Einteilung aller möglichen Prinzipien der Sittlichkeit aus dem angenommenen Grundbegriffe der Heteronomie

[76] Die menschliche Vernunft hat hier, wie allerwärts in ihrem reinen Gebrauche, so lange es ihr an Kritik fehlt, vorher alle mögliche unrechte Wege versucht, ehe es ihr gelingt, den einzigen wahren zu treffen.

Alle Prinzipien, die man aus diesem Gesichtspunkte nehmen mag, sind entweder empirisch oder rational. Die ersteren, aus dem Prinzip der Glückseligkeit, sind aufs physische oder moralische Gefühl, die zweiten, aus dem Prinzip der Vollkommenheit, entweder auf den Vernunftbegriff derselben, als möglicher Wirkung, oder auf den Begriff einer selbständigen Vollkommenheit (den Willen Gottes), als bestimmende Ursache unseres Willens, gebauet.

Empirische Prinzipien taugen überall nicht dazu, um moralische Gesetze darauf zu gründen. Denn die Allgemeinheit, mit der sie für alle vernünftige Wesen ohne Unterschied gelten sollen, die unbedingte praktische Notwendigkeit, die ihnen dadurch auferlegt wird, fällt weg, wenn der Grund derselben von der besonderen Einrichtung der menschlichen Natur, oder den zufälligen Umständen hergenommen wird, darin sie gesetzt ist. Doch[76] ist das Prinzip der eigenen Glückseligkeit am meisten verwerflich, nicht bloß deswegen, weil es falsch ist, und die Erfahrung dem Vorgeben, als ob das Wohlbefinden sich jederzeit nach dem Wohlverhalten richte, widerspricht, auch nicht bloß, weil es gar nichts zur Gründung der Sittlichkeit beiträgt, indem es ganz was anderes ist, einen glücklichen, als einen guten Menschen, und diesen klug und auf seinen Vorteil abgewitzt, als ihn tugendhaft zu machen: sondern, weil es der Sittlichkeit Triebfedern unterlegt, die sie eher untergraben und ihre ganze Erhabenheit zernichten, indem sie die Bewegursachen zur Tugend mit denen zum Laster in eine Klasse stellen und nur den Kalkül besser ziehen lehren, den spezifischen Unterschied beider aber ganz und gar auslöschen: dagegen das moralische Gefühl, dieser vermeintliche besondere Sinn16 (so seicht auch die Berufung auf selbigen ist, indem diejenigen, die nicht denken können, selbst in dem, was bloß auf allgemeine Gesetze ankommt, sich durchs Fühlen auszuhelfen glauben, so wenig auch Gefühle, die dem Grade nach von Natur unendlich von einander unterschieden sind, einen gleichen Maßstab des Guten und Bösen abgeben; auch einer durch sein Gefühl für andere gar nicht gültig urteilen kann), dennoch der Sittlichkeit und ihrer Würde dadurch näher bleibt, daß er der Tugend die Ehre beweist, das Wohlgefallen und die Hochschätzung für sie ihr unmittelbar zuzuschreiben, und ihr nicht gleichsam ins Gesicht sagt, daß es nicht ihre Schönheit, sondern nur der Vorteil sei, der uns an sie knüpfe.

Unter den rationalen, oder Vernunftgründen der Sittlichkeit ist doch der ontologische Begriff der Vollkommenheit (so leer, so unbestimmt, mithin unbrauchbar er auch ist, um in dem unermeßlichen Felde möglicher Realität[77] die für uns schickliche größte Summe auszufinden, so sehr er auch, um die Realität, von der hier die Rede ist, spezifisch von jeder anderen zu unterscheiden, einen unvermeidlichen Hang hat, sich im Zirkel zu drehen, und die Sittlichkeit, die er erklären soll, ingeheim vorauszusetzen nicht vermeiden kann) dennoch besser als der theologische Begriff, sie von einem göttlichen allervollkommensten Willen abzuleiten, nicht bloß deswegen, weil wir seine Vollkommenheit doch nicht anschauen, sondern sie von unseren Begriffen, unter denen der der Sittlichkeit der vornehmste ist, allein ableiten können, sondern weil, wenn wir dieses nicht tun (wie es denn, wenn es geschähe, ein grober Zirkel im Erklären sein würde), der uns noch übrige Begriff seines Willens aus den Eigenschaften der Ehr- und Herrschbegierde, mit den furchtbaren Vorstellungen der Macht und des Racheifers verbunden, zu einem System der Sitten, welches der Moralität gerade entgegengesetzt wäre, die Grundlage machen müßte.

Wenn ich aber zwischen dem Begriff des moralischen Sinnes und dem der Vollkommenheit überhaupt (die beide der Sittlichkeit wenigstens nicht Abbruch tun, ob sie gleich dazu gar nichts taugen, sie als Grundlagen zu unterstützen) wählen müßte: so würde ich mich für den letzteren bestimmen, weil, da er wenigstens die Entscheidung der Frage von der Sinnlichkeit ab und an den Gerichtshof der reinen Vernunft zieht, ob er gleich auch hier nichts entscheidet, dennoch die unbestimmte Idee (eines an sich guten Willens) zur nähern Bestimmung unverfälscht aufbehält.

Übrigens glaube ich einer weitläuftigen Widerlegung aller dieser Lehrbegriffe überhoben sein zu können. Sie ist so leicht, sie ist von denen selbst, deren Amt es erfodert, sich doch für eine dieser Theorien zu erklären (weil Zuhörer den Aufschub des Urteils nicht wohl leiden mögen), selbst vermutlich so wohl eingesehen, daß dadurch nur überflüssige Arbeit geschehen würde. Was uns aber hier mehr interessiert, ist, zu wissen: daß diese Prinzipien überall nichts als Heteronomie des Willens zum ersten Grunde der Sittlichkeit[78] aufstellen, und eben darum notwendig ihres Zwecks verfehlen müssen.

Allenthalben, wo ein Objekt des Willens zum Grunde gelegt werden muß, um diesem die Regel vorzuschreiben, die ihn bestimme, da ist die Regel nichts als Heteronomie; der Imperativ ist bedingt, nämlich: wenn oder weil man dieses Objekt will, soll man so oder so handeln; mithin kann er niemals moralisch, d.i. kategorisch, gebieten. Er mag nun das Objekt vermittelst der Neigung, wie beim Prinzip der eigenen Glückseligkeit, oder vermittelst der auf Gegenstände unseres möglichen Wollens überhaupt gerichteten Vernunft, im Prinzip der Vollkommenheit, den Willen bestimmen, so bestimmt sich der Wille niemals unmittelbar selbst durch die Vorstellung der Handlung, sondern nur durch die Triebfeder, welche die vorausgesehene Wirkung der Handlung auf den Willen hat; ich soll etwas tun, darum, weil ich etwas anderes will, und hier muß noch ein anderes Gesetz in meinem Subjekt zum Grunde gelegt werden, nach welchem ich dieses andere notwendig will, welches Gesetz wiederum eines Imperativs bedarf, der diese Maxime einschränke. Denn weil der Antrieb, der die Vorstellung eines durch unsere Kräfte möglichen Objekts nach der Naturbeschaffenheit des Subjekts auf seinen Willen ausüben soll, zur Natur des Subjekts gehöret, es sei der Sinnlichkeit (der Neigung und des Geschmacks), oder des Verstandes und der Vernunft, die nach der besonderen Einrichtung ihrer Natur an einem Objekte sich mit Wohlgefallen üben, so gäbe eigentlich die Natur das Gesetz, welches, als ein solches, nicht allein durch Erfahrung erkannt und bewiesen werden muß, mithin an sich zufällig ist und zur apodiktischen praktischen Regel, dergleichen die moralische sein muß, dadurch untauglich wird, sondern es ist immer nur Heteronomie des Willens, der Wille gibt sich nicht selbst, sondern ein fremder Antrieb gibt ihm, vermittelst[79] einer auf die Empfänglichkeit desselben gestimmten Natur des Subjekts, das Gesetz.

Der schlechterdings gute Wille, dessen Prinzip ein kategorischer Imperativ sein muß, wird also, in Ansehung aller Objekte unbestimmt, bloß die Form des Wollens überhaupt enthalten, und zwar als Autonomie, d.i. die Tauglichkeit der Maxime eines jeden guten Willens, sich selbst zum allgemeinen Gesetze zu machen, ist selbst das alleinige Gesetz, das sich der Wille eines jeden vernünftigen Wesens selbst auferlegt, ohne irgend eine Triebfeder und Interesse derselben als Grund unterzulegen.

Wie ein solcher synthetischer praktischer Satz a priori möglich und warum er notwendig sei, ist eine Aufgabe, deren Auflösung nicht mehr binnen den Grenzen der Metaphysik der Sitten liegt, auch haben wir seine Wahrheit hier nicht behauptet, vielweniger vorgegeben, einen Beweis derselben in unserer Gewalt zu haben. Wir zeigten nur durch Entwickelung des einmal allgemein im Schwange gehenden Begriffs der Sittlichkeit: daß eine Autonomie des Willens demselben, unvermeidlicher Weise, anhänge, oder vielmehr zum Grunde liege. Wer also Sittlichkeit für Etwas, und nicht für eine chimärische Idee ohne Wahrheit, hält, muß das angeführte Prinzip derselben zugleich einräumen. Dieser Abschnitt war also, eben so, wie der erste, bloß analytisch. Daß nun Sittlichkeit kein Hirngespinst sei, welches alsdenn folgt, wenn der kategorische Imperativ und mit ihm die Autonomie des Willens wahr, und als ein Prinzip a priori schlechterdings notwendig ist, erfodert einen möglichen synthetischen Gebrauch der reinen praktischen Vernunft, den wir aber nicht wagen dürfen, ohne eine Kritik dieses Vernunftvermögens selbst voranzuschicken, von welcher wir in dem letzten Abschnitte die zu unserer Absicht hinlängliche Hauptzüge darzustellen haben.[80]

16

Ich rechne das Prinzip des moralischen Gefühls zu dem der Glückseligkeit, weil ein jedes empirisches Interesse durch die Annehmlichkeit, die etwas nur gewährt, es mag nun unmittelbar und ohne Absicht auf Vorteile, oder in Rücksicht auf dieselbe geschehen, einen Beitrag zum Wohlbefinden verspricht. Imgleichen muß man das Prinzip der Teilnehmung an anderer Glückseligkeit, mit Hutcheson, zu demselben von ihm angenommenen moralischen Sinne rechnen.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 7, Frankfurt am Main 1977, S. 76-81.
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