XXXIII

Dorotheens eignes Erscheinen

[200] Die Stelle, wo Dorothea zum erstenmal selbst auftritt und wo wir mit ihr unter den Ihrigen verweilen, soll das[200] Bild, das wir uns schon von ihr gemacht haben, weder erhöhen noch vergrössern; diess ist jetzt noch nicht nöthig und bei dieser Veranlassung nicht mehr möglich; sie soll uns nur damit vertraut machen und es in uns befestigen.

Das Mädchen, das wir bisher bloss in dem Spiegel des Eindrucks sahen, den es gemacht hatte, glich noch zu sehr jenen zauberischen Schattenbildern, die wie aus einer andren Welt zu uns herüberstralen; sie soll jetzt zur Wirklichkeit, ins Leben herabgeführt werden; wir sollen ihr näher treten, ihre Schicksale kennen, sie nicht mehr bloss mit dem bezauberten Blick der Liebe, sondern mit dem natürlichen Auge des blossen Beobachters ansehen. Herrmann ist zurückgeblieben, und wir sind nur in der Gesellschaft seiner unpartheiischen Freunde.

Wir finden Dorotheen noch eben so gut und brav, als vorher; aber der Zauber ist hinweggenommen, der sie bis dahin, wie ein leiser Hauch, überkleidete. Ihre hülfreiche Thätigkeit, die erst etwas Heroisches hatte, ist mehr zu dienstbarer und gefälliger Geschäftigkeit geworden; sie erscheint als Weib und als Mädchen, da wir sie vorher gern in Herrmanns Seele in der Sprache Homers gefragt hätten, ob sie nicht der Göttinnen eine sey, herabgekommen, den Menschen zu helfen und ihr Herz zu versuchen? Dadurch erhält ihr Bild bei uns eine ganz eigne Wahrheit; es ist nun so, wie wir es immer im Leben wirklich antreffen. Das Wesen bleibt immer und durchaus in allem seinem Wirken und Thun dasselbe; aber es giebt Momente, wo es, von höherer Begeisterung durchstralt, etwas Göttliches und Ueberirrdisches annimmt. Wir glauben nunmehr dem Geliebten, der zwar am meisten durch jene beseligenden Augenblicke ungestörter Einsamkeit entzückt wird, aber nach ihnen auch gern seinem Mädchen in den gewöhnlichen Kreis ihres Lebens, in ihre häusliche Geschäftigkeit folgt.

Der Dichter weiss, dass der Mensch immer das Grosse, Erhabene, Uebermenschliche sucht, aber dass er, um es festzuhalten, es sich aneignen, es menschlich machen muss; darum führt er ihn erst in kühnen Flügen dazu hin und lässt ihm hernach Zeit, es unter veränderten Formen sich näher[201] zu bringen. Er wechselt die Töne, um aus seinem Werke ein Ganzes zu machen, das dem wirklichen Leben selbst gleich sey.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 200-202.
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