XXXI

Schilderung der Jungfrau in ihrer Wirkung auf Herrmann

[194] Nach dieser ersten Einführung ist der zweite Moment des Erscheinens der Jungfrau erst in der Stelle, die wir im Vorigen genauer geprüft haben. Aber auch indess verlässt sie den Schauplatz nicht; von diesem ersten Augenblick an bleibt sie dem Leser gegenwärtig und wirkt vor ihm in Herrmanns Seele, in seinen Reden und Entschlüssen fort. Ja, noch ehe sie der Dichter wirklich auftreten lässt, erschien[194] sie schon in der Umwandlung seiner Gestalt und seines Wesens, welche die bei seinen Eltern versammelten Freunde gleich beim Hereintreten an ihm bemerken. (S. 27)

Die Schönheit des Moments, wo in der beginnenden Reife des Jünglingsalters ein Gegenstand sich plötzlich der Seele bemeistert, weil in Einem Augenblick eine Leidenschaft angefacht wird, die für das ganze übrige Leben fortdauern soll, wird durch diese Stelle und die ganze Schilderung der nun erst erwachenden Gefühle Herrmanns in allem ihrem Reize vor das Gemüth des Lesers gebracht. Die Veränderung, die er in seinem Wesen erfährt, erinnert an die wohlthätige Kraft, mit der Homers Götter und Göttinnen ihren Lieblingshelden höhere Schönheit und übermenschliche Grösse verliehen, und vertritt die Stelle des Wunderbaren, das in seiner wahren und antiken Gestalt in einer Composition, wie das gegenwärtige Gedicht ist, keinen Platz finden konnte. Aber wenn es nun hier jenen überirrdisch stralenden Glanz entbehren muss, so führt es uns desto tiefer in uns selbst zurück. Wie viel wir auch, sagt es uns, an uns bessern und modeln, so erzeugt sich die eigentliche Gestalt, die wir annehmen, doch allein und uns unbewusst aus uns selbst; gerade die Gefühle, die uns am mächtigsten beherrschen, schiessen wie Blitze aus unbekannten Tiefen unsers Ichs hervor, durchstralen unser ganzes Wesen so lebendig und heben es so ganz aus den gewohnten Kreisen unsers Daseyns heraus, dass wir durchaus als veränderte Menschen erscheinen.

Durch eine so wundervolle Umwandlung Herrmanns auf ihre nur erst dunkel geahndete Ursach, durch die kraftvollen Worte, durch die sein Vater das Schicksal seines Vaterlandes und das Glück seiner Familie (S. 22.) in einen herzlichen Wunsch vereinigt, auf ihn selbst vorbereitet, wie tritt da Dorotheens Gestalt doppelt bedeutend hervor!

Nachdem Herrmann seine Erzählung geendigt hat, entspinnt sich ein Gespräch zwischen ihm, seinen Eltern und seinen Freunden. Die Handlung geht fort: sein Vater macht ihm Vorwürfe über sein zu blödes und stilles Betragen; der bescheidene Sohn weicht den Vorwürfen aus und verlässt[195] das Zimmer. Der Leser ist nun in das Interesse gezogen; er sieht eine Begebenheit anfangen, die ihm durch die darin verwebten Charaktere wichtig wird. Mit inniger Theilnahme folgt er der Mutter, wie sie dem Sohne nachgeht. Sie findet ihn auf dem Hügel, der Gränze ihrer Besitzungen, unter einem Baume sitzend.

Diess ist wieder eine der Stellen, in welchen der Dichter seine Kunst offenbart, durch die Stimmung der Einbildungskraft des Lesers seinen Figuren Grösse und Charakter zu geben. Mit dem Rücken gegen die Mutter gekehrt, sitzt Herrmann, auf den Arm gestützt, und scheint in die Gegend zu schauen, jenseits nach dem Gebirge. Wie er sich zur Mutter umwendet, sieht sie ihm Thränen im Auge. So überraschen wir ihn mitten in seinen einsamen Selbstbetrachtungen, und schon der Ort, auf dem wir ihn antreffen, macht uns diesen Moment bedeutender. Am Ende des langen Weges, den wir, unruhig suchend, mit der Mutter zurückgelegt haben, auf einer Höhe, von der wir auf das Städtchen und die Wohnung hinabschauen, die wir eben verliessen, mitten in einem kräftig flutenden Kornfelde, steht ein Baum, dessen Alter sich schon so weit in die vorigen Zeiten zurückerstreckt, dass die Hand unbekannt ist, die ihn gepflanzt hat. Unter ihm sitzt Herrmann.

Welchem Leser werden hier nicht Augenblicke seines Lebens einfallen, wo er sich in ähnlichen Stimmungen, in ähnlichen Lagen befand; wer wird sich nicht erinnern, wie alsdann ein Gebirge, das sich am äussersten Horizont hinzieht, den Blick einladet, von Gipfel zu Gipfel zu schweifen, wie das bewegte Herz eine unwiderstehliche Sehnsucht befällt, auch jenseits hinüberzuschauen, auch jenseits und drüben zu seyn, als wäre eine andere und bessere Welt durch diese Mauer von uns geschieden!

Aber es ist nur wenig, wenn der Dichter solche Stimmungen und Empfindungen in uns weckt: seine hohe und meisterhafte Kunst besteht darin, mitten aus ihnen und durch sie den Gegenstand in seiner lebendigen Wirklichkeit hervorgehn zu lassen; und gerade diess hat der unsrige hier erreicht. Statt dass wir Herrmann verlassen und uns Erinnerungen[196] hingeben sollten, ist er es allein, der vor unsern Augen gegenwärtig ist; aber zugleich schwellen jene Erinnerungen unsern Busen, erfüllen sie unser Herz; wir sind uns ihrer nicht einzeln bewusst, aber ihre Wirkung ist in uns lebendig und trägt sich auf den Gegenstand über.

So kommt es schlechterdings nur darauf an, welche Richtung der Dichter unsrer Einbildungskraft zuerst gegeben, welchen Ton er angestimmt hat. Ist diese Richtung einmal entschieden objectiv, geht sie gerade darauf hin, Gestalten zu mahlen, nicht Gefühle zu er wecken, so mag er unser Inneres erschüttern, rühren, aufregen, so stark und mächtig es nur in seiner Kraft steht; alles wirkt doch nur dahin, die Welt, die er uns zeichnet, lebendiger vor uns hinzustellen, uns noch tiefer und mit noch mehr entschiedener Selbstvergessenheit in dieselbe zu versenken.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 194-197.
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