b) Objektive Realität dieser Idee

[714] Diese Idee hat ihre Realität in praktischer Beziehung vollständig in sich selbst. Denn sie liegt in unserer moralisch gesetzgebenden Vernunft. Wir sollen ihr gemäß sein, und wir müssen es daher auch können. Müßte man die Möglichkeit,[714] ein diesem Urbilde gemäßer Mensch zu sein, vorher beweisen, wie es bei Naturbegriffen unumgänglich notwendig ist (damit wir nicht Gefahr laufen, durch leere Begriffe hingehalten zu werden), so würden wir eben sowohl auch Bedenken tragen müssen, selbst dem moralischen Gesetze das Ansehen einzuräumen, unbedingter und doch hinreichender Bestimmungsgrund unsrer Willkür zu sein; denn wie es möglich sei, daß die bloße Idee einer Gesetzmäßigkeit überhaupt eine mächtigere Triebfeder für dieselbe sein könne, als alle nur erdenkliche, die von Vorteilen hergenommen werden, das kann weder durch Vernunft eingesehen, noch durch Beispiele der Erfahrung belegt werden, weil, was das erste betrifft, das Gesetz unbedingt gebietet, und das zweite anlangend, wenn es auch nie einen Menschen gegeben hätte, der diesem Gesetze unbedingten Gehorsam geleistet hätte, die objektive Notwendigkeit, ein solcher zu sein, doch unvermindert und für sich selbst einleuchtet. Es bedarf also keines Beispiels der Erfahrung, um die Idee eines Gott moralisch wohlgefälligen Menschen für uns zum Vorbilde zu machen; sie liegt als ein solches schon in unsrer Vernunft. – Wer aber, um einen Menschen für ein solches mit jener Idee übereinstimmendes Beispiel zur Nachfolge anzuerkennen, noch etwas mehr, als was er sieht, d.i. mehr als einen gänzlich untadelhaften, ja so viel, als man nur verlangen kann, verdienstvollen Lebenswandel, wer etwa außerdem noch Wunder, die durch ihn oder für ihn geschehen sein müßten, zur Beglaubigung fordert: der bekennt zugleich hierdurch seinen moralischen Unglauben, nämlich den Mangel des Glaubens an die Tugend, den kein auf Beweise durch Wunder gegründeter Glaube (der nur historisch ist) ersetzen kann; weil nur der Glaube an die praktische Gültigkeit jener Idee, die in unserer Vernunft liegt (welche auch allein allenfalls die Wunder als solche, die vom guten Prinzip herkommen möchten, bewähren, aber nicht von diesen ihre Bewährung entlehnen kann), moralischen Wert hat.

Eben darum muß auch eine Erfahrung möglich sein, in der das Beispiel von einem solchen Menschen gegeben werde[715] (so weit als man von einer äußeren Erfahrung überhaupt Beweistümer der innern sittlichen Gesinnung erwarten und verlangen kann); denn, dem Gesetz nach, sollte billig ein jeder Mensch ein Beispiel zu dieser Idee an sich abgeben; wozu das Urbild immer nur in der Vernunft bleibt; weil ihr kein Beispiel in der äußern Erfahrung adäquat ist, als welche das Innere der Gesinnung nicht aufdeckt, sondern darauf, obzwar nicht mit strenger Gewißheit, nur schließen läßt (ja selbst die innere Erfahrung des Menschen an ihm selbst läßt ihn die Tiefen seines Herzens nicht so durchschauen, daß er von dem Grunde seiner Maximen, zu denen er sich bekennt, und von ihrer Lauterkeit und Festigkeit durch Selbstbeobachtung ganz sichere Kenntnis erlangen könnte).

Wäre nun ein solcher wahrhaftig göttlich gesinnter Mensch zu einer gewissen Zeit gleichsam vom Himmel auf die Erde herabgekommen, der durch Lehre, Lebenswandel und Leiden das Beispiel eines Gott wohlgefälligen Menschen an sich gegeben hätte, so weit als man von äußerer Erfahrung nur verlangen kann (indessen, daß das Urbild eines solchen immer doch nirgend anders, als in unserer Vernunft zu suchen ist), hätte er durch alles dieses ein unabsehlich großes moralisches Gute in der Welt durch eine Revolution im Menschengeschlechte hervorgebracht: so würden wir doch nicht Ursache haben, an ihm etwas anders, als einen natürlich gezeugten Menschen anzunehmen (weil dieser sich doch auch verbunden fühlt, selbst ein solches Beispiel an sich abzugeben), obzwar dadurch eben nicht schlechthin verneinet würde, daß er nicht auch wohl ein übernatürlich erzeugter Mensch sein könne. Denn in praktischer Absicht kann die Voraussetzung des letztern uns doch nichts vorteilen; weil das Urbild, welches wir dieser Erscheinung unterlegen, doch immer in uns (obwohl natürlichen Menschen) selbst gesucht werden muß, dessen Dasein in der menschlichen Seele schon für sich selbst unbegreiflich genug ist, daß man nicht eben nötig hat, außer seinem übernatürlichen Ursprunge ihn noch in einem besondern[716] Menschen hypostasiert anzunehmen. Vielmehr würde die Erhebung eines solchen Heiligen über alle Gebrechlichkeit der menschlichen Natur der praktischen Anwendung der Idee desselben auf unsere Nachfolge, nach allem, was wir einzusehen vermögen, eher im Wege sein. Denn, wenn gleich jenes Gott wohlgefälligen Menschen Natur in so weit, als menschlich, gedacht würde: daß er mit eben denselben Bedürfnissen, folglich auch denselben Leiden, mit eben denselben Naturneigungen, folglich auch eben solchen Versuchungen zur Übertretung, wie wir behaftet, aber doch so ferne als übermenschlich gedacht würde, daß nicht etwa errungene, sondern angeborne unveränderliche Reinigkeit des Willens ihm schlechterdings keine Übertretung möglich sein ließe: so würde diese Distanz vom natürlichen Menschen dadurch wiederum so unendlich groß werden, daß jener göttliche Mensch für diesen nicht mehr zum Beispiel aufgestellt werden könnte. Der letztere würde sagen: man gebe mir einen ganz heiligen Willen, so wird alle Versuchung zum Bösen von selbsten an mir scheitern; man gebe mir die innere vollkommenste Gewißheit, daß, nach einem kurzen Erdenleben, ich (zufolge jener Heiligkeit) der ganzen ewigen Herrlichkeit des Himmelreichs sofort teilhaftig werden soll, so werde ich alle Leiden, so schwer sie auch immer sein mögen, bis zum schmählichsten Tode nicht allein willig, sondern auch mit Fröhlichkeit übernehmen, da ich den herrlichen und nahen Ausgang mit Augen vor mir sehe. Zwar würde der Gedanke: daß jener göttliche Mensch im wirklichen Besitze dieser Hoheit und Seligkeit von Ewigkeit war (und sie nicht allererst durch solche Leiden verdienen durfte), daß er sich derselben für lauter Unwürdige, sogar für seine Feinde willig entäußerte, um sie vom ewigen Verderben zu erretten, unser Gemüt zur Bewunderung, Liebe und Dankbarkeit gegen ihn stimmen müssen; imgleichen würde die Idee eines Verhaltens nach einer so vollkommenen Regel der Sittlichkeit für uns allerdings auch als Vorschrift zur Befolgung geltend, er selbst aber nicht als Beispiel der Nachahmung, mithin auch nicht als Beweis der Tunlichkeit und Erreichbarkeit eines so reinen[717] und hohen moralischen Guts für uns, uns vorgestellt werden können.23

Eben derselbe göttlichgesinnte, aber ganz eigentlich menschliche Lehrer würde doch nichts destoweniger von sich, als ob das Ideal des Guten in ihm leibhaftig (in Lehre und Wandel) dargestellt würde, mit Wahrheit reden können. Denn er würde alsdann nur von der Gesinnung sprechen, die er sich selbst zur Regel seiner Handlungen macht, die er aber, da er sie als Beispiel für andre, nicht für sich selbst sichtbar machen kann, nur durch seine Lehren und Handlungen äußerlich vor Augen stellt: »Wer unter euch kann mich einer Sünde zeihen?« Es ist aber der Billigkeit gemäß, das untadelhafte Beispiel eines Lehrers zu dem, was er lehrt, wenn dieses ohnedem für jedermann Pflicht ist, keiner andern als der lautersten Gesinnung desselben anzurechnen, wenn man keine Beweise des Gegenteils hat. Eine solche Gesinnung mit allen, um des Weltbesten willen übernommenen,[718] Leiden, in dem Ideale der Menschheit gedacht, ist nun für alle Menschen zu allen Zeiten und in allen Welten, vor der obersten Gerechtigkeit vollgültig: wenn der Mensch die seinige derselben, wie er es tun soll, ähnlich macht. Sie wird freilich immer eine Gerechtigkeit bleiben, die nicht die unsrige ist, sofern diese in einem jener Gesinnung völlig und ohne Fehl gemäßen Lebenswandel bestehen müßte. Es muß aber doch eine Zueignung der ersteren um der letzten willen, wenn diese mit der Gesinnung des Urbildes vereinigt wird, möglich sein, obwohl sie sich begreiflich zu machen noch großen Schwierigkeiten unterworfen ist, die wir jetzt vortragen wollen.

23

Es ist freilich eine Beschränktheit der menschlichen Vernunft, die doch einmal von ihr nicht zu trennen ist: daß wir um keinen moralischen Wert von Belange an den Handlungen einer Person denken können, ohne zugleich sie, oder ihre Äußerung auf menschliche Weise vorstellig zu machen; obzwar damit eben nicht behauptet werden will, daß es an sich (kat' alêtheian) auch so bewandt sei; denn wir bedürfen, um uns übersinnliche Beschaffenheiten faßlich zu machen, immer einer gewissen Analogie mit Naturwesen. So legt ein philosophischer Dichter dem Menschen, so fern er einen Hang zum Bösen in sich zu bekämpfen hat, selbst darum, wenn er ihn nur zu überwältigen weiß, einen höhern Rang auf der moralischen Stufenleiter der Wesen bei, als selbst den Himmelsbewohnern, die, vermöge der Heiligkeit ihrer Natur, über alle mögliche Verleitung weggesetzt sind. (Die Welt mit ihren Mängeln – ist besser, als ein Reich von willenlosen Engeln. Haller.) – Zu dieser Vorstellungsart bequemt sich auch die Schrift, um die Liebe Gottes zum menschlichen Geschlecht uns ihrem Grade nach faßlich zu machen, indem sie ihm die höchste Aufopferung beilegt, die nur ein liebendes Wesen tun kann, um selbst Unwürdige glücklich zu machen (»Also hat Gott die Welt geliebt«, u.s.w.): ob wir uns gleich durch die Vernunft keinen Begriff davon machen können, wie ein allgenugsames Wesen etwas von dem, was zu seiner Seligkeit gehört, aufopfern, und sich eines Besitzes berauben könne. Das ist der Schematism der Analogie (zur Erläuterung), den wir nicht entbehren können. Diesen aber in einen Schematism der Objektsbestimmung (zur Erweiterung unseres Erkenntnisses) zu verwandeln ist Anthropomorphism, der in moralischer Absicht (in der Religion) von den nachteiligsten Folgen ist. – Hier will ich nur noch beiläufig anmerken, daß man im Aufsteigen vom Sinnlichen nun Übersinnlichen zwar wohl schematisieren (einen Begriff durch Analogie mit etwas Sinnlichem faßlich machen), schlechterdings aber nicht nach der Analogie von dem, was dem ersteren zukömmt, daß es auch dem letzteren beigelegt werden müsse, schließen (und so seinen Begriff erweitern) könne, und dieses zwar aus dem ganz einfachen Grunde, weil ein solcher Schluß wider alle Analogie laufen würde, der daraus, weil wir ein Schema zu einem Begriffe, um ihn uns verständlich zu machen (durch ein Beispiel zu belegen), notwendig brauchen, die Folge ziehen wollte, daß es auch notwendig dem Gegenstande selbst, als sein Prädikat zukommen müsse. Ich kann nämlich nicht sagen: so wie ich mir die Ursache einer Pflanze (oder jedes organischen Geschöpfs und überhaupt der zweckvollen Welt) nicht anders faßlich machen kann, als nach der Analogie eines Künstlers in Beziehung auf sein Werk (eine Uhr), nämlich dadurch, daß ich ihr Verstand beilege: so muß auch die Ursache selbst (der Pflanze, der Welt überhaupt) Verstand haben; d.i. ihr Verstand beizulegen ist nicht bloß eine Bedingung meiner Faßlichkeit, sondern der Möglichkeit Ursache zu sein selbst. Zwischen dem Verhältnisse aber eines Schema zu seinem Begriffe und dem Verhältnisse eben dieses Schema des Begriffs zur Sache selbst ist gar keine Analogie, sondern ein gewaltiger Sprung (metabasis eis allo genos), der gerade in den Anthropomorphism hinein führt, wovon ich die Beweise anderwärts gegeben habe.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 714-719.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft
Die Religion Innerhalb Der Grenzen Der Blossen Vernunft. Hrsg. Und Mit Einer Einleitung Sowie Einem Personen- Und Sach-Register Versehen Von Karl Vorl
Akademie-Textausgabe, Bd.6, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft; Die Metaphysik der Sitten
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft
Philosophische Bibliothek, Bd.45, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft

Buchempfehlung

Musset, Alfred de

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon