a) Personifizierte Idee des guten Prinzips

[712] Das, was allein eine Welt zum Gegenstande des göttlichen Ratschlusses, und zum Zwecke der Schöpfung machen kann, ist die Menschheit (das vernünftige Weltwesen überhaupt) in ihrer moralischen ganzen Vollkommenheit, wovon, als oberster Bedingung, die Glückseligkeit die unmittelbare Folge in dem Willen des höchsten Wesens ist. – Dieser allein Gott wohlgefällige Mensch »ist in[712] ihm von Ewigkeit her«; die Idee desselben geht von seinem Wesen aus; er ist sofern kein erschaffenes Ding, sondern sein eingeborner Sohn; »das Wort (das Werde!), durch welches alle andre Dinge sind, und ohne das nichts existiert, was gemacht ist« (denn um seinet, d.i. des vernünftigen Wesens in der Welt willen, so wie es seiner moralischen Bestimmung nach gedacht werden kann, ist alles gemacht). – »Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit.« – »In ihm hat Gott die Welt geliebt« und nur in ihm und durch Annehmung seiner Gesinnungen können wir hoffen, »Kinder Gottes zu werden«; u.s.w.

Zu diesem Ideal der moralischen Vollkommenheit, d.i. dem Urbilde der sittlichen Gesinnung in ihrer ganzen Lauterkeit uns zu erheben, ist nun allgemeine Menschenpflicht, wozu uns auch diese Idee selbst, welche von der Vernunft uns zur Nachstrebung vorgelegt wird, Kraft geben kann. Eben darum aber, weil wir von ihr nicht die Urheber sind, sondern sie in dem Menschen Platz genommen hat, ohne daß wir begreifen, wie die menschliche Natur für sie auch nur habe empfänglich sein können, kann man besser sagen: daß jenes Urbild vom Himmel zu uns herabgekommen sei, daß es die Menschheit angenommen habe (denn es ist nicht eben sowohl möglich, sich vorzustellen, wie der von Natur böse Mensch das Böse von selbst ablege, und sich zum Ideal der Heiligkeit erhebe, als daß das letztere die Menschheit (die für sich nicht böse ist) annehme, und sich zu ihr herablasse). Diese Vereinigung mit uns kann also als ein Stand der Erniedrigung des Sohnes Gottes angesehen werden, wenn wir uns jenen göttlich gesinnten Menschen, als Urbild für uns, so vorstellen, wie er, ob zwar selbst heilig, und als solcher zu keiner Erduldung von Leiden verhaftet, diese gleichwohl im größten Maße übernimmt, um das Weltbeste zu befördern; dagegen der Mensch, der nie von Schuld frei ist, wenn er auch dieselbe Gesinnung angenommen hat, die Leiden, die ihm, auf welchem Wege es auch sei, treffen mögen, doch als von ihm verschuldet ansehen kann, mithin sich der Vereinigung seiner[713] Gesinnung mit einer solchen Idee, ob zwar sie ihm zum Urbilde dient, unwürdig halten muß.

Das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit (mithin einer moralischen Vollkommenheit, so wie sie an einem von Bedürfnissen und Neigungen abhängigen Weltwesen möglich ist) können wir uns nun nicht anders denken, als unter der Idee eines Menschen, der nicht allein alle Menschenpflicht selbst auszuüben, zugleich auch durch Lehre und Beispiel das Gute in größtmöglichem Umfange um sich auszubreiten, sondern auch, obgleich durch die größten Anlockungen versucht, dennoch alle Leiden bis zum schmählichsten Tode um des Weltbesten willen, und selbst für seine Feinde, zu übernehmen bereitwillig wäre. – Denn der Mensch kann sich keinen Begriff von dem Grade und der Stärke einer Kraft, dergleichen die einer moralischen Gesinnung ist, machen, als wenn er sie mit Hindernissen ringend, und unter den größtmöglichen Anfechtungen, dennoch überwindend sich vorstellt.

Im praktischen Glauben an diesen Sohn Gottes (sofern er vorgestellt wird, als habe er die menschliche Natur angenommen) kann nun der Mensch hoffen, Gott wohlgefällig (dadurch auch selig) zu werden; d.i. der, welcher sich einer solchen moralischen Gesinnung bewußt ist, daß er glauben und auf sich gegründetes Vertrauen setzen kann, er würde unter ähnlichen Versuchungen und Leiden (so wie sie zum Probierstein jener Idee gemacht werden) dem Urbilde der Menschheit unwandelbar anhängig, und seinem Beispiele in treuer Nachfolge ähnlich bleiben, ein solcher Mensch, und auch nur der allein, ist befugt, sich für denjenigen zu halten, der ein des göttlichen Wohlgefallens nicht unwürdiger Gegenstand ist.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 712-714.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft
Die Religion Innerhalb Der Grenzen Der Blossen Vernunft. Hrsg. Und Mit Einer Einleitung Sowie Einem Personen- Und Sach-Register Versehen Von Karl Vorl
Akademie-Textausgabe, Bd.6, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft; Die Metaphysik der Sitten
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft
Philosophische Bibliothek, Bd.45, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft