Erster Teil

[32] Als ich zu der Gesellschaft kam, welche ich in Cleanthes' Bibliothek sitzend fand, sagte Demea dem Cleanthes einige Artigkeiten über die große Sorge, mit welcher er sich meiner Erziehung annähme und über die unermüdliche Ausdauer und Beständigkeit in seinen Freundschaften.

Der Vater des Pamphilus, sagte er, war Euer nahverbundener Freund; der Sohn ist Euer Zögling und kann in der Tat als Euer Adoptivsohn angesehen werden, wenn es erlaubt ist, nach der Mühe zu urteilen, welche Ihr darauf verwendet, ihm jeden nützlichen Zweig der Literatur und Wissenschaft nahe zu bringen. Ich bin überzeugt, daß es Euch ebensowenig an Einsicht als an Eifer gebricht. Deshalb möchte ich Euch einen Grundsatz mitteilen, welchen ich mit Bezug auf meine eigenen Kinder beobachtet habe, um zu sehen, wie weit er mit Eurer Verfahrungsweise im Einklang ist. Die Methode, welche ich in ihrer Erziehung befolgte, ist auf das Wort eines der Alten begründet: »die der Philosophie Beflissenen müssen zuerst Logik lernen, dann Ethik, darauf Physik, endlich zuletzt die Natur der Götter.«1 Die Wissenschaft der natürlichen Theologie erfordert nach ihm, da sie die tiefste und schwierigste von allen ist, das reifste Urteil von seiten derer, die sich mit ihr beschäftigen; nur ein Geist, der sich mit allen andern Wissenschaften ausgestattet hat, kann ohne Gefahr mit ihr betraut werden.[32]

Wartet Ihr so lange, sagte Philo, Eure Kinder die Grundsätze der Religion zu lehren? Ist keine Gefahr, daß sie nicht Meinungen, von welchem sie während des ganzen Laufes ihrer Erziehung so wenig gehört haben, vernachlässigen oder gänzlich verwerfen? – Bloß als Wissenschaft, erwiderte Demea, welche menschlichen Schlüssen und Überlegungen unterliegt, stelle ich die Beschäftigung mit der natürlichen Theologie zurück. Dagegen ist es meine Hauptsorge, ihren Geist zu früher Frömmigkeit zu erziehen; durch beständige Lehre und Unterweisung, und, ich hoffe, durch mein Beispiel präge ich ihrem zarten Geist eine habituelle Achtung für alle Grundsätze der Religion tief ein. Während sie die andern Wissenschaften durchgehen, weise ich allemal hin auf die Ungewißheit jedes Teiles, auf die unaufhörlichen Streitigkeiten der Menschen, die Dunkelheit aller Philosophie und die wunderlichen und lächerlichen Folgerungen, welche einige der größten Geister aus den Grundsätzen der reinen menschlichen Vernunft abgeleitet haben. Nachdem ich so ihren Geist zu geziemender Unterwürfigkeit und zu Mißtrauen gegen das eigene Vermögen gezähmt habe, trage ich nicht länger Bedenken, ihnen die größten Geheimnisse der Religion zu eröffnen und besorge nicht irgendwelche Gefahr von jener hochmütigen Anmaßung der Philosophie, welche sie verleiten möchte, die am meisten befestigten Lehren und Meinungen zu verwerfen.

Eure Vorsicht, sagt Philo, den Geist Eurer Kinder früh mit Frömmigkeit zu erfüllen, ist sicherlich sehr vernünftig und nicht mehr als notwendig in diesem unheiligen und irreligiösen Zeitalter. Was ich aber an Eurem Erziehungsplan hauptsächlich bewundere, das ist Eure Methode, aus den Grundsätzen eben der Philosophie und Wissenschaft selbst, welche durch Erfüllung mit Stolz und Selbstzufriedenheit gemeiniglich in allen Zeitaltern so zerstörend für die Grundsätze der Religion erfunden worden sind, Vorteile zu ziehen. In der Tat, man kann die Bemerkung machen, daß die Menge, welche mit Wissenschaft und tiefer Forschung unbekannt ist, wenn sie die endlosen Streitigkeiten der Gelehrten wahrnimmt,[33] gewöhnlich eine gänzliche Verachtung für Philosophie hegt und sich eben dadurch um so mehr in den großen Punkten der Theologie befestigt, welche sie gelernt hat. Diejenigen, welche sich ein wenig mit wissenschaftlicher Arbeit und Untersuchung einlassen, halten, wenn sie manchen Anschein von Evidenz in den neuesten und ungewöhnlichsten Lehren finden, nichts für zu schwierig für menschliche Vernunft, und zuversichtlich alle Mauern niederbrechend, entweihen sie das innerste Heiligtum des Tempels. Aber ich hoffe, Cleanthes wird mit mir übereinstimmen, daß es noch eine Auskunft gibt, diese gottlose Freiheit zu hemmen, nachdem wir Unwissenheit, die sicherste Zuflucht, verlassen haben. Man verbessere und vertiefe die Grundsätze Demeas; man bilde das Gefühl für die Schwäche, Blindheit und Eingeschränktheit der menschlichen Vernunft völlig aus; man gebe gebührendermaßen acht auf ihre Ungewißheit und endlosen Widersprüche selbst in den Angelegenheiten des gemeinen Lebens und Tuns; man halte sich vor die Irrtümer und Täuschungen unserer Sinne selbst, die unüberwindlichen Schwierigkeiten, welche die ersten Grundsätze in allen Systemen begleiten, die Widersprüche, welche den Begriffen selbst von Materie, Ursache und Wirkung, Ausdehnung, Raum, Zeit, Bewegung und mit einem Wort von Größen allerart anhangen, dem Gegenstand der einzigen Wissenschaft, welche mit einigem Grund auf Gewißheit und Evidenz Anspruch erheben kann. Wenn diese Erwägungen in volles Licht gestellt werden, wie von einigen Philosophen und fast allen Theologen geschehen ist, wer kann zu diesem schwachen Vermögen der Vernunft so viel Zutrauen behalten, daß er ihren Entscheidungen in so schwierigen, dunklen, von allem Gewöhnlichen in Leben und Erfahrung so entfernten Problemen einige Berücksichtigung schenken sollte? Wenn der Zusammenhang der Teile eines Steines, oder selbst die Zusammensetzung der Teile, welche ihn zu einem ausgedehnten macht, wenn, sage ich, diese alltäglichen Gegenstände so unerklärlich sind und so unverträgliche und widersprechende Umstände enthalten, mit welcher Sicherheit können wir über den Ursprung von Welten entscheiden[34] oder die Spur ihrer Geschichte von Ewigkeit zu Ewigkeit verfolgen.

Während Philo diese Worte aussprach, bemerkte ich, ein Lächeln sowohl in Demeas als in Cleanthes' Gesicht. Dasjenige Demeas schien eine unbegrenzte Genugtuung über die dargelegten Lehren auszudrücken. Dagegen konnte ich in der Miene des Cleanthes einen gewissen feinen Zug unterscheiden, als ob er in den Folgerungen Philos leisen Spott oder eine versteckte Bosheit wahrnehme.

Euer Vorschlag, Philo, sagte Cleanthes, ist also, den religiösen Glauben auf philosophischem Skeptizismus aufzurichten; und Ihr denkt, wenn Gewißheit und Evidenz aus jedem andern Untersuchungsgebiet ausgetrieben ist, wird sie sich ganz auf die theologischen Lehren zurückziehen und dort überlegene Stärke und Autorität gewinnen. Ob Euer Skeptizismus so unbedingt und aufrichtig ist, als Ihr vorgebt, werden wir nach und nach erfahren, wenn die Gesellschaft aufbricht: wir werden dann sehen, ob Ihr zur Tür oder zum Fenster hinausgeht, und ob Ihr in Wirklichkeit zweifelt, ob Euer Körper Schwere hat oder durch Fall Schaden nehmen kann, wie die gemeine Meinung, die aus unsern täuschenden Sinnen und der noch mehr täuschenden Erfahrung abgeleitet ist, annimmt. Und diese Betrachtung, Demea, mag, denke ich, wohl dazu dienen, uns die Erbitterung gegen diese launige Sekte der Skeptiker zu benehmen. Ist es ihr ganzer Ernst, dann werden sie die Welt mit ihren Zweifeln, Sophistereien und Streitereien nicht lange beunruhigen: ist es bloß Scherz, so ist es vielleicht schlechter Scherz, kann aber niemals dem Staat, der Philosophie, der Religion wirklich gefährlich werden.

In Wahrheit, Philo, fuhr er fort, es scheint sicher, daß es, wenngleich jemand nach angestrengter Erwägung der vielen Widersprüche und Unvollkommenheiten der menschlichen Vernunft in einer Anwandlung von Laune allem Glauben und aller Meinung gänzlich absagen mag, niemals möglich ist in diesem vollständigen Skeptizismus zu verharren oder ihn auch nur wenige Stunden in seinem praktischen Verhalten zu zeigen. Äußere[35] Gegenstände machen Eindrücke, Gemütserregungen bewegen ihn, seine philosophischen Grübeleien verflüchtigen sich, und die größte Gewalt über das eigene Temperament wird nicht auch nur kurze Zeit imstande sein, den Skeptizismus kümmerlich aufrecht zu erhalten. Und wozu solche Gewalt sich antun? Dies ist der Punkt, worin es für ihn unmöglich ist, in Übereinstimmung mit seinen skeptischen Prinzipien sich selbst Genüge zu tun, so daß im ganzen nichts lächerlicher sein kann, als die Prinzipien der alten Pyrrhoneer, wenn sie in Wirklichkeit, wie vorgegeben wurde, darauf bestanden, denselben Skeptizismus überall durchzuführen, den sie in den Redeübungen ihrer Schulen gelernt hatten und welchen sie innerhalb derselben hätten lassen sollen.

Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint die Ähnlichkeit zwischen der Stoischen und Pyrrhonischen Schule trotz der beständigen Gegnerschaft groß: beide scheinen auf die irrtümliche Maxime gegründet, daß, was sich zuweilen und in gewissen Stimmungen durchführen läßt, stets und in jeder Stimmung sich durchführen lasse. Wenn sich der Geist durch Stoische Betrachtungen zu einer erhabenen Begeisterung für die Tugend emporgeschwungen hat und von irgendeiner Vorstellung der Ehre oder öffentlichen Wohlfahrt lebhaft ergriffen ist, so wird das Äußerste körperlichen Schmerzes und Leidens über solches Hochgefühl der Pflicht nicht das Übergewicht erlangen, und es ist durch dies Gefühl vielleicht möglich, auf der Folter selbst zu lächeln und zu frohlocken. Mag dies in Wirklichkeit hie und da der Fall sein, um wieviel mehr mag ein Philosoph in seiner Schule oder in seinem Studierzimmer sich zu solcher Begeisterung hinaufschwingen und dabei in der Einbildung den heftigsten Schmerz oder das widrigste Ereignis, das er sich erdenken kann, aushalten. Aber wie will dieser Enthusiasmus selbst aushalten? Die Spannung des Geistes läßt nach und kann nicht nach Belieben wieder erzeugt werden; allerlei Zufälle ziehen ihn ab; Unglück fällt ihn unversehens an: und der Philosoph sinkt allgemach zum gewöhnlichen Menschen herab.

Ich gebe Eure Vergleichung zwischen den Stoikern[36] und Skeptikern zu, erwiderte Philo. Aber es ist dazu zu bemerken, daß der Geist, wenn er auch, im Stoizismus, den höchsten Flug der Philosophie nicht dauernd aushalten kann, dennoch, auch wenn er tiefer sinkt, einiges aus seiner früheren Stimmung festhält; die Wirkung der Schlüsse des Stoikers wird auch in seinem Verhalten im gewöhnlichen Leben und in der ganzen Haltung seiner Handlungen sichtbar sein. Die alten Schulen, besonders die Zenonische brachte Beispiele von Tugend und Standhaftigkeit hervor, welche unsere Zelt in Erstaunen setzen.


's war eitle Weisheit, falsche Philosophie.

Doch konnte sie mit süßer Zauberei

Schmerz stillen eine Weile oder Angst,

Betörte Hoffnung wecken, mit Geduld

Wappnen die Brust, wie mit dreifachem Erz.


Ebenso wird jemand, der sich an skeptische Betrachtungen über die Ungewißheit und die engen Grenzen der Vernunft gewöhnt hat, diese nicht gänzlich vergessen, wenn er seine Überlegung andern Gegenständen zuwendet; vielmehr wird er in allen seinen philosophischen Grundsätzen und Schlüssen, ich wage nicht zu sagen in seinem gewöhnlichen Verhalten, sich unterscheiden von denen, die entweder überhaupt keine Meinungen in diesen Angelegenheiten sich gebildet haben, oder der menschlichen Vernunft günstigere Ansichten unterhielten.

Wie weit immer jemand in der Spekulation seine skeptischen Prinzipien verfolgen mag, handeln, leben, verkehren muß er, ich gestehe es, wie die andern Menschen; und für dies Verhalten ist er nicht genötigt, andere Gründe als die einfache, praktische Notwendigkeit anzuführen. Wenn er sein Nachdenken weiter ausdehnt, als ihn diese Notwendigkeit zwingt und über Gegenstände der natürlichen oder geistigen Welt philosophiert, so wird er hierzu veranlaßt durch eine gewisse Lust oder Befriedigung, welche er in dieser Betätigung findet. Er überlegt ferner, daß jeder selbst im gemeinen Leben mehr oder weniger von dieser Philosophie zu haben genötigt[37] ist; daß wir von unserer ersten Kindheit an in der Bildung von allgemeinen Grundsätzen des Verhaltens und des Denkens beständig Fortschritte machen; daß wir, je größere Erfahrung wir erwerben, und je stärkere Verstandesausstattung wir haben, um so mehr unsere Grundsätze allgemein und umfassend machen; und daß, was wir Philosophie nennen, nur ein geordneteres und methodischeres Verfahren derselben Art ist. Philosophieren über solche Gegenstände ist nicht wesentlich verschieden vom Nachdenken über die Angelegenheiten des gemeinen Lebens; nur dürfen wir von unserer Philosophie, wenn nicht größere Wahrheit, doch größere Beständigkeit erwarten, in Anbetracht ihres genaueren und umsichtigeren Verfahrens.

Wenn wir jedoch über die menschlichen Angelegenheiten und die Eigenschaften der uns umgebenden Körperwelt hinausgehen, wenn wir unser Nachdenken auf die beiden Ewigkeiten richten, welche dem gegenwärtigen Stand der Dinge vorhergehen und folgen, auf die Schöpfung und Gestaltung der Welt, die Existenz und Beschaffenheit von Geistern, die Kräfte und Handlungen eines Allgeistes, der ohne Anfang und Ende, allmächtig, allwissend, unveränderlich, unendlich, unbegreiflich ist: dann müßten wir ohne die mindeste Neigung zum Skeptizismus sein, wenn wir uns der Einsicht verschließen wollten, daß wir hier über den Bereich unserer Fähigkeiten hinausgeraten sind. So lange wir unser Nachdenken auf Handel, Moral, Politik, Ästhetik einschränken, wenden wir uns jeden Augenblick an den gemeinen Menschenverstand und die Erfahrung, die unsere philosophischen Schlüsse stärken und zu einem Teile wenigstens das Mißtrauen, welches wir mit Recht gegen jedes sehr spitzfindige und feine Räsonnement unterhalten, beseitigen. Aber in theologischen Räsonnements haben wir diesen Vorteil nicht; und zugleich haben wir es hier mit Gegenständen zu tun, welche, wie wir uns sagen müssen, zu groß für unser Begreifen sind und am allermeisten Vertrautheit unseres Verstandes mit ihrer Behandlung erfordern. Wir gleichen Leuten, die im fremden Lande leben; jedes Ding erregt ihr Mißtrauen und jeden Augenblick[38] sind sie in Gefahr gegen die Gesetze und Sitten der Leute, mit denen sie leben und verkehren, zu verstoßen. Wir wissen nicht, wie weit wir den gewöhnlichen Methoden des Erkennens in solchen Dingen trauen dürfen; können wir doch selbst von ihrer Anwendung im gemeinen Leben und in dem ihnen eigentümlich zugehörigen Gebiet nicht Rechenschaft geben, sondern lassen uns von einer Art Instinkt oder Notwendigkeit leiten.

Alle Skeptiker behaupten, daß die Vernunft, abstrakt betrachtet, unüberwindliche Argumente gegen sich selbst an die Hand gibt, und daß wir nicht in irgendeiner Sache eine sichere Überzeugung festzuhalten vermöchten, wären nicht die skeptischen Räsonnements so spitzfindig und fein, daß sie unfähig sind den solideren und natürlicheren Beweisgründen der Sinne und Erfahrung das Gegengewicht zu halten. Es ist jedoch klar, daß sobald unsere Beweise diesen Vorteil verlieren und sich vom gemeinen Leben weit entfernen, der spitzfindigste Skeptizismus mit ihnen auf gleichem Fuß steht und imstande ist, das Gleichgewicht zu halten. Auf der einen Seite ist nicht mehr Gewicht als auf der andern. Der Geist muß ihnen gegenüber unentschieden bleiben; und eben diese Unentschiedenheit, dies Gleichgewicht ist der Triumph des Skeptizismus.

Ich bemerke jedoch, sagte Cleanthes, mit Bezug auf Euch, Philo, und alle theoretischen Skeptiker, daß Eure Theorie und Euer wirkliches Verhalten ebensosehr in den schwierigsten Erkenntnisproblemen als in der gemeinen Lebensführung in Widerspruch miteinander sind. Wo immer Evidenz sich zeigt, ergebt Ihr Euch derselben trotz Eures behaupteten Skeptizismus; und ich kann hinzufügen, daß einige von Eurer Seite ebenso sicher in ihren Entscheidungen sind, als diejenigen, welche sich zu größerem Glauben an Gewißheit und Sicherheit bekennen. In der Tat, würde es nicht lächerlich sein, wenn jemand Newtons Erklärung der wunderbaren Erscheinung des Regenbogens verwerfen wollte, weil diese Erklärung eine ins einzelne gehende Anatomie der Lichtstrahlen gibt, eines Gegenstandes, in Wahrheit, zu fein für menschliches Begreifen? Und was würdet Ihr von jemand sagen, der[39] ohne besondere Einwendungen gegen Kopernikus und Galileis Beweise für die Bewegung der Erde seine Zustimmung auf Grund des allgemeinen Satzes verweigern wollte, daß diese Gegenstände zu groß und abgelegen seien, um durch die enge und trügerische menschliche Vernunft erklärt zu werden?

Es gibt eine Art von stumpfsinnigem unwissenschaftlichem Skeptizismus, wie Ihr treffend bemerktet, welcher der Menge ein allgemeines Vorurteil eingibt gegen alles, was sie nicht leicht versteht, und sie veranlaßt jeden Grundsatz, der ausgeführte Beweisführung erfordert, zu verwerfen. Diese Art von Skeptizismus ist für die Wissenschaft verderblich, nicht für die Religion; denn wir finden, daß diejenigen, welche ihm am meisten anhängen, oft nicht bloß den großen Wahrheiten des Theismus und der natürlichen Theologie, sondern auch den absurdesten Annahmen, welche überlieferter Aberglaube ihnen an die Hand gibt, ihre Zustimmung geben. Sie glauben fest an Hexen, obgleich sie nicht glauben oder nicht hören auf den einfachsten Lehrsatz des Euklid. Dagegen die feinen und philosophischen Skeptiker fallen in eine Ungereimtheit entgegengesetzter Art. Sie verfolgen ihre Untersuchungen bis in die entlegensten Winkel der Wissenschaft und ihre Zustimmung begleitet dieselben auf jedem Schritt im Verhältnis der Stärke der Beweise, welche sie aufzufinden vermögen. Sie sind sogar genötigt anzuerkennen, daß die schwierigsten und entlegensten Gegenstände durch die Philosophie am besten erklärt sind. Das Licht ist in Wirklichkeit zerlegt; das wahre System der himmlischen Körper ist entdeckt und festgestellt. Dagegen ist die Ernährung der Körper noch ein unerklärliches Geheimnis; die Kohäsion der Teile der Materie ist noch unbegreiflich. Diese Skeptiker sind daher genötigt, in jeder Frage jeden einzelnen Beweis für sich zu prüfen und ihre Zustimmung, genau angemessen der Stärke des jedesmaligen Beweises zu erteilen. Das ist ihr Verhalten in allen physikalischen, mathematischen, moralischen, politischen Fragen. Warum nicht dasselbe, frage ich, in theologischen und religiösen? Warum sollen Schlüsse hier allein auf Grund der allgemeinen Annahme der Unzulänglichkeit[40] menschlicher Vernunft, ohne spezielle Untersuchung des Beweises, verworfen werden? Ist dies ungleiche Verfahren nicht ein offenbarer Beweis für Vorurteil und Voreingenommenheit?

Unsere Sinne, sagt Ihr, sind trügerisch, unser Verstand dem Irrtum unterworfen, unsere Vorstellungen von den allergewöhnlichsten Dingen, Ausdehnung, Dauer, Bewegung, voll von Ungereimtheiten und Widersprüchen. Ihr fordert mich auf die Schwierigkeiten zu lösen, die Widersprüche zu versöhnen, welche Ihr darin findet. Ich habe nicht die Fähigkeit für ein so großes Unternehmen; ich habe nicht die Muße dafür; ich sehe, daß es überflüssig ist. Euer eignes Verhalten widerlegt bei jeder Gelegenheit Eure Grundsätze und zeigt, daß Ihr Euch vollkommen fest auf alle allgemein angenommenen Sätze der Wissenschaft, der Moral, der Klugheit, der Lebensführung verlaßt.

Ich werde nie der bitteren Ansicht eines berühmten Schriftstellers2 beistimmen, welcher sagt, daß die Skeptiker nicht eine Sekte von Philosophen sind, sondern eine Sekte von Lügnern. Doch möchte ich (ich hoffe ohne zu beleidigen) behaupten, daß sie eine Sekte von Leuten sind, die Scherz und Neckerei lieben. Ich für mein Teil, wenn ich mich zu leichter vergnüglicher Unterhaltung aufgelegt finde, ziehe sicherlich weniger verwirrende und abstruse Unterhaltung vor. Eine Komödie, eine Erzählung, höchstens ein Geschichtswerk scheint eine natürlichere Erholung, als solche metaphysischen Subtilitäten und Abstraktionen.

Der Skeptiker würde vergeblich einen Unterschied zwischen Wissenschaft und gemeinem Leben, oder zwischen einer Wissenschaft und der andern machen. Die Beweise, sofern sie richtig sind, sind in allen von derselben Art und haben gleiche Kraft und Evidenz. Oder wenn ein Unterschied ist, liegt der Vorteil gänzlich auf Seiten der Theologie und natürlichen Religion. Manche Grundsätze der Mechanik sind auf sehr abstrusem; Räsonnement begründet; dennoch setzt niemand, der auf Wissenschaftlichkeit[41] Anspruch macht, auch nicht der theoretische Skeptiker, ihnen den mindesten Zweifel entgegen. Das Kopernikanische System enthält die augenscheinlichste Paradoxie, steht im vollen Widerspruch gegen unsere natürlichen Vorstellungen, gegen die Erscheinungen, und selbst gegen unsere Sinne; und doch sind jetzt die Mönche und Inquisitoren selbst genötigt, ihren Widerspruch aufzugeben. Sollte nun Philo, ein Mann von so freier Denkart und ausgedehntem Wissen, allgemeine, nicht im einzelnen begründete Zweifel mit Bezug auf die religiöse Annahme unterhalten, welche auf die einfachsten und naheliegendsten Gründe gestützt ist und, wenn sie nicht künstlichen Hindernissen begegnet, so leicht Zugang und Einlaß in die Herzen der Menschen findet?

Und hier können wir, fuhr er, zu Demea gewendet, fort, einen sehr merkwürdigen Umstand in der Geschichte der Wissenschaften bemerken. Nach der Vereinigung der Philosophie mit der volkstümlichen Religion in der ersten Gründung des Christentums war nichts gewöhnlicher bei den religiösen Lehrern als Deklamationen gegen die Vernunft, gegen die Sinne, gegen jeden bloß von menschlicher Forschung abgeleiteten Grundsatz. Alle Gemeinplätze der alten Akademiker wurden von den Vätern angenommen und für eine lange Zeitreihe auf jede Schule und Kanzel des Christentums übertragen. Die Reformatoren eigneten sich denselben Grundsatz der Betrachtung oder vielmehr der Deklamation an; in alle Lobpreisungen des Glaubens waren sicherlich einige satirische Streiche gegen die natürliche Vernunft eingestreut. Ein berühmter hoher Geistlicher der römischen Kirche (Mr. Huet), ein Mann von der ausgebreitetsten Gelehrsamkeit, der einen Beweis des Christentums schrieb, verfaßte auch eine Abhandlung, die alle Angriffe des kühnsten und entschiedensten Pyrrhonismus enthält. Locke scheint der erste Christ gewesen zu sein, der offen zu behaupten wagte, daß Glaube nichts als eine Art von Vernunft, Religion nur ein Zweig der Philosophie sei, und daß eine Reihe von Argumenten ähnlich denen, welche jede Wahrheit in der Moral oder Politik oder Physik begründen, in der Entdeckung aller Grundsätze der Theologie,[42] der natürlichen wie der offenbarten, stets angewendet worden sei. Der schlimme Gebrauch, welchen Bayle und andere Freigeister von dem philosophischen Skeptizismus der Väter und ersten Reformatoren machten, trug zur weiteren Verbreitung der einsichtigen Auffassung Lockes bei; und jetzt ist es gewissermaßen von allen, welche auf Wissenschaftlichkeit und Philosophie Anspruch erheben, zugestanden, daß Atheist und Skeptiker beinahe synonym sind. Und da es gewiß ist, daß niemand sich im Ernst zu letzterem Prinzip bekennt, so möchte ich gern glauben, daß es ebensowenig jemanden gibt, welcher im Ernst das erstere annimmt.

Erinnert Ihr Euch, sagte Philo, des trefflichen Ausspruchs Bacons über diesen Punkt? – Daß ein wenig Philosophie, erwiderte Cleanthes, jemanden zum Atheisten macht, eine gründliche ihn zur Religion zurückführt? – Gewiß, das ist eine sehr einsichtige Bemerkung, sagte Philo. Aber was ich im Auge habe, ist eine andere Stelle, wo dieser große Philosoph, nach Erwähnung des Narren bei David, der in seinem Herzen sagte: es ist kein Gott, bemerkt, daß die heutigen Atheisten doppelt Narren sind: denn sie seien nicht zufrieden in ihrem Herzen zu sagen: es ist kein Gott, sondern sie äußerten diese Gottlosigkeit auch mit ihren Lippen, und seien daher doppelter Unbesonnenheit und Unklugheit schuldig. Solche Leute, so ernst es ihnen damit sein mag, können, so scheint mir, nicht eben furchtbar sein.

Doch auf die Gefahr, daß Ihr mich in diese Klasse von Narren einreiht, kann ich mich nicht enthalten, eine Wahrnehmung mitzuteilen, welche sich mir aus der Geschichte des religiösen und irreligiösen Skeptizismus, womit Ihr uns unterhalten habt, aufdrängt. Mir scheint, daß starke Anzeichen von Priesterlist in dem ganzen Verlauf dieser Angelegenheit zutage treten. Während unwissender Zeitalter, wie sie auf die Auflösung der alten Schulen folgten, bemerkten die Priester, daß Atheismus, Deismus oder irgendwelche Ketzerei, allein aus der anmaßlichen Untersuchung überkommener Meinungen und aus dem Glauben, daß menschliche Vernunft jedem Problem gewachsen sei, entspringen könne. Erziehung[43] hatte damals einen mächtigen Einfluß auf den Geist der Menschen und war von fast gleicher Stärke mit den aus den Sinnen und dem gemeinen Verstand erwachsenden Überzeugungen, durch welche eingestandenermaßen auch der entschiedenste Skeptiker sich leiten läßt. Gegenwärtig hingegen, wo der Einfluß der Erziehung sehr verringert ist, wo Leute von einigem Verkehr mit der Welt die volkstümlichen Ansichten verschiedener Nationen und Zeiten zu vergleichen gelernt haben, haben unsere klugen Geistlichen ihr philosophisches System gänzlich gewechselt und sprechen die Sprache der Stoiker, Platoniker, Peripatetiker, nicht die der Pyrrhoneer und Akademiker. Mißtrauen wir der menschlichen. Vernunft, so haben wir kein anderes Prinzip, das uns zur Religion führen könnte. So sind sie Skeptiker in einem Zeitalter, Dogmatiker in einem andern; welches System immer den Zwecken dieser ehrwürdigen Herren am besten dient, ihnen Einfluß über die Menschen zu verschaffen, das machen sie sicherlich zu ihrem begünstigten Prinzip, zu ihrer anerkannten Urteilsregel.

Es ist sehr natürlich, sagte Cleanthes, daß jedermann den Prinzipien anhängt, durch welche er am besten seine Lehre verteidigen zu können meint, und wir brauchen nicht zur Priesterlist zu greifen, um eine so natürliche Auskunft begreiflich zu finden. Und sicherlich kann nichts ein günstigeres Vorurteil für die Wahrheit und Annehmbarkeit eines Prinzips begründen, als die Wahrnehmung, daß es zur Bestätigung der wahren Religion hinneigt und zur Widerlegung der Angriffe von Atheisten und Freigeistern aller Schattierungen dient.

1

Chrysippus apud Plut. de repugn. Stoicorum.

2

L'art de penser.

Quelle:
David Hume: Dialoge über natürliche Religion. Über Selbstmord und Unsterblichkeit der Seele. Leipzig 31905, S. 32-44.
Lizenz:
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