrisse und der Stetigkeit der Bewegung fehlt nie auch nur das Mindeste.

Wenn er in der Reinheit der Formen und dem Seelenvollen des Ausdrucks eine auffallende Aehnlichkeit mit Raphael darstellt, so erinnert er an ihn auch durch ein manchmal dürftig scheinendes Colorit.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 242-244.
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