XXIII

Ariost rechnet mehr auf den Effect; Homer wirkt stärker durch die reine Form

[182] Wenn Homer sich strenger an das Ganze hält, Ariost mehr den einzelnen Theil heraushebt, so muss der erstere mehr auf die Form, der letztere mehr auf den Effect rechnen, den in der Verbindung eine Figur mit der andern macht. Das aber ist es, was man in der Dichtkunst Licht und Schatten nennen kann, der Grad, um den eine Gestalt dadurch hervor- oder zurücktritt, dass eine andre neben ihr steht. Diess, verbunden mit dem Ton, welchen der Dichter seiner Sprache giebt, mit der eigenthümlichen Wichtigkeit, die er demselben für sich einräumt, macht sein Colorit aus.

Homer nun arbeitet überall auf die Form; erst in den einzelnen Figuren, in ihrer Ruhe und ihrer Bewegung, dann in der Verbindung derselben, wo er eine an die andere oder mehrere zusammen oder endlich alle in Ein Ganzes verknüpft. Darum lässt sich die ganze Ilias oder die ganze Odyssee am Ende wie eine einzige Statue oder, wenn diese Vergleichung zu kühn ist, wenigstens wie eine einzige Gruppe betrachten. Bei diesem Verfahren ist das Colorit natürlich untergeordnet; es richtet sich gleichfalls nach der Form und dient nur, diese mehr herauszuheben. Ganz anders hingegen wirken Farbe, Licht und Schatten da, wo die einzelnen Figuren mehr allein und getrennt erscheinen. Denn da gehören sie wesentlich zu den Verbindungsmitteln des Ganzen; und überhaupt braucht jedes Gemählde immer um so viel mehr Colorit, als es an Einheit und Harmonie der Formen verliert. So wie die Einbildungskraft nicht ganz in ihren Gegenstand versenkt ist, so erhält ihre eigne Energie das Uebergewicht; und so wie der Dichter nicht so durch denselben beschäftigt ist, dass er jede Kraft aufbieten muss, um ihn nur einfach hinzustellen, so erhöht sich unvermerkt und an sich selbst sein Ton und wird reicher und prächtiger, als sein Stoff.[182]

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 182-183.
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