Zehnter Teil

[102] Meine Ansicht ist, ich gestehe es, sagte Demea, daß jeder Mensch in gewisser Weise die Wahrheit der Religion in seiner eigenen Brust fühlt und mehr durch ein Bewußtsein seiner Schwäche und seines Elends als durch Schlüsse dahin gebracht wird, den Schutz des Wesens zu suchen, von dem er und die ganze Natur abhängig ist. So erfüllt von Angst oder Langeweile sind auch die besten Lebensumstände, daß die Zukunft der Gegenstand aller unserer Hoffnungen und Befürchtungen ist. Unaufhörlich blicken wir in die Zukunft und suchen durch Bitten, Anbetung, und Opfer die unbekannten Mächte uns günstig zu stimmen, welche nach unserer Erfahrung so sehr die Macht haben uns niederzudrücken und zu zerschmettern. Unglückselige Geschöpfe, die wir sind! Was für Zuflucht hätten wir unter den unzähligen Übeln des Lebens, böte uns die Religion nicht einige Ersatzmittel, und sänftigte die Schrecken, von denen wir unaufhörlich umgetrieben und gemartert werden.

In der Tat, ich bin überzeugt, sagte Philo, daß die beste und in Wahrheit einzige Art, jedermann zu einem gebührenden Sinn für Religion zu bringen, zutreffende Darstellungen des Elends und der Verderbtheit der Menschen sind. Und zu diesem Ende ist Beredtsamkeit und starke Einbildungskraft mehr erforderlich, als Folgern und Beweisen. Denn ist es notwendig zu beweisen, was jeder in sich selbst fühlt? Es ist bloß notwendig, das Gefühl dafür, wenn möglich, inniger und lebhafter zu machen.[102]

Die Menge, erwiderte Demea, ist in der Tat hinlänglich von dieser großen und trübseligen Wahrheit überzeugt. Das Elend des Lebens, das Unglück des Menschen, die allgemeine Verderbtheit unserer Natur, der nie befriedigende Genuß von Vergnügungen, Reichtümern, Ehren, solche Reden sind fast sprichwörtlich in allen Sprachen. Und wer kann zweifeln an dem, was alle Menschen aus eigenem unmittelbarem Gefühl und Erfahren kundgeben?

In diesem Punkt, sagte Philo, sind die Gelehrten und die Menge in vollkommener Übereinstimmung, und in allen Schriften, heiligen und profanen, wird der Gemeinplatz des menschlichen Elends mit der leidenschaftlichen Beredtsamkeit, welche Angst und Trübsinn eingeben, behandelt. Die Dichter, welche aus ihrem Gefühl ohne System reden, und deren Zeugnis deshalb um so mehr Gewicht hat, fließen über von Bildern dieser Art. Von Homer herab bis auf Dr. Young ist es dem begeisterten Geschlecht nie entgangen, daß keine andere Darstellung der Dinge dem Gefühl und der Beobachtung jedes Menschenkindes zusagen würde.

Was Autoritäten anlangt, erwiderte Demea, so braucht Ihr nicht danach zu suchen. Seht Euch um hier in der Bibliothek des Cleanthes. Ich wage zu behaupten, daß mit Ausnahme der Schriftsteller über besondere Wissenschaften, wie Chemie oder Botanik, welche keinen Anlaß haben von dem menschlichen Leben zu handeln, kaum einer unter diesen unzähligen Schriftstellern ist, dem nicht das Gefühl des menschlichen Elends in einer oder der andern Stelle eine Klage oder ein Eingeständnis entrissen hätte. Wenigstens ist die Wahrscheinlichkeit durchaus auf dieser Seite, und kein Schriftsteller, soweit ich mich erinnere, ist je so weit gegangen, es zu leugnen.

Verzeiht mir, sagte Philo, Leibniz hat es geleugnet und ist vielleicht der erste8, der eine so kühne und[103] paradoxe Meinung wagte, wenigstens der erste, der sie zu einem wesentlichen Teil seines philosophischen Systems machte.

Und hätte er nicht eben hieraus, erwiderte Demea, daß er der erste war, die Überzeugung ihrer Irrtümlichkeit gewinnen müssen? Denn ist dies ein Gegenstand, wo Philosophen Entdeckungen zu machen erwarten dürfen, dazu in einer so späten Zeit? Kann ein einzelner hoffen, durch einfache Leugnung (denn die Sache läßt ein Beweisverfahren kaum zu) das vereinte, auf Empfindung und Selbstbewußtsein gestützte einmütige Zeugnis des Menschengeschlechts zu er drücken?

Und wie sollte der Mensch, fügte er hinzu, eine Ausnahme von dem Lose aller andern Tiere in Anspruch nehmen dürfen? Die ganze Erde, glaubt mir es, Philo, ist verflucht und unrein. Ein beständiger Krieg ist entbrannt zwischen allen lebenden Geschöpfen. Not, Hunger, Entbehrung stacheln die Starken und Mutigen an; Furcht, Angst, Schrecken treiben die Schwachen und Kraftlosen um. Der erste Eintritt ins Leben ist Angst für das Neugeborene und seine gequälte Mutter; Schwäche, Ohnmacht, Unglück begleiten jede Stufe des Lebens, und es endet zuletzt in Schrecken und Todeskampf.

Beachtet ferner, sagte Philo, die erstaunliche Kunst der Natur, das Leben jedes lebenden Wesens zu verbittern. Die Stärkeren machen Jagd auf die Schwächeren und halten sie in beständiger Angst und Furcht. Die Schwächeren ihrerseits stellen oft den Stärkeren nach und belästigen sie ohne Aufhören. Seht auf die unzähligen Arten von Insekten, welche entweder auf dem Körper jedes Tieres sich aufhalten, oder ihn umschwärmend ihre Stachel in ihn einbohren. Diese Insekten haben in sich andere noch kleinere, von denen sie gequält werden. Und so ist jedes Tier von allen Seiten, vorn und hinten, oben und unten, umgeben von Feinden, welche unaufhörlich sein Elend und seine Zerstörung suchen.

Allein der Mensch, sagte Demea, scheint zum Teil eine Ausnahme von dieser Regel zu sein. Denn durch[104] Vereinigung in Gesellschaften wird er leicht Herr über Löwen, Tiger und Bären, deren größere Stärke und Schnelligkeit sie von Natur instand setzte, ihn zu ihrer Beute zu machen.

Im Gegenteil, rief Philo, hier ist es, wo die einförmige und gleichartige Verfahrungsweise der Natur am deutlichsten zutage tritt. Der Mensch, es ist wahr, kann durch Vereinigung alle seine wirklichen Feinde überwinden und sich zum Herrn der ganzen tierischen Schöpfung machen; aber schafft er sich nicht alsbald eingebildete Feinde, die Dämonen seiner Phantasie, welche ihn mit abergläubischen Schrecken heimsuchen und jeden Genuß des Lebens versengen? Sein Vergnügen, bildet er sich ein, ist in ihren Augen ein Verbrechen; seine Nahrung und Ruhe bewirkt bei ihnen Argwohn und Ärgernis; sein Schlaf selbst gibt seiner ängstlichen Furcht neue Gegenstände; und sogar der Tod, seine Zuflucht vor allem andern Übel, verschafft ihm nur das Entsetzen vor endloser und unaussprechlicher Pein. Der Wolf schreckt die furchtsame Herde nicht mehr, als Aberglaube die beängstete Brust elender Sterblicher.

Bedenkt ferner, Demea, wie eben die Gesellschaft, wodurch wir die wilden Tiere, unsere natürlichen Feinde, überwinden, uns neue Feinde schafft. Welches Leid und Elend verursacht sie uns! Der Mensch ist der größte Feind des Menschen. Unterdrückung, Ungerechtigkeit. Verachtung, Schmach, Gewalttat, Aufruhr, Krieg, Verleumdung, Verrat, Betrug, dadurch quälen sie einander, und bald würden sie die Gesellschaft, welche sie gebildet haben, auflösen, wäre nicht die Furcht vor noch größeren Übeln, welche ihre Trennung begleiten müßten.

Obwohl diese Angriffe von außen, sagte Demea, von Tieren, von Menschen, von allen Elementen, die uns anfallen, ein schreckliches Verzeichnis von Leiden bilden, so sind sie doch nichts im Vergleich mit denen, die in uns selbst entstehen, von der übelgemischten Beschaffenheit unseres Geistes und Leibes. Wie viele unterliegen der abzehrenden Qual von Krankheiten. Hört die pathetische Aufzählung des großen Dichters:
[105]

Geschwür und Nierensteine, Magengicht,

Beseßnes Rasen und des Tiefsinns Stieren,

Mondsücht'ge Tollheit, peinigende Dörrsucht,

Schwindsucht und Pest, weites Verderben breitend.

Ein gräßlich Wälzen, Stöhnen; Todesangst

Von Lager treibt zu Lager ruhelos.

Zu Häupten seiner Beute schwingt der Tod

Den Speer, doch zögert er, ob man ihn gleich

Anruft als höchstes Gut und letzte Hoffnung.9


Die Unordnungen des Geistes, fuhr Demea fort, obgleich mehr geheim, sind vielleicht nicht weniger schrecklich und qualvoll. Reue, Scham, Angst, Raserei, Enttäuschung, Kummer, Furcht, Niedergeschlagenheit, Verzweiflung, wer ist je durch das Leben gegangen, ohne grausame Anfälle dieser Quälgeister? Wie viele haben kaum je bessere Empfindungen gefühlt? Arbeit und Armut, von jedem verabscheut, sind das gewisse Los der großen Mehrzahl; und die wenigen Bevorzugten, welche sich der Bequemlichkeit und des Wohlstandes erfreuen, erreichen niemals Zufriedenheit oder wahres Glück. Alle Güter des Lebens vereint machen nicht einen gar glücklichen Mann; aber alle Übel vereint machen wohl einen ganz elenden und ein einziges von ihnen (und wer kann von jedem frei sein?), ja oft schon die Abwesenheit eines Gutes (und wer kann alle besitzen?) ist hinreichend das Leben unwünschenswert zu machen.

Wenn ein Fremder plötzlich in diese Welt hinein versetzt würde, so würde ich ihm, als ein Beispiel ihrer Übel, ein Krankenhaus voll von Kranken, ein Gefängnis gefüllt mit Verbrechern und Schuldnern, ein Schlachtfeld[106] besäet mit Leichnamen, eine Flotte versinkend im Ozean, ein Volk daniederliegend unter Tyrannei, Hungersnot oder Pestilenz zeigen. Die heitere Seite des Lebens hervorzukehren und ihm einen Begriff von seiner Lust zu geben, wohin sollte ich ihn führen? auf einen Ball, in eine Oper, an einen Hof? Er möchte wohl meinen, daß ich ihm bloß eine andere Art von Elend und Sorge zeige.

So schlagenden Beispielen, sagte Philo, läßt sich keine Verteidigung entgegensetzen, die nicht die Anklage noch schwerer macht. Weshalb haben, frage ich, alle Menschen aller Zeiten unaufhörlich über das Elend des Lebens geklagt? – – Sie haben keinen Grund, sagt jemand; alle diese Klagen kommen allein aus ihrem unzufriedenen, mißvergnügten, furchtsamen Gemüt. – – Kann es, erwidere ich, eine gewissere Grundlage des Elends geben, als ein so unseliges Temperament?

Aber wenn sie wirklich so unglücklich sind, wie sie behaupten, sagt mein Gegner, warum halten sie im Leben aus? –


Das Leben eine Last, der Tod voll Schrecken.


Das ist die heimliche Kette, welche uns hält. Wir sind geschreckt, nicht bestochen zur Fortführung unseres Daseins.

Es ist bloß Verzärtelung, mag jener behaupten, der wenige feiner gebildete Geister sich überlassen, welche diese Klagen über das ganze Menschengeschlecht verbreitet hat. – Und diese Verzärtelung, frage ich, die Ihr tadelt, was ist sie? Ist es etwas anderes als eine größere Empfindlichkeit für alle Freuden und Leiden dieses Lebens? Und wenn der Mensch von zarterer und feinerer Konstitution, eben dadurch, daß er intensiver lebt als die übrigen Menschen, nur um so viel unglücklicher ist, was sollen wir im allgemeinen für ein Urteil über das menschliche Leben fällen?

Die Menschen sollten in Ruhe verharren, sagt unser Gegner, und ihnen wird wohl sein. Sie sind wollend Schöpfer ihres Elends. – Nein, erwidere ich, angstvolle[107] Langeweile folgt ihrer Ruhe; Enttäuschung, Qual, mühevolle Unruhe ihrer Tätigkeit und ihrem Ehrgeiz.

Ich sehe etwas, ähnlich dem, wovon Ihr sprecht, bei einigen andern, erwiderte Cleanthes; aber ich gestehe, ich fühle davon wenig oder nichts in mir selbst und hoffe, daß es nicht so allgemein ist, als Ihr es darstellt.

Wenn Ihr selbst das menschliche Elend nicht fühlt, rief Demea, so beglückwünsche ich Euch als glückliche Ausnahme. Andere, dem Anscheine nach sehr glücklich, haben nicht, Anstand genommen, ihre Klagen in den traurigsten Tönen auszulassen. Hören wir den großen, den glückbegünstigten Kaiser Karl V., als er, menschlicher Größemüde, seine weiten Herrschaften in die Hände seines Sohnes niederlegte. In der letzten Ansprache, die er bei dieser merkwürdigen Gelegenheit hielt, gestand er offen ein: »daß die größten Glücksfälle, deren er sich je erfreut habe, mit so vielen widrigen Zufällen gemischt gewesen seien, daß er mit Wahrheit sagen könne, er habe niemals eine Befriedigung oder ein Genüge empfunden.« Bot die Zurückgezogenheit, worin er Schutz suchte, ihm größeres Glück? Wenn wir dem Bericht seines Sohnes Glauben schenken dürfen, begann seine Reue noch an dem Tage der Thronentsagung.

Ciceros Geschick stieg von kleinen Anfängen zu dem größten Glanz und Ruhm; wie lebhafte Klagen über die Übel des Lebens enthalten trotzdem sowohl seine vertrauten Briefe als seine philosophischen Erörterungen. Und in Gemäßheit seiner eigenen Erfahrung führt er Cato, den großen, den glückbegünstigten Cato, in seinem Alter ein, Einsprache erhebend: wenn ihm ein neues Leben angeboten würde, wolle er das Geschenk ausschlagen.

Fragt Euch selbst, fragt jeden aus Eurer Bekanntschaft, ob sie die letzten zehn oder zwanzig Jahre ihres Lebens nochmals leben wollten. Nein; aber die nächsten zwanzig, sagen sie, werden besser sein:


Voll Hoffnung, daß des Lebens Neige schenkt,

Was selbst der frische Sprudel weigerte.
[108]

So finden sie zuletzt (so groß ist das menschliche Elend, es söhnt sogar Widersprüche aus), daß die zu gleich über die Kürze des Lebens und über seine Eitelkeit und Sorge klagen.

Ist es möglich, Cleanthes, sagte Philo, daß Ihr nach allen diesen Reflexionen, und unendlich mehreren, die angestellt werden könnten, in Eurem Anthropomorphismus beharren und behaupten könnt, die sittlichen Eigenschaften der Gottheit, ihre Gerechtigkeit, ihr Wohlwollen, ihre Gnade, ihr Gradsinn seien von derselben Art wie diese Tugenden im menschlichen Wesen? Seine Macht nehmen wir als unbegrenzt an: was er will, geschieht; nun ist weder der Mensch noch ein anderes Tier glücklich: also er will nicht ihr Glück. Seine Weisheit ist unbegrenzt: niemals greift er fehl in der Auswahl der Mittel zu einem Ziel; nun zielt der Lauf der Natur nicht auf menschliches oder tierisches Glück: sie ist also nicht auf diesen Zweck angelegt. Im ganzen Bereich menschlichen Wissens gibt es nicht gewissere, untrüglichere Folgerungen als diese. In welcher Hinsicht also gleicht sein Wohlwollen und seine Güte dem Wohlwollen und der Güte von Menschen?

Des Epikurus alte Fragen sind noch unbeantwortet.

Will er Übel verhüten und kann nicht? Dann ist er unmächtig. Kann er und will nicht? Dann ist er übelwollend. Will er und kann er? Woher dann das Übel.

Ihr, Cleanthes, legt der Natur (und ich glaube mit Recht) Zweck und Absicht bei. Aber was ist, ich bitte Euch, der Gegenstand dieser wunderbaren Kunst und Maschinerie, welche sie in allen Tieren entfaltet hat? Allein die Erhaltung der Individuen und die Fortpflanzung der Art. Es scheint ihrem Zweck zu genügen, wenn eine solche Reihe im Universum lediglich aufrecht erhalten wird, ohne Sorge oder Rücksicht auf das Glück der Glieder, welche sie zusammensetzen. Für diesen Zweck hat sie kein Hilfsmittel; keine Vorkehrung in Absicht auf das Ziel, Lust oder Wohlbefinden zu geben; keine Quelle reiner Lust und Zufriedenheit; keine Befriedigung ohne begleitendes Bedürfnis und Not. Wenigstens sind die wenigen[109] Erscheinungen dieser Art durch entgegengesetzte Erscheinungen von größerem Gewicht aufgewogen.

Unser Sinn für Musik, Harmonie und Schönheit allerart gibt Befriedigung, ohne für die Selbsterhaltung und Fortpflanzung der Art absolut notwendig zu sein. Aber was für Folterqualen entspringen andererseits aus Gicht, Stein, Migräne, Zahnschmerzen, Reißen, wo die Verletzung der tierischen Maschinerie klein oder unheilbar ist? Lustigkeit, Lachen, Spiel, Frohsinn scheinen bedürfnislose Befriedigungen, welche kein weiteres Ziel haben: Trübsinn, Melancholie, Unzufriedenheit, Superstition sind Leiden von derselben Art. Wie zeigt sich hierin, nach der Deutung von Euch Anthropomorphisten, das göttliche Wohlwollen? Nur wir Mystiker, wie Ihr uns zu nennen beliebt, können diese befremdliche Mischung von Erscheinungen rechtfertigen, indem wir sie aus unendlich vollkommenen aber unbegreiflichen Eigenschaften ableiten.

Habt Ihr endlich, sagte lächelnd Cleanthes, Eure Absicht verraten, Philo? Euer langes Zusammengehen mit Demea, überraschte mich in der Tat ein wenig; nun sehe ich, daß Ihr all die Weile eine geheime Batterie gegen mich errichtet habt. Und ich muß gestehen, daß Ihr jetzt auf einen Gegenstand gekommen seid, der Eures noblen Widerspruchsgeistes würdig ist. Könnt Ihr diesen Punkt erledigen und beweisen, daß das Menschengeschlecht elend und verderbt ist, dann ist es mit der Religion auf einmal aus. Denn wozu die natürlichen Eigenschaften Gottes feststellen, so lange die sittlichen zweifelhaft und ungewiß sind?

Ihr schöpft, erwiderte Demea, leicht Argwohn bei den unschuldigsten und selbst von religiösen und frommen Leuten allgemein angenommenen Meinungen; und es ist höchst erstaunlich, einen Gemeinplatz wie den der Bosheit und des Elends des Menschen nichts geringeren als des Atheismus und der Gottlosigkeit angeklagt zu sehen. Haben nicht alle frommen Geistlichen und Prediger, welche ihre Beredtsamkeit über diesen fruchtbaren Gegenstand sich haben ergehen lassen, haben sie nicht, sage ich, mit Leichtigkeit eine Lösung aller damit verbundenen[110] Schwierigkeiten gegeben? Diese Welt ist bloß ein Punkt im Vergleich zu dem All; dies Leben bloß ein Augenblick im Vergleich mit der Ewigkeit.

Die gegenwärtigen schlimmen Erscheinungen sind daher in anderen Gegenden, in einer zukünftigen Periode des Daseins berichtigt. Und die Augen der Menschen, dann offen für größere Überblicke über die Dinge, sehen die ganze Verkettung allgemeiner Gesetze und folgen mit Anbetung den Spuren des Wohlwollens und der Redlichkeit der Gottheit durch alle Irrgänge und Verwickelungen ihrer Vorsehung.

Nein, erwiderte Cleanthes, nein! Diese willkürlichen Annahmen, welche offenbaren und unwidersprechlichen Tatsachen entgegen sind, dürfen nicht zugelassen werden. – Woher kann eine Ursache erkannt werden, als aus den vorliegenden Erscheinungen? Eine Hypothese auf die andere bauen, heißt in die Luft bauen, und das höchste, was wir durch solche Vermutungen und Fiktionen jemals erreichen, ist die Sicherung der bloßen Möglichkeit unserer Meinung, aber nie können wir auf solche Weise ihre Realität feststellen.

Die einzige Art, das göttliche Wohlwollen zu begründen (und die eigne ich mir entschlossen an), ist die, das Elend und die Verderbtheit des Menschen entschieden zu leugnen. Eure Darstellung ist übertrieben; Eure schwarzsehenden Ansichten gehören der Einbildung an; Eure Folgerungen widersprechen den Tatsachen und der Erfahrung. Gesundheit ist allgemeiner als Krankheit, Lust als Schmerz, Glück als Elend. Für eine Qual, die uns begegnet, erfahren wir, schätze ich, wohl hundert Freuden.

Euren Satz zugestanden, erwiderte Philo, obwohl er äußerst zweifelhaft ist, so müßt Ihr doch zugleich zugeben, daß, wenn Schmerz seltener als Lust ist, er unendlich viel heftiger und dauernder ist. Eine Stunde Schmerz ist oft imstande, einen Tag, eine Woche, einen Monat unserer gewöhnlichen unschmackhaften Freuden aufzuwiegen: und wie viele Tage, Wochen, Monate werden von vielen in den heftigsten Qualen zugebracht? Lust ist kaum in einem Falle imstande, ekstatische Hingerissenheit zu erreichen, und in keinem Falle kann sie[111] sich auch nur kurze Zeit auf ihrem höchsten Gipfel erhalten. Die Lebensgeister verrauchen, die Nerven erschlaffen, die Organisation kommt in Unordnung, und aus Freude wird bald Ermüdung und Mißbehagen. Schmerz dagegen, guter Gott, wie oft erhebt er sich zu Folterpein und Todeskampf und je länger er andauert, um so mehr wird er wahrer Todeskampf und Folterpein! Die Geduld erschöpft sich, der Mut wird matt, Trübsinn ergreift uns, und nichts endigt unser Elend als die Entfernung seiner Ursache oder ein anderes Ereignis, das einzige Heilmittel für alle unsere Übel, das wir jedoch in natürlicher Blindheit mit noch größerer Angst und Bestürzung betrachten.

Doch um bei diesen Punkten, fuhr Philo fort, obwohl sie höchst naheliegend, gewiß und bedeutsam sind, nicht zu verweilen, muß ich mir die Freiheit nehmen, Cleanthes, Euch zu erinnern, daß Ihr der Streitfrage eine sehr gefährliche Wendung gegeben und ohne es zu merken, einen vollständigen Skeptizismus in die wesentlichsten Artikel der natürlichen und geoffenbarten Theologie eingeführt habt. Wie, es gibt keine Art einer sicheren Begründung der Religion, wenn wir nicht die Glückseligkeit des menschlichen Lebens zugeben und behaupten, daß ein fortdauerndes Dasein in dieser Welt mit allen unseren gegenwärtigen Schmerzen, Krankheiten, Plagen und Torheiten begehrenswert sei? Das ist das Gegenteil von dem, was jeder fühlt und erfährt; es ist das Gegenteil einer so wohlbegründeten Autorität, daß nichts sie stürzen kann; keine entscheidenden Beweise können gegen diese Autorität jemals vorgebracht werden. Es ist Euch nicht möglich, alle Schmerzen und Freuden im Leben aller Menschen und Tiere zusammenzurechnen, abzuschätzen und zu vergleichen; und so gesteht Ihr, indem Ihr das ganze Religionssystem auf einen seiner Natur nach stets ungewiß bleibenden Punkt stützt, stillschweigend zu, daß das System selbst gleicherweise ungewiß ist.

Aber wenn Euch auch zugestanden wird, was nie geglaubt, wenigstens nie von Euch bewiesen werden wird, daß nämlich das Glück aller tierischen oder wenigstens der menschlichen Wesen ihr Unglück überwiegt, so habt[112] Ihr noch nichts gewonnen: denn das ist es wahrlich nicht, was wir von unendlicher Macht, unendlicher Weisheit, unendlicher Güte erwarten. Weshalb gibt es überhaupt Unglück in der Welt? Sicherlich nicht durch Zufall. Also durch eine Ursache. Etwa der Absicht der Gottheit? Aber er ist vollkommen wohlwollend. Ist es gegen seine Absicht? Aber er ist allmächtig. Nichts kann die Sicherheit dieses so kurzen, so klaren, so entscheidenden Schlusses erschüttern, als allein die Behauptung: daß diese Gegenstände das menschliche Vermögen übersteigen und daß unser gewöhnlicher Maßstab für Wahrheit und Falschheit hier keine Anwendung hat; ein Standpunkt, auf welchen ich stets drang, den Ihr aber von Anfang an mit Verachtung und Unwillen zurückwiesest.

Doch ich will zunächst darauf verzichten, in diese Verschanzung mich zurückzuziehen, denn ich leugne, daß Ihr mich jemals in sie zurücktreiben könnt; ich will zugeben, daß Schmerz und Elend im Menschengeschlecht mit unendlicher Macht und Güte in der Gottheit, diese Attribute selbst in Eurem Sinn genommen, vereinbar sind: was gewinnt Ihr durch alle diese Zugeständnisse? Eine bloß mögliche Vereinbarkeit ist nicht ausreichend. Ihr müßt diese reinen, unvermischten und unwiderstehlichen Eigenschaften aus den vorliegenden gemischten und verworrenen Erscheinungen, und aus diesen allein, beweisen. Ein hoffnungsvolles Unternehmen! Wären die Erscheinungen auch rein und unvermischt, dennoch würden sie, da sie endlich sind, für diese Absicht nicht ausreichen. Wieviel weniger, da sie so mißtönend und widersprechend sind.

Hier, Cleanthes, finde ich mich in meinem Fahrwasser, hier bin ich Sieger. Vorhin, als wir die natürlichen Eigenschaften der Intelligenz und Absicht erörterten, bedurfte ich all meiner skeptischen und metaphysischen Begriffspalterei, um Euch um die Erreichung Eurer Absicht zu täuschen. In mancher Hinsicht drängen sich uns Schönheit und Zweckmäßigkeit des Universums und seiner Teile, besonders der letzteren, mit so unwiderstehlicher Stärke auf, daß alle Einwendungen als bloße sophistische Schikanen erscheinen, was sie, glaube ich, in[113] der Tat auch sind; auch wir vermögen uns dann kaum vorzustellen, wie wir ihnen jemals irgendein Gewicht beilegen konnten. Aber es gibt keine Ansicht des menschlichen Lebens oder des Loses des Menschengeschlechts, von welcher wir ohne größte Gewaltsamkeit auf die moralischen Eigenschaften schließen oder das unendliche Wohlwollen, verbunden mit unendlicher Macht und unendlicher Weisheit, erkennen können; nur mit dem Auge des Glaubens können wir diese entdecken. Es ist nun an Euch, zum mühvollen Ruder zu greifen und Euren philosophischen Spitzfindigkeiten gegen die Aussagen klarer Vernunft und Erfahrung zu Hilfe zu kommen.

8

Diese Ansicht ist vor Leibniz aufgestellt von Dr. King und einigen wenigen anderen, obwohl von keinem so berühmten als diesem deutschen Philosophen.

9

Milton, paradise lost XI., 484 ff.

Intestine stone and ulcer, colic-pangs,

Daemoniac frenzy, moping melancholy

And moon-struck madness, pining atrophy,

Marasmus and wide-wasting pestilence.

Dire was the tossing, deep de groans: Despair

Tended the sick, busiest from couch to couch.

And over them triumphant Death his dart

Shook, but delay'd to strike, tho' oft invok'd

With vows, as their chief good and final hope.

Quelle:
David Hume: Dialoge über natürliche Religion. Über Selbstmord und Unsterblichkeit der Seele. Leipzig 31905, S. 102-114.
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