Erster Abschnitt.
Von der Pflicht gegen sich selbst in Entwickelung und Vermehrung seiner Naturvollkommenheit, d.i. in pragmatischer Absicht
§ 19

[580] Der Anbau (cultura) seiner Naturkräfte (Geistes-, Seelen- und Leibeskräfte), als Mittel zu allerlei möglichen Zwecken ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst. – Der Mensch ist es sich selbst (als einem Vernunftwesen) schuldig, die Naturanlage und Vermögen, von denen seine Vernunft dereinst Gebrauch machen kann, nicht unbenutzt und gleichsam rosten zu lassen, sondern, gesetzt daß er auch mit dem angebornen Maß seines Vermögens für die natürlichen Bedürfnisse zufrieden sein könne, so muß ihm doch seine Vernunft dieses Zufriedensein, mit dem geringen Maß seiner Vermögen, erst durch Grundsätze anweisen, weil er, als ein Wesen, das der Zwecke (sich Gegenstände zum Zweck zu machen) fähig ist, den Gebrauch seiner Kräfte nicht bloß dem Instinkt der Natur, sondern der Freiheit, mit der er dieses Maß bestimmt, zu verdanken haben muß. Es ist also nicht Rücksicht auf den Vorteil, den die Kultur seines Vermögens (zu allerlei Zwecken) verschaffen kann; denn dieser würde vielleicht (nach Rousseauschen Grundsätzen) für die Rohigkeit des Naturbedürfnisses vorteilhaft ausfallen: sondern es ist Gebot der moralisch-praktischen Vernunft und Pflicht des Menschen gegen sich selbst, seine[580] Vermögen (unter denselben eins mehr als das andere, nach Verschiedenheit seiner Zwecke) anzubauen, und in pragmatischer Rücksicht ein dem Zweck seines Daseins angemessener Mensch zu sein.

Geisteskräfte sind diejenigen, deren Ausübung nur durch die Vernunft möglich ist. Sie sind so fern schöpferisch, als ihr Gebrauch nicht aus Erfahrung geschöpft, sondern a priori aus Prinzipien abgeleitet wird. Dergleichen sind Mathematik, Logik und Metaphysik der Natur, welche zwei letztere auch zur Philosophie, nämlich der theoretischen, gezählt werden, die zwar alsdann nicht, wie der Buchstabe lautet. Weisheitslehre, sondern nur Wissenschaft bedeutet, aber doch der ersteren zu ihrem Zwecke beförderlich sein kann.

Seelenkräfte sind diejenige, welche dem Verstande und der Regel, die er zu Befriedigung beliebiger Absichten braucht, zu Gebote stehen, und so fern an dem Leitfaden der Erfahrung geführt werden. Dergleichen ist das Gedächtnis, die Einbildungskraft u. dgl., worauf Gelahrtheit, Geschmack (innere und äußere Verschönerung) etc. gegründet werden können, welche zu mannigfaltiger Absicht die Werkzeuge darbieten.

Endlich ist die Kultur der Leibeskräfte (die eigentliche Gymnastik) die Besorgung dessen, was das Zeug (die Materie) am Menschen ausmacht, ohne welches die Zwecke des Menschen unausgeführt bleiben würden; mithin die fortdauernde absichtliche Belebung des Tieres am Menschen Zweck des Menschen gegen sich selbst.


§ 20

Auf welche von diesen physischen Vollkommenheiten vorzüglich, und in welcher Proportion, in Vergleichung gegen einander, sie sich zum Zweck zu machen es Pflicht des Menschen gegen sich selbst sei, bleibt ihrer eigenen vernünftigen Überlegung, in Ansehung der Lust zu einer gewissen Lebensart und zugleich der Schätzung seiner dazu erforderlichen Kräfte, überlassen, um darunter zu wählen (z.B. ob es ein Handwerk, oder der Kaufhandel, oder die[581] Gelehrsamkeit sein sollte). Denn, abgesehen von dem Bedürfnis der Selbsterhaltung, welches an sich keine Pflicht begründen kann, ist es Pflicht des Menschen gegen sich selbst, ein der Welt nützliches Glied zu sein, weil dieses auch zum Wert der Menschheit in seiner eigenen Person gehört, die er also nicht abwürdigen soll.

Die Pflicht des Menschen gegen sich selbst in Ansehung seiner physischen Vollkommenheit ist aber nur weite und unvollkommene Pflicht: weil sie zwar ein Gesetz für die Maxime der Handlungen enthält, in Ansehung der Handlungen selbst aber, ihrer Art und ihrem Grade nach, nichts bestimmt, sondern der freien Willkür einen Spielraum verstattet.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 580-582.
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