Vorrede zur zweiten Auflage

[659] In dieser ist, außer den Druckfehlern, und einigen wenigen verbesserten Ausdrücken, nichts geändert. Die neu hinzugekommenen Zusätze sind mit einem Kreuz † bezeichnet unter den Text gesetzt.

Von dem Titel dieses Werks (denn, in Ansehung der unter demselben verborgenen Absicht, sind auch Bedenken geäußert worden) merke ich noch an: Da Offenbarung doch auch reine Vernunftreligion in sich wenigstens begreifen kann, aber nicht umgekehrt diese das Historische der ersteren, so werde ich jene als eine weitere Sphäre des Glaubens, welche die letztere, als eine engere, in sich beschließt (nicht als zwei außer einander befindliche, sondern als konzentrische Kreise), betrachten können, innerhalb deren letzterem der Philosoph sich als reiner Vernunftlehrer (aus bloßen Prinzipien a priori) halten, hiebei also von aller Erfahrung abstrahieren muß. Aus diesem Standpunkte kann ich nun auch den zweiten Versuch machen, nämlich von irgend einer dafür gehaltenen Offenbarung auszugehen, und, indem ich von der reinen Vernunftreligion (so fern sie ein für sich bestehendes System ausmacht) abstrahiere, die Offenbarung, als historisches System, an moralische Begriffe bloß fragmentarisch halten und sehen, ob dieses nicht zu demselben reinen Vernunftsystem der Religion zurück führe, welches zwar nicht in theoretischer Absicht (wozu auch die technisch-praktische, der Unterweisungsmethode, als einer Kunstlehre, gezählt werden muß) aber doch in moralisch-praktischer Absicht selbständig und für eigentliche Religion, die, als Vernunftbegriff a priori (der nach Weglassung alles Empirischen übrig bleibt), nur in dieser Beziehung statt findet, hinreichend sei. Wenn dieses zutrifft, so wird man sagen können, daß zwischen Vernunft und Schrift nicht bloß Verträglichkeit, sondern auch Einigkeit anzutreffen sei, so daß, wer der einen (unter Leitung der moralischen Begriffe) folgt, nicht ermangeln wird, auch mit der anderen zusammen zu treffen. Träfe es sich nicht so, so würde man entweder zwei Religionen in einer Person haben, welches ungereimt[659] ist, oder eine Religion und einen Kultus, in welchem Fall, da letzterer nicht (so wie Religion) Zweck an sich selbst ist, sondern nur als Mittel einen Wert hat, beide oft müßten zusammengeschüttelt werden, um sich auf kurze Zeit zu verbinden, alsbald aber wie Öl und Wasser sich wieder von einander scheiden, und das Reinmoralische (die Vernunftreligion) oben auf müßten schwimmen lassen.

Daß diese Vereinigung oder der Versuch derselben ein dem philosophischen Religionsforscher mit vollem Recht gebührendes Geschäft und nicht Eingriff in die ausschließlichen Rechte des biblischen Theologen sei, habe ich in der ersten Vorrede angemerkt. Seitdem habe ich diese Behauptung in der Moral des sel. Michaelis (Erster Teil, S. 5-11), eines in beiden Fächern wohl bewanderten Mannes, angeführt, und durch sein ganzes Werk ausgeübt gefunden, ohne daß die höhere Fakultät darin etwas ihren Rechten Präjudizierliches angetroffen hätte.

Auf die Urteile würdiger, genannter und ungenannter Männer, über diese Schrift, habe ich in dieser zweiten Auflage, da sie (wie alles auswärtige Literarische) in unseren Gegenden sehr spät einlaufen, nicht Bedacht nehmen können, wie ich wohl gewünscht hätte, vornehmlich in Ansehung der Annotationes quaedam theologicae etc. des berühmten Hrn. D. Storr in Tübingen, der sie mit seinem gewohnten Scharfsinn, zugleich auch mit einem den größten Dank verdienenden Fleiße und Billigkeit in Prüfung genommen hat, welche zu erwidern ich zwar vorhabens bin, es aber zu versprechen, der Beschwerden wegen, die das Alter, vornehmlich der Bearbeitung abstrakter Ideen, entgegen setzt, mir nicht getraue. – Eine Beurteilung, nämlich die in den Greifswalder N. Crit. Nachrichten 19. Stück, kann ich eben so kurz abfertigen, als es der Rezensent mit der Schrift selbst getan hat. Denn, sie ist seinem Urteile nach nichts anders, als Beantwortung der mir von mir selbst vorgelegten Frage: »wie ist das kirchliche System der Dogmatik in seinen Begriffen und Lehrsätzen nach reiner (theor. und prakt.) Vernunft möglich«. – »Dieser Versuch gehe also überall diejenige nicht an, die sein (K-s) System so wenig kennen und verstehen, als sie dieses zu können verlangen und für sie also als nicht existierend anzusehen sei.« – Hierauf antworte ich: Es[660] bedarf, um diese Schrift ihrem wesentlichen Inhalte nach zu verstehen, nur der gemeinen Moral, ohne sich auf die Kritik der p. Vernunft, noch weniger aber der theoretischen einzulassen, und, wem z.B. die Tugend, als Fertigkeit in pflichtmäßigen Handlungen (ihrer Legalität nach) virtus phaenomenon, dieselbe aber, als standhafte Gesinnung solcher Handlungen aus Pflicht (ihrer Moralität wegen) virtus noumenon genannt wird, so sind diese Ausdrücke nur der Schule wegen gebraucht, die Sache selbst aber in der populärsten Kinderunterweisung, oder Predigt, wenn gleich mit anderen Worten enthalten und leicht verständlich. Wenn man das letztere nur von den zur Religionslehre gezählten Geheimnissen von der göttlichen Natur rühmen könnte, die, als ob sie ganz populär wären, in die Katechismen gebracht werden, späterhin aber allererst in moralische Begriffe verwandelt werden müssen, wenn sie für jedermann verständlich werden sollen!


Königsberg, den 16. Januar 1794.[661]

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 659-662,665.
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