Vorrede

[309] Auf die Kritik der praktischen Vernunft sollte das System, die Metaphysik der Sitten, folgen, welches in metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre und in eben solche für die Tugendlehre zerfällt (als ein Gegenstück der schon gelieferten metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft), wozu die hier folgende Einleitung die Form des Systems in beiden vorstellig und zum Teil anschaulich macht.

Die Rechtslehre als der erste Teil der Sittenlehre ist nun das, wovon ein aus der Vernunft hervorgehendes System verlangt wird, welches man die Metaphysik des Rechts nennen könnte. Da aber der Begriff des Rechts, als ein reiner jedoch auf die Praxis (Anwendung auf in der Erfahrung vorkommende Fälle) gestellter Begriff ist, mithin ein metaphysisches System desselben in seiner Einteilung auch auf die empirische Mannigfaltigkeit jener Fälle Rücksicht nehmen müßte, um die Einteilung vollständig zu machen (welches zur Errichtung eines Systems der Vernunft eine unerläßliche Forderung ist), Vollständigkeit der Einteilung des Empirischen aber unmöglich ist, und, wo sie versucht wird (wenigstens um ihr nahe zu kommen), solche Begriffe nicht als integrierende Teile in das System, sondern nur, als Beispiele, in die Anmerkungen kommen können: so wird der für den ersten Teil der Metaphysik der Sitten allein schickliche Ausdruck sein, metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre; weil, in Rücksicht auf jene Fälle der Anwendung, nur Annäherung zum System, nicht dieses selbst erwartet werden kann. Es wird daher hiemit, so wie mit den (früheren) metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft, auch hier gehalten werden: nämlich das Recht, was zum a priori entworfenen System gehört, in den Text, die Rechte aber, welche auf besondere Erfahrungsfälle bezogen werden, in zum Teil weitläuftige Anmerkungen zu bringen; weil sonst das, was hier Metaphysik ist, von dem, was empirische Rechtspraxis ist, nicht wohl unterschieden werden könnte.[309]

Ich kann dem so oft gemachten Vorwurf der Dunkelheit, ja wohl gar einer geflissenen, den Schein tiefer Einsicht affektierenden, Undeutlichkeit im philosophischen Vortrage nicht besser zuvorkommen, oder abhelfen, als daß ich, was Herr Garve, ein Philosoph in der echten Bedeutung des Worts, jedem, vornehmlich dem philosophierenden Schriftsteller zur Pflicht macht, bereitwillig annehme, und meinerseits diesen Anspruch bloß auf die Bedingung einschränke, ihm nur so weit Folge zu leisten, als es die Natur der Wissenschaft erlaubt, die zu berichtigen und zu erweitern ist.

Der weise Mann fordert (in seinem Werk, Vermischte Aufsätze betitelt, S. 352 u. f.) mit Recht, eine jede philosophische Lehre müsse, wenn der Lehrer nicht selbst in den Verdacht der Dunkelheit seiner Begriffe kommen soll – zur Popularität (einer zur allgemeinen Mitteilung hinreichenden Versinnlichung) gebracht werden können. Ich räume das gern ein, nur mit Ausnahme des Systems einer Kritik des Vernunftvermögens selbst und alles dessen, was nur durch dieser ihre Bestimmung beurkundet werden kann; weil es zur Unterscheidung des Sinnlichen in unserem Erkenntnis vom Übersinnlichen, dennoch aber der Vernunft Zustehenden, gehört. Dieses kann nie populär werden, so wie überhaupt keine formelle Metaphysik; obgleich ihre Resultate für die gesunde Vernunft (eines Metaphysikers, ohne es zu wissen) ganz einleuchtend gemacht werden können. Hier ist an keine Popularität (Volkssprache) zu denken, sondern es muß auf scholastische Pünktlichkeit, wenn sie auch Peinlichkeit gescholten würde, gedrungen werden (denn es ist Schulsprache); weil dadurch allein die voreilige Vernunft dahin gebracht werden kann, vor ihren dogmatischen Behauptungen sich erst selbst zu verstehen.

Wenn aber Pedanten sich anmaßen, zum Publikum (auf Kanzeln und in Volksschriften) mit Kunstwörtern zu reden, die ganz für die Schule geeignet sind, so kann das so wenig dem kritischen Philosophen zur Last fallen, als dem Grammatiker der Unverstand des Wortklaubers (logodae-dalus). Das Belachen kann hier nur den Mann, aber nicht die Wissenschaft treffen.[310]

Es klingt arrogant, selbstsüchtig, und für die, welche ihrem alten System noch nicht entsagt haben, verkleinerlich, zu behaupten: »daß vor dem Entstehen der kritischen Philosophie es noch gar keine gegeben habe«. – Um nun über diese scheinbare Anmaßung absprechen zu können, kommt es auf die Frage an: ob es wohl mehr als eine Philosophie geben könne? Verschiedene Arten zu philosophieren, und zu den ersten Vernunftprinzipien zurückzugehen, um darauf, mit mehr oder weniger Glück, ein System zu gründen, hat es nicht allein gegeben, sondern es mußte viele Versuche dieser Art, deren jeder auch um die gegenwärtige sein Verdienst hat, geben; aber, da es doch, objektiv betrachtet, nur Eine menschliche Vernunft geben kann: so kann es auch nicht viel Philosophien geben, d.i. es ist nur Ein wahres System derselben aus Prinzipien möglich, so mannigfaltig und oft widerstreitend man auch über einen und denselben Satz philosophiert haben mag. So sagt der Moralist mit Recht: es gibt nur Eine Tugend und Lehre derselben, d.i. ein einziges System, das alle Tugendpflichten durch Ein Prinzip verbindet; der Chymist: es gibt nur Eine Chemie (die nach Lavoisier); der Arzneilehrer: es gibt nur Ein Prinzip zum System der Krankheitseinteilung (nach Brown), ohne doch darum, weil das neue System alle andere ausschließt, das Verdienst der älteren (Moralisten, Chemiker und Arzneilehrer) zu schmälern; weil, ohne dieser ihre Entdeckungen, oder auch mißlungene Versuche, wir zu jener Einheit des wahren Prinzips der ganzen Philosophie in einem System nicht gelanget wären. – Wenn also jemand ein System der Philosophie als sein eigenes Fabrikat ankündigt, so ist es eben so viel, als ob er sagte: »vor dieser Philosophie sei gar keine andere noch gewesen«. Denn wollte er einräumen, es wäre eine andere (und wahre) gewesen, so würde es über dieselbe Gegenstände zweierlei wahre Philosophien gegeben haben, welches sich widerspricht. – Wenn also die kritische Philosophie sich als eine solche ankündigt, vor der es überall noch gar keine Philosophie gegeben habe, so tut sie nichts anders, als was alle getan haben, tun werden, ja tun müssen, die eine Philosophie nach ihrem eigenen Plane entwerfen.[311]

Von minderer Bedeutung, jedoch nicht ganz ohne alle Wichtigkeit, wäre der Vorwurf: daß ein diese Philosophie wesentlich unterscheidendes Stück doch nicht ihr eigenes Gewächs, sondern etwa einer anderen Philosophie (oder Mathematik) abgeborgt sei; dergleichen ist der Fund, den ein Tübingscher Rezensent gemacht haben will, und der die Definition der Philosophie überhaupt angeht, welche der Verfasser der Kritik d. r. V. für sein eigenes, nicht unerhebliches, Produkt ausgibt, und die doch schon vor vielen Jahren von einem anderen fast mit denselben Ausdrücken gegeben worden sei.1 Ich überlasse es einem jeden, zu beurteilen, ob die Worte: intellectualis quaedam constructio, den Gedanken der Darstellung eines gegebenen Begriffs in einer Anschauung a priori hätten hervorbringen können, wodurch auf einmal die Philosophie von der Mathematik ganz bestimmt geschieden wird. Ich bin gewiß: Hausen selbst würde sich geweigert haben, diese Erklärung seines Ausdrucks anzuerkennen; denn die Möglichkeit einer Anschauung a priori, und, daß der Raum eine solche und nicht ein bloß der empirischen Anschauung (Wahrnehmung) gegebenes Nebeneinandersein des Mannigfaltigen außer einander sei (wie Wolff ihn erklärt), würde ihn schon aus dem Grunde abgeschreckt haben, weil er sich hiemit in weithinaussehende philosophische Untersuchungen verwickelt gefühlt hätte. Die gleichsam durch den Verstand gemachte Darstellung bedeutete dem scharfsinnigen Mathematiker nichts weiter, als die einem Begriffe korrespondierende (empirische) Verzeichnung einer Linie, bei der bloß auf die Regel Acht gegeben, von den in der Ausführung unvermeidlichen Abweichungen[312] aber abstrahiert wird; wie man es in der Geometrie auch an der Konstruktion der Gleichungen wahrnehmen kann.

Von der allermindesten Bedeutung aber in Ansehung des Geistes dieser Philosophie ist wohl der Unfug, den einige Nachäffer derselben mit den Wörtern stiften, die in der Kritik d. r. V. selbst nicht wohl durch andere gangbare zu ersetzen sind, sie auch außerhalb derselben zum öffentlichen Gedankenverkehr zu brauchen, und welcher allerdings gezüchtigt zu werden verdient, wie Hr. Nicolai tut, wiewohl er über die gänzliche Entbehrung derselben in ihrem eigentümlichen Felde, gleich als einer überall bloß versteckten Armseligkeit an Gedanken, kein Urteil zu haben sich selbst bescheiden wird. – Indessen läßt sich über den unpopulären Pedanten freilich viel lustiger lachen, als über den unkritischen Ignoranten (denn in der Tat kann der Metaphysiker, welcher seinem Systeme steif anhängt, ohne sich an alle Kritik zu kehren, zur letzteren Klasse gezählt werden, ob er zwar nur willkürlich ignoriert, was er nicht aufkommen lassen will, weil es zu seiner älteren Schule nicht gehört). Wenn aber, nach Shaftesburys Behauptung, es ein nicht zu verachtender Probierstein für die Wahrheit einer (vornehmlich praktischen) Lehre ist, wenn sie das Belachen aushält, so müßte wohl an den kritischen Philosophen mit der Zeit die Reihe kommen, zuletzt, und so auch am besten, zu lachen; wenn er die papierne Systeme derer, die eine lange Zeit das große Wort führten, nach einander einstürzen, und alle Anhänger derselben sich verlaufen sieht: ein Schicksal, was jenen unvermeidlich bevorsteht.

Gegen das Ende des Buchs habe ich einige Abschnitte mit minderer Ausführlichkeit bearbeitet, als in Vergleichung mit den vorhergehenden erwartet werden konnte: teils, weil sie mir aus diesen leicht gefolgert werden zu können schienen, teils auch, weil die letzte (das öffentliche Recht betreffende) eben jetzt so vielen Diskussionen unterworfen und dennoch so wichtig sind, daß sie den Aufschub des entscheidenden Urteils auf einige Zeit wohl rechtfertigen können.

Die metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre hoffe ich in kurzem liefern zu können.[313]

1

Porro de actuali constructione hic non quaeritur, cum ne possint quidem sensibiles figurae ad rigorem definitionum effingi; sed requiritur cognitio eorum, quibus absolvitur formatio, quae intellectualis quaedam constructio est. C. A. Hausen, Elem. Mathes. Pars I. p. 86. A. 1734.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 309-315.
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