I. Von dem Verhältnis der Theorie zur Praxis in der Moral überhaupt

[130] (Zur Beantwortung einiger Einwürfe des Hrn. Prof. Garve1)


Ehe ich zu dem eigentlichen Streitpunkte über das, was im Gebrauche eines und desselben Begriffs bloß für die Theorie, oder für die Praxis gültig sein mag, komme: muß[130] ich meine Theorie, so wie ich sie anderwärts vorgestellt habe, mit der Vorstellung zusammen halten, welche Herr Garve davon gibt, um vorher zu sehen, ob wir uns einander auch verstehen.

A. Ich hatte die Moral, vorläufig, als zur Einleitung, für eine Wissenschaft erklärt, die da lehrt, nicht wie wir glücklich, sondern der Glückseligkeit würdig werden sollen.2 Hiebei hatte ich nicht verabsäumt anzumerken, daß dadurch dem Menschen nicht angesonnen werde, er solle, wenn es auf Pflichtbefolgung ankommt, seinem natürlichen Zwecke, der Glückseligkeit, entsagen; denn das kann er nicht, so wie kein endliches vernünftiges Wesen überhaupt; sondern er müsse, wenn das Gebot der Pflicht eintritt, gänzlich von dieser Rücksicht abstrahieren; er müsse sie durchaus nicht zur Bedingung der Befolgung des ihm durch die Vernunft vorgeschriebenen Gesetzes machen; ja sogar, so viel ihm möglich ist, sich bewußt zu werden suchen, daß sich keine von jener hergeleitete Triebfeder in die Pflichtbestimmung unbemerkt mit einmische: welches dadurch bewirkt wird, daß man die Pflicht lieber mit Aufopferungen verbunden vorstellt, welche ihre Beobachtung (die Tugend) kostet, als mit den Vorteilen, die sie uns einbringt: um das Pflichtgebot in seinem ganzen, unbedingten Gehorsam fordernden, sich selbstgenugsamen und keines andern Einflusses bedürftigen, Ansehen sich vorstellig zu machen.[131]

a. Diesen meinen Satz drückt Hr. Garve nun so aus: »ich hätte behauptet, daß die Beobachtung des moralischen Gesetzes, ganz ohne Rücksicht auf Glückseligkeit, der einzige Endzweck für den Menschen sei, daß sie als der einzige Zweck des Schöpfers angesehen werden müsse«. (Nach meiner Theorie ist weder die Moralität des Menschen für sich, noch die Glückseligkeit für sich allein, sondern das höchste in der Welt mögliche Gut, welches in der Vereinigung und Zusammenstimmung beider besteht, der einzige Zweck des Schöpfers.)

B. Ich hatte ferner bemerkt, daß dieser Begriff von Pflicht keinen besondern Zweck zum Grunde zu legen nötig habe, vielmehr einen andern Zweck für den Willen des Menschen herbei führe, nämlich: auf das höchste in der Welt mögliche Gut (die im Weltganzen mit der reinesten Sittlichkeit auch verbundene, allgemeine, jener gemäße, Glückseligkeit) nach allem Vermögen hinzuwirken: welches, da es zwar von einer, aber nicht von beiden Seiten zusammengenommen in unserer Gewalt ist, der Vernunft den Glauben an einen moralischen Weltherrscher und an ein künftiges Leben in praktischer Absicht abnötigt. Nicht, als ob nur unter der Voraussetzung beider der allgemeine Pflichtbegriff allererst »Halt und Festigkeit«, d.i. einen sicheren Grund und die erforderliche Stärke einer Triebfeder, sondern damit er nur an jenem Ideal der reinen Vernunft auch ein Objekt bekomme.3 Denn an sich ist Pflicht[132] nichts anders, als Einschränkung des Willens auf die Bedingung einer allgemeinen, durch eine angenommene Maxime möglichen Gesetzgebung, der Gegenstand desselben, oder der Zweck, mag sein welcher er wolle (mithin auch die Glückseligkeit); von welchem aber, und auch von jedem Zweck, den man haben mag, hiebei ganz abstrahiert wird. Bei der Frage vom Prinzip der Moral kann also die Lehre vom höchsten Gut, als letzten Zweck eines durch sie bestimmten und ihren Gesetzen angemessenen Willens, (als episodisch) ganz übergangen und beiseite gesetzt werden; wie sich auch in der Folge zeigt, daß, wo es auf den eigentlichen Streitpunkt ankömmt, darauf gar nicht, sondern bloß auf die allgemeine Moral Rücksicht genommen wird.

b. Hr. Garve bringt diese Sätze unter folgende Ausdrücke: »daß der Tugendhafte jenen Gesichtspunkt (der eigenen Glückseligkeit) nie aus den Augen verlieren könne, noch dürfe, – weil er sonst den Übergang in die unsichtbare Welt, den zur Überzeugung vom Dasein Gottes und von der Unsterblichkeit,[133] gänzlich verlöre; die doch, nach dieser Theorie, durchaus notwendig ist, dem System Halt und Festigkeit zu geben«; und beschließt damit, die Summe der mir zugeschriebenen Behauptung kurz und gut so zusammen zu fassen; »Der Tugendhafte strebt jenen Prinzipien zu Folge unaufhörlich darnach, der Glückseligkeit würdig, aber, in so fern er wahrhaftig tugendhaft ist, nie darnach, glücklich zu sein«. (Das Wort in so fern macht hier eine Zweideutigkeit, die vorher ausgeglichen werden muß. Es kann so viel bedeuten, als: in dem Actus, da er sich als Tugendhafter seiner Pflicht unterwirft; und da stimmt dieser Satz mit meiner Theorie vollkommen zusammen. Oder: wenn er überhaupt nur tugendhaft ist, und also selbst da, wo es nicht auf Pflicht ankommt und ihr nicht widerstritten wird, solle der Tugendhafte auf Glückseligkeit doch gar keine Rücksicht nehmen; und da widerspricht das meinen Behauptungen gänzlich.)

Diese Einwürfe sind also nichts als Mißverständnisse (denn für Mißdeutungen mag ich sie nicht halten); deren Möglichkeit befremden müßte, wenn nicht der menschliche Hang, seinem einmal gewohnten Gedankengange auch in der Beurteilung fremder Gedanken zu folgen, und so jenen in diese hinein zu tragen, ein solches Phänomen hinreichend erklärte.

Auf diese polemische Behandlung des obigen moralischen Prinzips folgt nun eine dogmatische Behauptung des Gegenteils. Hr. G. schließt nämlich analytisch so: »In der Ordnung der Begriffe muß das Wahrnehmen und Unterscheiden der Zustände, wodurch einem vor dem andern der Vorzug gegeben wird, vor der Wahl eines unter denselben, und also vor der Vorausbestimmung eines gewissen Zwecks, vorher gehen. Ein Zustand aber, den ein mit dem Bewußtsein seiner selbst und seines Zustandes begabtes Wesen dann, wenn dieser Zustand gegenwärtig ist, und von ihm wahrgenommen[134] wird, anderen Arten zu sein vorzieht, ist ein guter Zustand; und eine Reihe solcher guten Zustände ist der allgemeinste Begriff, den das Wort Glückseligkeit ausdrückt.« – Ferner: »Ein Gesetz setzet Motive, Motive aber setzen einen vorher wahrgenommenen Unterschied eines schlechteren Zustandes von einem besseren voraus. Dieser wahrgenommene Unterschied ist das Element des Begriffs der Glückseligkeit, u.s.w.« Ferner: »Aus der Glückseligkeit, im allgemeinsten Sinne des Worts, entspringen die Motive zu jedem Bestreben; also auch zur Befolgung des moralischen Gesetzes. Ich muß erst überhaupt wissen, daß etwas gut ist, ehe ich fragen kann, ob die Erfüllung der moralischen Pflichten unter die Rubrik des Guten gehöre; der Mensch muß eine Triebfeder haben, die ihn in Bewegung setzt, ehe man ihm ein Ziel vorstecken kann,4 wohin diese Bewegung gerichtet werden soll.«

Dieses Argument ist nichts weiter als ein Spiel mit der Zweideutigkeit des Worts das Gute: da dieses entweder, als an sich und unbedingt gut, im Gegensatz mit dem an sich Bösen, oder, als immer nur bedingterweise gut, mit dem schlechteren oder besseren Guten verglichen wird, da der Zustand der Wahl des letzteren nur ein komparativ-besserer Zustand, an sich selbst aber doch böse sein kann. – Die Maxime einer unbedingten, auf gar keine zum Grunde gelegte Zwecke Rücksicht nehmenden Beobachtung eines kategorisch gebietenden Gesetzes der freien Willkür (d.i. der Pflicht) ist von der Maxime: dem, als Motiv zu einer gewissen Handlungsweise, uns von der Natur selbst untergelegten Zweck (der im allgemeinen Glückseligkeit heißt) nachzugehen, wesentlich, d.i. der Art nach, unterschieden. Denn die erste ist an sich selbst gut, die zweite keineswegs;[135] sie kann, im Fall der Kollision mit der Pflicht, sehr böse sein. Hingegen, wenn ein gewisser Zweck zum Grunde gelegt wird, mithin kein Gesetz unbedingt (sondern nur unter der Bedingung dieses Zwecks) gebietet, so können zwei entgegengesetzte Handlungen beide bedingterweise gut sein, nur eine besser als die andere (welche letztere daher komparativ-böse heißen würde); denn sie sind nicht der Art, sondern bloß dem Grade nach von einander unterschieden. Und so ist es mit allen Handlungen beschaffen, deren Motiv nicht das unbedingte Vernunftgesetz (Pflicht), sondern ein von uns willkürlich zum Grunde gelegter Zweck ist: denn dieser gehört zur Summe aller Zwecke, deren Erreichung Glückseligkeit genannt wird; und eine Handlung kann mehr, die andere weniger, zu meiner Glückseligkeit beitragen, mithin besser oder schlechter sein als die andere. – Das Vorziehen aber eines Zustandes der Willensbestimmung vor dem andern ist bloß ein Actus der Freiheit (res merae facultatis, wie die Juristen sagen); bei welchem, ob diese (Willensbestimmung) an sich gut oder böse ist, gar nicht in Betrachtung gezogen wird, mithin in Ansehung beider gleichgeltend.

Ein Zustand, in Verknüpfung mit einem gewissen gegebenen Zwecke zu sein, den ich jedem anderen von derselben Art vorziehe, ist ein komparativ besserer Zustand, nämlich im Felde der Glückseligkeit (die nie anders als bloß bedingter Weise, sofern man ihrer würdig ist, von der Vernunft als Gut anerkannt wird). Derjenige Zustand aber, da ich, im Falle der Kollision gewisser meiner Zwecke mit dem moralischen Gesetze der Pflicht, diese vorzuziehen mir bewußt bin, ist nicht bloß ein besserer, sondern der allein an sich gute Zustand; ein Gutes aus einem ganz andern Felde, wo auf Zwecke, die sich mir anbieten mögen (mithin auf ihre Summe, die Glückseligkeit) gar nicht Rücksicht genommen wird, und wo nicht die Materie der Willkür (ein ihr zum Grunde gelegtes Objekt), sondern die bloße Form der allgemeinen Gesetzmäßigkeit ihrer Maxime, den Bestimmungsgrund derselben ausmacht. – Also kann keineswegs gesagt werden, daß jeder Zustand, den ich jeder[136] andern Art zu sein vorziehe, von mir zur Glückseligkeit gerechnet werde. Denn zuerst muß ich sicher sein, daß ich meiner Pflicht nicht zuwider handle; nachher allererst ist es mir erlaubt, mich nach Glückseligkeit umzusehen, wie viel ich deren mit jenem meinen moralisch- (nicht physisch-) guten Zustande vereinigen kann.5

Allerdings muß der Wille Motive haben; aber diese sind nicht gewisse vorgesetzte, aufs physische Gefühl bezogene Objekte, als Zwecke, sondern nichts als das unbedingte Gesetz selbst: für welches die Empfänglichkeit des Willens, sich unter ihm, als unbedingter Nötigung, zu befinden, das moralische Gefühl heißt; welches also nicht Ursache, sondern Wirkung der Willensbestimmung ist, von welchem wir nicht die mindeste Wahrnehmung in uns haben würden, wenn jene Nötigung in uns nicht vorherginge. Daher das alte Lied: daß dieses Gefühl, mithin eine Lust, die wir uns zum Zweck machen, die erste Ursache der Willensbestimmung, folglich die Glückseligkeit (wozu jene als Element gehöre) doch den Grund aller objektiven Notwendigkeit zu handeln, folglich aller Verpflichtung ausmache, unter die vernünftelnden Tändeleien gehört. Kann man nämlich bei Anführung einer Ursache zu einer gewissen Wirkung nicht aufhören zu fragen, so macht man endlich die Wirkung zur Ursache von sich selbst.

Jetzt komme ich auf den Punkt, der uns hier eigentlich beschäftigt: nämlich das vermeintlich in der Philosophie sich widerstreitende Interesse der Theorie und der Praxis[137] durch Beispiele zu belegen und zu prüfen. Den besten Belag hiezu gibt Hr. G. in seiner genannten Abhandlung. Zuerst sagt er (indem er von dem Unterschiede, den ich zwischen einer Lehre finde, wie wir glücklich und derjenigen, wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen, spricht): »Ich für mein Teil gestehe, daß ich diese Teilung der Ideen in meinem Kopfe sehr wohl begreife, daß ich aber diese Teilung der Wünsche und Bestrebungen in meinem Herzen nicht finde, daß es mir sogar unbegreiflich ist, wie irgend ein Mensch sich bewußt werden kann, sein Verlangen nach Glückseligkeit selbst rein abgesondert, und also die Pflicht ganz uneigennützig ausgeübt zu haben«.

Ich antworte zuvörderst auf das letztere. Nämlich ich räume gern ein, daß kein Mensch sich mit Gewißheit bewußt werden könne, seine Pflicht ganz uneigennützig ausgeübt zu haben: denn das gehört zur inneren Erfahrung, und es würde zu diesem Bewußtsein seines Seelenzustandes eine durchgängig klare Vorstellung aller sich dem Pflichtbegriffe, durch Einbildungskraft, Gewohnheit und Neigung, beigesellenden Nebenvorstellungen und Rücksichten gehören, die in keinem Falle gefordert werden kann; auch überhaupt kann das Nichtsein von etwas (mithin auch nicht von einem in Geheim gedachten Vorteil) kein Gegenstand der Erfahrung sein. Daß aber der Mensch seine Pflicht ganz uneigennützig ausüben solle, und sein Verlangen nach Glückseligkeit völlig vom Pflichtbegriffe absondern müsse, um ihn ganz rein zu haben: dessen ist er sich mit der größten Klarheit bewußt; oder, glaubte er nicht es zu sein, so kann von ihm gefordert werden, daß er es sei, so weit es in seinem Vermögen ist; weil eben in dieser Reinigkeit der wahre Wert der Moralität anzutreffen ist, und er muß es also auch können. Vielleicht mag nie ein Mensch seine erkannte und von ihm auch verehrte Pflicht ganz uneigennützig (ohne Beimischung anderer Triebfedern, ausgeübt haben) vielleicht wird auch nie einer bei der größten Bestrebung so weit gelangen. Aber, so viel er bei der sorgfältigsten Selbstprüfung in sich wahrnehmen kann, nicht allein keiner solchen mitwirkenden Motive, sondern vielmehr der Selbstverleugnung[138] in Ansehung vieler der Idee der Pflicht entgegenstehenden, mithin der Maxime, zu jener Reinigkeit hinzustreben, sich bewußt zu werden: das vermag er; und das ist auch für seine Pflichtbeobachtung genug. Hingegen die Begünstigung des Einflusses solcher Motive sich zur Maxime zu machen, unter dem Vorwande, daß die menschliche Natur eine solche Reinigkeit nicht verstatte (welches er doch auch nicht mit Gewißheit behaupten kann): ist der Tod aller Moralität.

Was nun das kurz vorhergehende Bekenntnis des Hrn. G. betrifft, jene Teilung (eigentlich Sonderung) nicht in seinem Herzen zu finden: so trage ich kein Bedenken, ihm in seiner Selbstbeschuldigung geradezu zu widersprechen, und sein Herz wider seinen Kopf in Schutz zu nehmen. Er, der rechtschaffene Mann, fand sie wirklich jederzeit in seinem Herzen (in seinen Willensbestimmungen); aber sie wollte sich nur nicht zum Behuf der Spekulation und zur Begreifung dessen, was unbegreiflich (unerklärlich) ist, nämlich der Möglichkeit kategorischer Imperative (dergleichen die der Pflicht sind), in seinem Kopf mit den gewohnten Prinzipien psychologischer Erklärungen (die insgesamt den Mechanism der Naturnotwendigkeit zum Grunde legen) zusammen reimen.6

Wenn aber Hr. G. zuletzt sagt: »Solche feine Unterschiede der Ideen verdunkeln sich schon im Nachdenken über partikuläre Gegenstände; aber sie verlieren sich gänzlich, wenn es aufs Handeln ankömmt, wenn[139] sie auf Begierden und Absichten angewandt werden sollen. Je einfacher, schneller und von klaren Vorstellungen enblößter der Schritt ist, durch den wir von der Betrachtung der Motive zum wirklichen Handeln übergehen: desto weniger ist es möglich, das bestimmte Gewicht, welches jedes Motiv hinzu getan hat, den Schritt so und nicht anders zu leiten, genau und sicher zu erkennen« – so muß ich ihm laut und eifrig widersprechen.

Der Begriff der Pflicht in seiner ganzen Reinigkeit ist nicht allein ohne allen Vergleich einfacher, klärer, für jedermann zum praktischen Gebrauch faßlicher und natürlicher, als jedes von der Glückseligkeit hergenommene, oder damit und mit der Rücksicht auf sie vermengte Motiv (welches jederzeit viel Kunst und Überlegung erfordert); sondern auch in dem Urteile selbst der gemeinsten Menschenvernunft, wenn er nur an dieselbe, und zwar mit Absonderung, ja so gar in Entgegensetzung mit diesen an den Willen der Menschen gebracht wird, bei weitem kräftiger, eindringender und Erfolg versprechender, als alle von dem letzteren eigennützigen Prinzip entlehnte Bewegungsgründe. – Es sei z.B. der Fall: daß jemand ein anvertrautes fremdes Gut (depositum) in Händen habe, dessen Eigentümer tot ist, und daß die Erben desselben davon nichts wissen, noch je etwas erfahren können. Man trage diesen Fall selbst einem Kinde, von etwa acht oder neun Jahren, vor; und zugleich, daß der Inhaber dieses Depositums (ohne sein Verschulden) gerade um diese Zeit in gänzlichen Verfall seiner Glücksumstände geraten, eine traurige, durch Mangel niedergedrückte Familie von Frau und Kindern um sich sehe, aus welcher Not er sich augenblicklich ziehen würde, wenn er jenes Pfand sich zueignete; zugleich sei er Menschenfreund und wohltätig, jene Erben aber reich, lieblos, und dabei im höchsten Grad üppig und verschwenderisch, so daß es eben so gut wäre, als ob dieser Zusatz zu ihrem Vermögen ins Meer geworfen würde. Und nun frage man, ob es unter diesen Umständen für erlaubt gehalten werden könne, dieses Depositum in eigenen Nutzen zu verwenden? Ohne Zweifel wird der Befragte antworten: Nein! und statt aller Gründe[140] nur bloß sagen können: es ist unrecht, d.i. es widerstreitet der Pflicht. Nichts ist klärer als dieses; aber wahrlich nicht so: daß er seine eigene Glückseligkeit durch die Herausgabe befördere. Denn, wenn er, von der Absicht auf die letztere, die Bestimmung seiner Entschließung erwartete, so könnte er z.B. so denken: »Gibst du das bei dir befindliche fremde Gut unaufgefordert den wahren Eigentümern hin, so werden sie dich vermutlich für deine Ehrlichkeit belohnen; oder, geschieht das nicht, so wirst du dir einen ausgebreiteten guten Ruf, der dir sehr einträglich werden kann, erwerben. Aber alles dieses ist sehr ungewiß. Hingegen treten freilich auch manche Bedenklichkeiten ein: Wenn du das Anvertraute unterschlagen wolltest, um dich auf einmal aus deinen bedrängten Umständen zu ziehen, so würdest du, wenn du geschwinden Gebrauch davon machtest, Verdacht auf dich ziehen, wie und durch welche Wege du so bald zu einer Verbesserung deiner Umstände gekommen wärest; wolltest du aber damit langsam zu Werke gehen, so würde die Not mittlerweile so hoch steigen, daß ihr gar nicht mehr abzuhelfen wäre.« – Der Wille also nach der Maxime der Glückseligkeit schwankt zwischen seinen Triebfedern, was er beschließen solle; denn er sieht auf den Erfolg und der ist sehr ungewiß; es erfordert einen guten Kopf, um sich aus dem Gedränge von Gründen und Gegengründen herauszuwickeln und sich in der Zusammenrechnung nicht zu betriegen. Dagegen wenn er sich fragt, was hier Pflicht sei: so ist er über die sich selbst zu gebende Antwort gar nicht verlegen, sondern auf der Stelle gewiß, was er zu tun habe. Ja, er fühlt sogar, wenn der Begriff von Pflicht bei ihm etwas gilt, einen Abscheu, sich auch nur auf den Überschlag von Vorteilen, die ihm aus ihrer Übertretung erwachsen könnten, einzulassen, gleich als ob er hier noch die Wahl habe.

Daß also diese Unterschiede (die, wie eben gezeigt worden, nicht so fein sind, als Hr. G. meint, sondern mit der gröbsten und leserlichsten Schrift in der Seele des Menschen geschrieben sind) sich, wie er sagt, gänzlich verlieren, wenn es aufs Handeln ankömmt: widerspricht selbst[141] der eigenen Erfahrung. Zwar nicht derjenigen, welche die Geschichte der aus dem einen oder dem anderen Prinzip geschöpften Maximen darlegt: denn da beweiset sie leider, daß sie größtenteils aus dem letzteren (des Eigennutzes) fließen; sondern der Erfahrung, die nur innerlich sein kann, daß keine Idee das menschliche Gemüt mehr erhebt und bis zur Begeisterung belebt, als eben die von einer die Pflicht über alles verehrenden, mit zahllosen Übeln des Lebens und selbst den verführerischsten Anlockungen desselben ringenden, und dennoch (wie man mit Recht annimmt, daß der Mensch es vermöge) sie besiegenden, reinen moralischen Gesinnung. Daß der Mensch sich bewußt Ist, er könne dieses, weil er es soll: das eröffnet in ihm eine Tiefe göttlicher Anlagen, die ihm gleichsam einen heiligen Schauer über die. Größe und Erhabenheit seiner wahren Bestimmung fühlen läßt. Und wenn der Mensch öfters darauf aufmerksam gemacht und gewöhnt würde, die Tugend von allem Reichtum ihrer aus der Beobachtung der Pflicht zu machenden Beute von Vorteilen gänzlich zu entladen, und sie in ihrer ganzen Reinigkeit sich vorzustellen; wenn es im Privat- und öffentlichen Unterricht Grundsatz würde, davon beständig Gebrauch zu machen (eine Methode, Pflichten einzuschärfen, die fast jederzeit versäumt worden ist): so müßte es mit der Sittlichkeit der Menschen bald besser stehen. Daß die Geschichtserfahrung bisher noch nicht den guten Erfolg der Tugendlehren hat beweisen wollen, daran ist wohl eben die falsche Voraussetzung schuld: daß die von der Idee der Pflicht an sich selbst abgeleitete Triebfeder für den gemeinen Begriff viel zu fein sei, wogegen die gröbern, von gewissen in dieser, ja wohl auch in einer künftigen Welt aus der Befolgung des Gesetzes (ohne auf dasselbe als Triebfeder Acht zu haben) zu erwartenden Vorteilen hergenommene, kräftiger auf das Gemüt wirken würde; und daß man dem Trachten nach Glückseligkeit vor dem, was die Vernunft zur obersten Bedingung macht, nämlich der Würdigkeit glücklich zu sein, den Vorzug zu geben bisher zum Grundsatz der Erziehung und des Kanzelvortrages gemacht[142] hat. Denn Vorschriften, wie man sich glücklich machen, wenigstens seinen Nachteil verhüten könne, sind keine Gebote; sie binden niemanden schlechterdings; und er mag, nachdem er gewarnet worden, wählen, was ihm gut dünkt, wenn er sich gefallen läßt zu leiden, was ihn trifft. Die Übel, die ihm alsdann aus der Verabsäumung des ihm gegebenen Rats entspringen dürften, hat er nicht Ursache für Strafen anzusehen: denn diese treffen nur den freien aber gesetzwidrigen Willen; Natur aber und Neigung können der Freiheit nicht Gesetze geben. Ganz anders ist es mit der Idee der Pflicht bewandt, deren Übertretung, auch ohne auf die ihm daraus erwachsenden Nachteile Rücksicht zu nehmen, unmittelbar auf das Gemüt wirkt, und den Menschen in seinen eigenen Augen verwerflich und strafbar macht.

Hier ist nun ein klarer Beweis, daß alles, was in der Moral für die Theorie richtig ist, auch für die Praxis gelten müsse. – In der Qualität eines Menschen, als eines durch seine eigene Vernunftgewissen Pflichten unterworfenen Wesens, ist also jedermann ein Geschäftsmann; und, da er doch, als Mensch, der Schule der Weisheit nie entwächst, so kann er nicht etwa, als ein vermeintlich durch Erfahrung über das, was ein Mensch ist und was man von ihm fordern kann, besser Belehrter, den Anhänger der Theorie mit stolzer Verachtung zur Schule zurückweisen. Denn alle diese Erfahrung hilft ihm nichts, um sich der Vorschrift der Theorie zu entziehen, sondern allenfalls nur zu lernen, wie sie besser und allgemeiner ins Werk gerichtet werden könne, wenn man sie in seine Grundsätze aufgenommen hat; von welcher pragmatischen Geschicklichkeit aber hier nicht, sondern nur von letzteren, die Rede ist.

1

Versuche über verschiedne Gegenstände aus der Moral und Literatur, von Ch. Garve, Erster Teil, S. 111 bis 116. Ich nenne die Bestreitung meiner Sätze Einwürfe dieses würdigen Mannes gegen das, worüber er sich mit mir (wie ich hoffe) einzuverstehen wünscht; nicht Angriffe, die als absprechende Behauptungen zur Verteidigung reizen sollten; wozu weder hier der Ort, noch bei mir die Neigung ist.

2

Die Würdigkeit glücklich zu sein ist diejenige, auf dem selbst eigenen Willen des Subjekts beruhende Qualität einer Person, in Gemäßheit mit welcher eine allgemeine (der Natur sowohl als dem freien Willen) gesetzgebende Vernunft zu allen Zwecken dieser Person zusammenstimmen würde. Sie ist also von der Geschicklichkeit, sich ein Glück zu erwerben, gänzlich unterschieden. Denn selbst dieser, und des Talents, welches ihm die Natur dazu verliehen hat, ist er nicht wert, wenn er einen Willen hat, der mit dem, welcher allein sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung der Vernunft schickt, nicht zusammen stimmt, und darin nicht mit enthalten sein kann (d.i. welcher der Moralität widerstreitet).

3

Das Bedürfnis, ein höchstes auch durch unsere Mitwirkung mögliches Gut in der Welt, als den Endzweck aller Dinge, anzunehmen, ist nicht ein Bedürfnis aus Mangel an moralischen Triebfedern, sondern an äußeren Verhältnissen, in denen allein, diesen Triebfedern gemäß, ein Objekt, als Zweck an sich selbst (als moralischer Endzweck) hervorgebracht werden kann. Denn ohne allen Zweck kann kein Wille sein; obgleich man, wenn es bloß auf gesetzliche Nötigung der Handlungen ankömmt, von ihm abstrahieren muß und das Gesetz allein den Bestimmungsgrund desselben ausmacht. Aber nicht jeder Zweck ist moralisch (z.B. nicht der der eigenen Glückseligkeit), sondern dieser muß uneigennützig sein; und das Bedürfnis eines durch reine Vernunft aufgegebenen, das Ganze aller Zwecke unter einem Prinzip befassenden Endzwecks (eine Welt als das höchste auch durch unsere Mitwirkung mögliche Gut) ist ein Bedürfnis des sich noch über die Beobachtung der formalen Gesetze zu Hervorbringung eines Objekts (das höchste Gut) erweiternden uneigennützigen Willens. – Dieses ist eine Willensbestimmung von besonderer Art, nämlich durch die Idee des Ganzen aller Zwecke, wo zum Grunde gelegt wird: daß, wenn wir zu Dingen in der Welt in gewissen moralischen Verhältnissen stehen, wir allerwärts dem moralischen Gesetz gehorchen müssen; und über das noch die Pflicht hinzukommt, nach allem Vermögen es zu bewirken, daß ein solches Verhältnis (eine Welt, den sittlichen höchsten Zwecken angemessen) existiere. Hiebei denkt sich der Mensch nach der Anämie mit der Gottheit, welche, ob zwar subjektiv keines äußeren Dinges bedürftig, gleichwohl nicht gedacht werden kann, daß sie sich in sich selbst verschlösse, sondern das höchste Gut außer sich hervorzubringen, selbst durch das Bewußtsein ihrer Allgenugsamkeit, bestimmt sei: welche Notwendigkeit (die beim Menschen Pflicht ist) am höchsten Wesen von uns nicht anders als moralisches Bedürfnis vorgestellt werden kann. Beim Menschen ist daher die Triebfeder, welche in der Idee des höchsten durch seine Mitwirkung in der Welt möglichen Guts liegt, auch nicht die eigene dabei beabsichtigte Glückseligkeit, sondern nur diese Idee als Zweck an sich selbst, mithin ihre Verfolgung als Pflicht. Denn sie enthält nicht Aussicht in Glückseligkeit schlechthin, sondern nur einer Proportion zwischen ihr und der Würdigkeit des Subjekts, welches es auch sei. Eine Willensbestimmung aber, die sich selbst und ihre Absicht, zu einem solchen Ganzen zu gehören, auf diese Bedingung einschränkt, ist nicht eigennützig.

4

Das ist ja gerade dasjenige, worauf ich dringe. Die Triebfeder, welche der Mensch vorher haben kann, ehe ihm ein Ziel (Zweck) vorgesteckt wird, kann doch offenbar nichts andres sein, als das Gesetz selbst, durch die Achtung, die es (unbestimmt, welche Zwecke man haben und durch dessen Befolgung erreichen mag) einflößt. Denn das Gesetz in Ansehung des Formalen der Willkür ist ja das einzige, was übrig bleibt, wann ich die Materie der Willkür (das Ziel, wie sie Hr. G. nennt) aus dem Spiel gelassen habe.

5

Glückseligkeit enthält alles (und auch nichts mehr, als) was uns die Natur verschaffen, Tugend aber das, was niemand als der Mensch selbst sich geben oder nehmen kann. Wollte man dagegen sagen: daß durch die Abweichung von der letzteren der Mensch sich doch wenigstens Vorwürfe und reinen moralischen Selbsttadel, mithin Unzufriedenheit zuziehen, folglich sich unglücklich machen könne: so mag das allenfalls eingeräumt werden. Aber dieser reinen moralischen Unzufriedenheit (nicht aus den für ihn nachteiligen Folgen der Handlung, sondern aus ihrer Gesetzwidrigkeit selbst) ist nur der Tugendhafte, oder der auf dem Wege ist, es zu werden, fähig. Folglich ist sie nicht die Ursache, sondern nur die Wirkung davon, daß er tugendhaft ist; und der Bewegungsgrund tugendhaft zu sein konnte nicht von diesem Unglück (wenn man den Schmerz aus einer Untat so nennen will) hergenommen sein.

6

Hr. P. Garve tut (in seinen Anmerkungen zu Ciceros Buch von den Pflichten S. 69, Ausg. von 1783) das merkwürdige und seines Scharfsinns werte Bekenntnis: »Die Freiheit werde, nach seiner innigsten Überzeugung, immer unauflöslich bleiben und nie erklärt werden«. Ein Beweis von ihrer Wirklichkeit kann schlechterdings nicht, weder in einer unmittelbaren noch mittelbaren Erfahrung, angetroffen werden; und ohne allen Beweis kann man sie doch auch nicht annehmen. Da nun ein Beweis derselben nicht aus bloß theoretischen Gründen (denn diese würden in der Erfahrung gesucht werden müssen), mithin aus bloß praktischen Vernunftsätzen, aber auch nicht aus technisch-praktischen (denn die würden wieder Erfahrungsgründe erfordern), folglich nur aus moralisch-praktischen geführt werden kann: so muß man sich wundern, warum Hr. G. nicht zum Begriffe der Freiheit seine Zuflucht nahm, um wenigstens die Möglichkeit solcher Imperativen zu retten.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 11, Frankfurt am Main 1977, S. 130-143.
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