[127] Man nennt einen Inbegriff selbst von praktischen Regeln alsdann Theorie, wenn diese Regeln, als Prinzipien, in einer gewissen Allgemeinheit gedacht werden, und dabei von einer Menge Bedingungen abstrahiert wird, die doch auf ihre Ausübung notwendig Einfluß haben. Umgekehrt, heißt nicht jede Hantierung, sondern nur diejenige Bewirkung eines Zwecks Praxis, welche als Befolgung gewisser im allgemeinen vorgestellten Prinzipien des Verfahrens gedacht wird.

Daß zwischen der Theorie und Praxis noch ein Mittelglied der Verknüpfung und des Überganges von der einen zur anderen erfordert werde, die Theorie mag auch so vollständig sein wie sie wolle, fällt in die Augen; denn, zu dem Verstandesbegriffe, welcher die Regel enthält, muß ein Actus der Urteilskraft hinzukommen, wodurch der Praktiker unterscheidet, ob etwas der Fall der Regel sei oder nicht; und, da für die Urteilskraft nicht immer wiederum Regeln gegeben werden können, wornach sie sich in der Subsumtion zu richten habe (weil das ins Unendliche gehen würde), so kann es Theoretiker geben, die in ihrem Leben nie praktisch werden können, weil es ihnen an Urteilskraft fehlt: z.B. Ärzte, oder Rechtsgelehrte, die ihre Schule gut gemacht haben, die aber, wenn sie ein Consilium zu geben haben, nicht wissen, wie sie sich benehmen sollen. – Wo aber diese Naturgabe auch angetroffen wird, da kann es doch noch einen Mangel an Prämissen geben; d.i. die Theorie kann unvollständig und die Ergänzung derselben vielleicht nur durch noch anzustellende Versuche und Erfahrungen geschehen, von denen der aus seiner Schule kommende Arzt, Landwirt, oder Kameralist sich neue Regeln abstrahieren, und seine Theorie vollständig machen kann und soll. Da lag es dann nicht an der Theorie, wenn sie zur Praxis noch wenig taugte, sondern daran, daß nicht genug Theorie da war, welche der Mann von der Erfahrung hätte lernen sollen; und welche wahre Theorie ist, wenn er sie gleich nicht von sich zu[127] geben, und, als Lehrer, in allgemeinen Sätzen systematisch vorzutragen im Stande ist, folglich auf den Namen eines theoretischen Arztes, Landwirts und dergl. keinen An Spruch machen kann. – Es kann also niemand sich für praktisch bewandert in einer Wissenschaft ausgeben und doch die Theorie verachten, ohne sich bloß zu geben, daß er in seinem Fache ein Ignorant sei: indem er glaubt, durch Herumtappen in Versuchen und Erfahrungen, ohne sich gewisse Prinzipien (die eigentlich das ausmachen, was man Theorie nennt) zu sammeln, und ohne sich ein Ganzes (welches, wenn dabei methodisch verfahren wird, System heißt) über sein Geschäft gedacht zu haben, weiter kommen zu können, als ihn die Theorie zu bringen vermag.

Indes ist doch noch eher zu dulden, daß ein Unwissender die Theorie bei seiner vermeintlichen Praxis für unnötig und entbehrlich ausgebe, als daß ein Klügling sie und ihren Wert für die Schule (um etwa nur den Kopf zu üben) einräumt, dabei aber zugleich behauptet: daß es in der Praxis ganz anders laute; daß, wenn man aus der Schule sich in die Welt begibt, man inne werde, leeren Idealen und philosophischen Träumen nach gegangen zu sein; mit Einem Wort, daß, was in der Theorie sich gut hören läßt, für die Praxis von keiner Gültigkeit sei. (Man drückt dieses oft auch so aus: dieser oder jener Satz gilt zwar in thesi, aber nicht in hypothesi.) Nun würde man den empirischen Maschinisten, welcher über die allgemeine Mechanik, oder den Artilleristen, welcher über die mathematische Lehre vom Bombenwurf so absprechen wollte, daß die Theorie davon zwar fein ausgedacht, in der Praxis aber gar nicht gültig sei, weil bei der Ausübung die Erfahrung ganz andere Resultate gebe als die Theorie, nur belachen (denn, wenn zu der ersten noch die Theorie der Reibung, zur zweiten die des Widerstandes der Luft, mithin überhaupt nur noch mehr Theorie hinzu käme, so würden sie mit der Erfahrung gar wohl zusammen stimmen). Allein es hat doch eine ganz andere Bewandtnis mit einer Theorie, welche Gegenstände der Anschauung betrifft, als mit derjenigen, in welcher diese nur durch Begriffe vorgestellt werden (mit Objekten der Mathematik,[128] und Objekten der Philosophie): welche letzteren vielleicht ganz wohl und ohne Tadel (von Seiten der Vernunft) gedacht, aber vielleicht gar nicht gegeben werden können, sondern wohl bloß leere Ideen sein mögen, von denen in der Praxis entweder gar kein, oder sogar ein ihr nachteiliger Gebrauch gemacht werden würde. Mithin könnte jener Gemeinspruch doch wohl in solchen Fällen seine gute Richtigkeit haben.

Allein in einer Theorie, welche auf dem Pflichtsbegriff gegründet ist, fällt die Besorgnis wegen der leeren Idealität dieses Begriffs ganz weg. Denn es würde nicht Pflicht sein, auf eine gewisse Wirkung unsers Willens auszugehen, wenn diese nicht auch in der Erfahrung (sie mag nun als vollendet, oder der Vollendung sich immer annäherend gedacht werden) möglich wäre; und von dieser Art der Theorie ist in gegenwärtiger Abhandlung nur die Rede. Denn, von ihr wird, zum Skandal der Philosophie, nicht selten vorgeschützt, daß, was in ihr richtig sein mag, doch für die Praxis ungültig sei: und zwar in einem vornehmen wegwerfenden Ton, voll Anmaßung, die Vernunft selbst in dem, worin sie ihre höchste Ehre setzt, durch Erfahrung reformieren zu wollen; und in einem Weisheitsdünkel, mit Maulwurfsaugen, die auf die letztere geheftet sind, weiter und sicherer sehen zu können, als mit Augen, welche einem Wesen zu Teil geworden, das aufrecht zu stehen und den Himmel anzuschauen gemacht war.

Diese, in unsern spruchreichen und tatleeren Zeiten, sehr gemein gewordene Maxime richtet nun, wenn sie etwas Moralisches (Tugend- oder Rechtspflicht) betrifft, den größten Schaden an. Denn hier ist es um den Kanon der Vernunft (im Praktischen) zu tun, wo der Wert der Praxis gänzlich auf ihrer Angemessenheit zu der ihr untergelegten Theorie beruht, und alles verloren ist, wenn die empirischen und daher zufälligen Bedingungen der Ausführung des Gesetzes zu Bedingungen des Gesetzes selbst gemacht, und so eine Praxis, welche auf einen nach bisheriger Erfahrung wahrscheinlichen Ausgang berechnet ist, die für sich selbst bestehende Theorie zu meistern berechtigt wird.[129]

Die Einteilung dieser Abhandlung mache ich nach den drei verschiedenen Standpunkten, aus welchen der über Theorien und Systeme so keck absprechende Ehrenmann seinen Gegenstand zu beurteilen pflegt; mithin in dreifacher Qualität: 1) als Privat- aber doch Geschäftsmann, 2) als Staatsmann, 3) als Weltmann (oder Weltbürger überhaupt). Diese drei Personen sind nun darin einig, dem Schulmann zu Leibe zu gehen, der für sie alle und zu ihrem Besten Theorie bearbeitet: um, da sie es besser zu verstehen wähnen, ihn in seine Schule zu weisen (illa se iactet in aula!), als einen Pedanten, der, für die Praxis verdorben, ihrer erfahrenen Weisheit nur im Wege steht.

Wir werden also das Verhältnis der Theorie zur Praxis in drei Nummern: erstlich in der Moral überhaupt (in Absicht auf das Wohl jedes Menschen), zweitens in der Politik (in Beziehung auf das Wohl der Staaten), drittens in kosmopolitischer Betrachtung (in Absicht auf das Wohl der Menschengattung im ganzen, und zwar so fern sie im Fortschreiten zu demselben in der Reihe der Zeugungen aller künftigen Zeiten begriffen ist) vorstellig machen. – Die Betitelung der Nummeren aber wird, aus Gründen, die sich aus der Abhandlung selbst ergeben, durch das Verhältnis der Theorie zur Praxis in der Moral, dem Staatsrecht, und dem Völkerrecht ausgedrückt werden.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 11, Frankfurt am Main 1977, S. 127-130.
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Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis
Gesammelte Schriften / Akademieausgabe, Bd.27/2/1 (Abt.4, Vorlesungen, Bd.4, 2. Hälfte, Teilbd.1), Vorlesungen über Moralphilosophie, 2. Hälfte, Teilbd.1
Gesammelte Schriften / Akademieausgabe, Bd.27/2/2 (Abt.4, Vorlesungen, Bd.4, 2. Hälfte, Teilbd.2), Vorlesungen über Moralphilosophie, 2. Hälfte, Teilbd.2
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Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793)
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